Sachverhalt
Im Rahmen seiner Tätigkeit als Innenrohrsanierer rutschte der 1972 geborene Kläger auf einer Treppe aus, hielt sich mit dem rechten Arm am Geländer fest und verdrehte sich dabei den Arm. H-Arzt Dr. D. berichtet unter dem 24. Juli 2012 von einer Zerrung der rechten Schulter. Wegen fortdauernder Schulterbeschwerden wurde am 4. September 2012 in der Unfallklinik ein Magnetresonanztomogramm (MRT) der rechten Schulter veranlasst und eine subtotale Ruptur der Subscapularissehne der rechten Schulter sowie ein Zustand nach Schulterdistorsionstrauma rechts mit Indikation zur Arthroskopie festgestellt. Intraoperativ wurde eine Ruptur des Musculus subscapularis festgestellt und eine Teilsynovektomie mit Shaving des Sehnenrestes intraartikulär durchgeführt. Wegen fortdauernder Arbeitsunfähigkeit und weiterer Beschwerden erfolgte am 10. Dezember 2012 eine operative Versorgung durch eine Pectoralis-major-Plastik.
Am 26. Februar 2014 erstattete Prof. Dr. K. auf Veranlassung der beklagten Berufsgenossenschaft das erste Rentengutachten. Er stellte eine Verschmächtigung des rechten Arms, eine Beeinträchtigung der Beweglichkeit des rechten Schultergelenks von mindestens 90 Grad in mehreren Richtungen sowie eine reduzierte Auswärtsdrehung des rechten Arms auf 30 Grad fest. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bewertete er ab dem 17. März 2014 dauerhaft mit 20 v.H. Dem gutachterlichen Ergebnis entsprechend gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 26. Juni 2014 eine Rente als vorläufige Entschädigung ab dem 17. März 2014 nach einer MdE von 20 v.H.
In seinem Widerspruch hiergegen rügte der Kläger unter anderem die Höhe der MdE. Zudem hätten die unfallbedingt verursachten Einschränkungen zu einer latenten depressiven Verstimmung geführt, die bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigten sei. Nach einer Revisions-Operation, bei der eine Refixation des Pectoralis major erfolgte, ließ die Beklagte den Kläger neurologisch-psychiatrisch begutachten. Hinweise für sozialmedizinisch relevante neurologische und/oder psychische Folgeschäden ergaben sich nicht. Im Zweiten Rentengutachten vom 8. Juli 2015 stellte Prof. Dr. N. als noch bestehende Unfallfolgen eine massive Einschränkung der Beweglichkeit in der rechten Schulter, Narben und beklagte Schmerzen fest. Er bewertete die MdE auf unfallchirurgischem Fachgebiet mit 25 v.H. und führte ergänzend aus, dass die MdE ab dem 17. März 2014 zunächst zutreffend mit nur 20 v.H. beurteilt worden sei. Im weiteren Verlauf sei es jedoch zur Verschlechterung des Bewegungsumfangs und einer Kraftminderung für die Innenrotation gekommen. Daher sei ab der Revisionsoperation im Dezember 2014 eine MdE von 25 v.H. angemessen.
Mit Bescheid vom 16. Dezember 2015 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, die Unfallfolgen würden keine höhere MdE als 20 v.H. rechtfertigten. In seiner Klage gegen diesen Bescheid trug der Kläger vor, trotz der zwei Schulteroperationen sei die Beweglichkeit schlechter geworden.
Im Rahmen der Rentennachprüfung hat die Beklagte den Kläger während des Gerichtsverfahrens nochmals begutachten lassen. Der Sachverständige Prof. Dr. F. bestätigte das Vorgutachten und nahm ebenfalls eine MdE von 25 v.H. ab Dezember 2014 an. Im psychiatrischen Gutachten wurden keine unfallbedingten Gesundheitsstörungen festgestellt. Mit Urteil vom 20. Juni 2018 hat das Sozialgericht (SG) Darmstadt den Bescheid abgeändert und die Beklagte unter Bezug auf die gutachtlichen Feststellungen verurteilt, die Schmerzhaftigkeit der Bewegungseinschränkung anzuerkennen sowie eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 v.H. zu gewähren. Eine Erhöhung von 5 v.H. sei vorliegend möglich, da bisher keine bindend gewordene Feststellung der MdE vorläge.
