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Beschluss des Landessozialgericht Bayern vom 09.04.2018 – L 20 KR 72/18 B ER

Kein Leistungsanspruch bei Einreise nur zur Behandlung

Sachverhalt

Der Antragsteller ist deutscher Staatsangehöriger und begehrt Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Er war bis 1986 versicherungspflichtig beschäftigt und Mitglied der Antragsgegnerin. Seit 1986 lebt er ganz überwiegend in Thailand. Wenn er immer wieder für kurze Zeit nach Deutschland zurückkehrt, lebt er bei seiner Schwester in A-Stadt. Er war zuletzt vom 31.05.2012 bis 31.08.2012 als Bezieher von Arbeitslosengeld II bei der Antragsgegnerin versichert. Während späterer Aufenthalte in Deutschland waren die Anträge auf Leistungen nach dem SGB II abgelehnt worden, weil der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik Deutschland habe (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II).

Der Antragsteller hat eine Auslandsreisekrankenversicherung (AKV) abgeschlossen. In den Versicherungsbedingungen heißt es unter § 7 – Obliegenheiten: „Der Versicherungsnehmer und die versicherten Personen sind verpflichtet, nach Eintritt einer Krankheit oder eines Unfalles dem Rücktransport an den Wohnort bzw. in das dem Wohnort nächstgelegene geeignete Krankenhaus bei Bestehen der Transportfähigkeit zuzustimmen … Verletzt der Versicherungsnehmer oder die versicherte Person vorsätzlich eine der vertraglich vereinbarten Obliegenheiten, so ist die AKV nicht zur Leistung verpflichtet.“

Am 31.10.2017 verunfallte der Antragsteller in Thailand und wurde dort medizinisch behandelt. Auf Betreiben der AKV wurde er am 28.11.2017 zur weiteren Versorgung nach Deutschland in das Universitätsklinikum B-Stadt verlegt. Nach dem vorläufigen Entlassungsbrief vom 30.11.2017 diagnostizierten die Ärzte einen Zustand nach Treppensturz auf das linke Knie am 31.10.2017 mit ventral offener proximaler Tibiafraktur bei Arthrodese mit Anlage eines Fixateur externe am 09.11.2017 in Thailand sowie Nachweis von Staphylococcus haemolyticus in der Wunde.

Am 29.11.2017 zeigte der Antragsteller die Krankenversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V bei der Antragsgegnerin an. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erhielt er trotz seiner Mitteilung, nunmehr dauerhaft in Deutschland bleiben zu wollen, unter Verweis auf § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II nicht. Sein Antrag auf einstweiligen Rechtschutz zur Erlangung von Krankenversicherungsschutz bzw. Übernahme der Behandlungskosten blieb auch in der Beschwerde ohne Erfolg.

Geltungsbereich des SGB V eröffnet?

Für den Senat war bereits fraglich, ob der Geltungsbereich des SGB V für den Antragsteller eröffnet ist. Denn nach § 30 Abs. 1 SGB I gelten die Vorschriften des Sozialgesetzbuches (nur) für diejenigen Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben. Nach § 30 Abs. 3 Satz 1 und 3 SGB I hat jemand dort einen Wohnsitz, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird oder wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

Der Antragsteller habe in den letzten rund 30 Jahren ganz überwiegend in Thailand gelebt und war nur alle paar Jahre für wenige Wochen zu seiner Schwester nach A-Stadt zu Besuch gekommen. Dass es diesmal anders sein sollte und der Antragsteller nunmehr seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründen möchte, sei trotz seiner diesbezüglichen Erklärung nicht glaubhaft gemacht. Denn immerhin habe der Antragsteller vor seiner letzten Abreise 2016 eine Auslandsreisekrankenversicherung bis 2021 abgeschlossen. Es sei auch nicht ersichtlich bzw. vorgetragen, woraus abzuleiten wäre, dass der Antragsteller seinen bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt in Thailand aufgegeben habe, etwa durch Nachweis einer Wohnungskündigung bzw. -auflösung oder die Übersendung seiner persönlichen Dinge, die er bei seinem Rückflug im November 2017 nicht mitnehmen konnte. Auch sei nicht vorgetragen worden, dass der Antragsteller dauerhaft bei seiner Schwester wohnen kann und will bzw. sich, entsprechende finanzielle Unterstützung vorausgesetzt, eine eigene Wohnung suchen möchte.

Auffangversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 a) SGB V?

Der Senat bestätigt, dass der Antragsteller grundsätzlich – seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland vorausgesetzt – die Voraussetzungen einer Auffangversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V erfülle. Er habe keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall und war zuletzt bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert.

Eine nach § 13 Abs. 8a Satz 1 SGB V vorrangige Krankenpflichtversicherung wegen Bezugs von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe bestehe für den Antragsteller schon deshalb nicht, weil die Versicherungspflicht nach Nr. 2a an den tatsächlichen Leistungsbezug gekoppelt ist. Derartige laufende Leistungen bezieht der Antragsteller nicht.

Dennoch könne der Antragsteller keine Leistungen aus einer etwaigen Krankenpflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr.13 SGB V beanspruchen, weil zur Überzeugung des Senats die Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses gem. § 52a SGB V beim Antragsteller zu bejahen seien.

Leistungsausschluss wegen Missbrauch

Nach § 52a SGB V besteht auf Leistungen kein Anspruch, wenn sich Personen in den Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs begeben, um in der Auffangversicherung oder aufgrund dieser Versicherung in der Familienversicherung missbräuchlich Leistungen in Anspruch zu nehmen. Nach der Intention des Gesetzes sei dies dann der Fall, wenn sich eine Person allein deswegen in die Bundesrepublik Deutschland – also den Geltungsbereich des SGB V – begibt, um Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu erhalten. Der missbräuchliche Erhalt von Leistungen müsse also das Hauptziel des Zuzugs sein. Eine solche Missbrauchsabsicht liege vor, wenn der Wille des Einreisenden auf den Leistungsbezug gerichtet ist, es ihm also darauf ankomme. Ein (nur) bedingter Vorsatz sei hier nicht ausreichend, weswegen Missbräuchlichkeit voraussetze, dass entsprechender Leistungsbedarf bei der Einreise bereits bekannt – oder zumindest vorhersehbar – war. Weitergehende Anforderungen seien nicht zu