Belohnung ungerechtfertigter Widersprüche?
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Sie widerspricht der Rechtsansicht des SG, wonach § 73 Abs. 3 SGB VII, der Rentenerhöhung erst bei Änderungen von mehr als 5 v.H. zulässt, nur bei bindenden Entscheidungen anzuwenden sei. Wenn sich erweise, dass ein Bescheid zum Zeitpunkt seiner Erteilung rechtmäßig gewesen sei, könne es bei anschließenden Änderungen für die Anwendung des § 48 SGB X nicht darauf ankommen, ob er angefochten sei oder nicht. Die Ansicht des Gerichts führe zu einer Belohnung derjenigen, die ungerechtfertigt Widerspruch und Klage erhöben.
Wenn vom letzten bindend gewordenen Bescheid gesprochen werde, habe dies allein den Hintergrund, dass ein einmal erteilter Bescheid sowohl durch die Verwaltung als auch durch das angerufene Gericht Änderungen erfahren könne und letztlich (selbstverständlich) auf den endgültigen Inhalt des Bescheids abzustellen sei. Daraus folge aber keineswegs, dass ein nicht bindend gewordener Bescheid beliebig geändert werden könne. Vielmehr sei auch hier der allgemeine verwaltungsrechtliche Grundsatz zu beachten, dass sich die Verwaltung mit der Erteilung eines begünstigenden Verwaltungsakts materiell binde und es somit zu Änderungen einer gesetzlichen Grundlage bedürfe. Besonders deutlich werde dies, wenn man sich den hier vorliegenden Sachverhalt insofern abgewandelt vorstelle, als nicht eine Erhöhung, sondern eine Absenkung der MdE im Raume stehe. Es dränge sich geradezu auf, dass eine Reduzierung der im Erstbescheid vergebenen MdE von 25 auf 20 v.H. wegen einer zwischenzeitlich eingetretenen geringfügigen Besserung der Unfallfolgen nicht davon abhängen könne, dass der Versicherte Widerspruch eingelegt habe.
Der Unfallversicherungsträger habe in einem solchen Fall zwar tatsächlich de facto die Möglichkeit, eine entsprechende Änderung durchzuführen. Dies jedoch nicht wegen einer eingetretenen Besserung oder schon gar nicht wegen des eingelegten Widerspruchs. Maßgeblich hierfür sei vielmehr die Ausnahmevorschrift des § 62 Abs. 2 SGB VII für die (erstmalige) Rente auf unbestimmte Zeit. Der Gesetzgeber regle hier ausdrücklich, dass es in diesem speziellen Fall nicht auf eine Änderung der Verhältnisse ankomme. Dies lasse den Umkehrschluss zu, dass ansonsten immer nur eine Änderung der Verhältnisse der Verwaltung die Möglichkeit gebe, den MdE-Satz zu ändern.
Erhöhung um 5 v.H. rechtlich zulässig
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und die Auffassung des SG zum Rentenanspruch nach einer MdE von 25 v.H. ab dem 1. Dezember 2014 bestätigt. Zur Begründung macht es sich insoweit die überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen zu eigen, die nachvollziehbar dargelegt hätten, dass ab diesem Zeitpunkt in tatsächlicher Hinsicht eine Änderung im Gesundheitszustand des Klägers im Verhältnis zu den ursprünglichen Feststellungen durch die Beklagter eingetreten ist.
Der Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 25 v.H. ab dem 1. Dezember 2014 stehen nach Überzeugung des Senats auch keine Rechtsgründe entgegen. Soweit die Beklagte davon ausgehe, dass der § 73 Abs. 3 SGB VII eine Rentenerhöhung verbiete, vermochte er dem nicht zu folgen. Der die Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X konkretisierende Grundsatz des § 73 Abs. 3 SGB VII, wonach eine wesentliche Änderung der MdE nur anzunehmen sei, wenn diese mehr als 5 v.H. betrage, sei hier nicht einschlägig.
§48 SGB X nicht für vorläufige Regelung
Nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. März 2010 - B 2 U 2/09 R - sei die in § 48 SGB X allgemein erteilte Ermächtigung zur Aufhebung von Verwaltungsakten nicht anwendbar, wenn und solange es speziell um die Änderung, Aufhebung oder Ersetzung von „vorläufigen“ Feststellungen eines Rentenanspruchs in der gesetzlichen Unfallversicherung bis zum Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall geht. Soweit es im Dreijahreszeitraum um deren Ersetzung durch eine andere „vorläufige“ Regelung geht, gilt danach als lex specialis § 62 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, wonach der Vomhundertsatz der MdE innerhalb dieses Zeitraums jederzeit und anders als bei Renten auf unbestimmte Zeit ohne Rücksicht auf die Dauer der Veränderung neu festgestellt werden kann.
Das Ermächtigungskonzept des § 62 SGB VII trage der Erfahrung Rechnung, dass
sich in der ersten Zeit nach einem Versicherungsfall dessen gesundheitliche Folgen und deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zumeist noch nicht stabilisiert hätten. Die Folgen des Versicherungsfalls unterlägen häufig noch allmählich oder auch kurzfristig eintretenden Veränderungen. Anpassung und Gewöhnung an die Folgen eines Versicherungsfalls, etwa durch Entwicklung von Ausgleichsfunktionen und durch das Erlernen des Umgangs mit verletzten Gliedmaßen, führten des Öfteren zu einer Besserung. Nicht selten verändere sich die unfallbedingte MdE in den ersten Jahren wechselhaft oder nehme auch zu.
Demgegenüber gehe die Literatur – soweit ersichtlich einhellig – davon aus, dass der Vorbehalt der erleichterten Abänderbarkeit nach § 62 Abs. 1 Satz 2 SGB VII jedenfalls bei einer Neufestsetzung der Rente im Sinne einer Erhöhung wegen Verschlimmerung der Folgen des Arbeitsunfalls auch bei vorläufigen Entschädigungen nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII eine wesentliche Änderung im Sinne von § 73 Abs. 3 SGB VII i.V.m. § 48 SGB X voraussetze. Ungeachtet dessen, dass diese Auffassung dem Gesetzeswortlaut des § 62 Abs. 1 Satz 2 SGB VII widerspreche, ergäbe sich allerdings auch hiernach fallbezogen kein anderes Ergebnis.
Rechtsverbindliche Entscheidung erforderlich
Eine Ausnahme von dem Erfordernis einer wesentlichen Änderung habe das BSG bereits zu §§ 622 Abs. 1, 623, 1585 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für den Fall statuiert, dass noch keine (rechtsverbindlich gewordene) Erstfeststellung der Leistung vorliege. Da das BSG diese Rechtsprechung bisher nicht ausdrücklich aufgegeben habe, sei sie weiterhin zu beachten und gelte auch für die Nachfolgevorschriften. Danach sind die erstmals gerichtlich für eine zurückliegende Zeit und mit geminderter MdE laufend festgesetzten Renten wegen der zeitlichen Folge als „einheitliche Entscheidungen mit differenzierter Aussage“ aufzufassen, die ähnlich wie bei einer Erstfeststellung keine Änderung der Verhältnisse voraussetzen, sondern eine Staffelung der MdE erlauben (vgl. BSG vom 20. September 1977 - 8 RU 22/77; BSG vom 26. Juli 1979 - 8a RU 58/78).
Auch die Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X i. V. m. § 73 Abs. 3 SGB VII gebiete von ihrem Inhalt her keine andere rechtliche Bewertung. Für die Frage der Wesentlichkeit der Änderung, also der Erhöhung oder Verringerung der MdE um mehr als 5 v.H. sei ein Vergleich zwischen den tatsächlichen Verhältnissen zur Zeit der letzten verbindlichen Rentenfeststellung und den aktuellen Verhältnissen zu ermitteln. Die letzte verbindliche Feststellung könne dabei durch Bescheid, gerichtliches Urteil, Vergleich oder Anerkenntnis erfolgt sein; auf eine bestimmte Form der Feststellung komme es nicht an. An einer derartigen letzten bindenden oder rechtskräftig gewordenen Feststellung der MdE fehle es vorliegend mit der Folge, dass §73 Abs. 3 SGB VII nicht anwendbar ist.
Keine Bevorzugung Widersprechender
Der Einwand der Beklagten, dass dadurch eine Besserstellung oder Bevorzugung von Versicherten erfolge, die, möglicherweise auch unberechtigt, Widerspruch und Klage gegen eine Entscheidung über die vorläufige Entschädigung im Sinne von §62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII anbringen, verfange in mehrfacher Hinsicht nicht. Zunächst fehle es, wie bereits ausgeführt, im Falle einer fehlenden verbindlichen Feststellung an einem geeigneten Ausgangspunkt für einen Vergleich. Würde man, wie die Beklagte meint, alleine auf die Bekanntgabe des die vorläufige Rentengewährung regelnden Verwaltungsakts abstellen, würde sich im Gegenteil eine bessere Position der Beklagten ergeben. Überspitzt im Sinne eines Advocatus Diaboli formuliert, hätte nämlich der Unfallversicherungsträger dann – rein theoretisch – die Möglichkeit, durch eine von Anbeginn an um 5 v.H. zu niedrig festgesetzte Rente eine über Jahre hinweg dem Versicherten rechtmäßig zustehende höhere Leistung zu unterlaufen.
Effektiver Rechtsschutz
Auch bezogen auf die vorläufige Entschädigung gebiete es im Übrigen Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, einem Versicherten durch geeigneten Rechtsschutz zu ermöglichen, die ihm rechtmäßig zustehende Leistung durchzusetzen. Dies bei der erstmaligen Festsetzung respektive vorläufigen Schätzung selbstverständlich auch dann, wenn sich eine Abweichung von nur 5 v.H. ergibt. Soweit man §73 Abs. 3 SGB VII in diesem Kontext überhaupt für anwendbar hält, bedürfe es eines besonderen Schutzes des Versicherten allenfalls dann nicht, wenn er die Entscheidung nach §62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII bestandskräftig werden lässt, sie also letztlich akzeptiere.
Anspruchsgrundlage für die von dem Kläger geltend gemachte Unfallfolge „der
Schmerzhaftigkeit der Bewegungseinschränkung“ sei § 102 SGB VII. Diese Vorschrift regele nicht nur das Schriftformerfordernis, sondern ermächtige den Unfallversicherungsträger zugleich zur Entscheidung über das Bestehen/Nichtbestehen und über Inhalt und Umfang eines Sozialleistungsanspruchs nach dem SGB VII. Korrespondierend hierzu beinhalte § 102 SGB VII zugleich eine Anspruchsgrundlage für den Versicherten. Dabei umfassen Ermächtigung und Anspruchsgrundlage nicht nur die abschließende Entscheidung über den Leistungsanspruch, sondern auch die Entscheidung über jene Elemente des Anspruchs, die Grundlagen für jede aktuelle oder spätere Anspruchsentstehung gegen den Unfallversicherungsträger aufgrund eines bestimmten Versicherungsfalls sind. Hierzu gehören der Versicherungsfall, die Unfallfolgen im engeren Sinn, also die Gesundheitsschäden, die wesentlich durch den infolge des Unfalls erlittenen Gesundheitserstschaden verursacht wurden, und die Gesundheitsschäden, die nicht wesentlich durch den Gesundheitserstschaden verursacht wurden, die aber dem Unfallereignis aufgrund einer besonderen gesetzlichen Zurechnungsnorm wie §11 SGB VII anzurechnen sind.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.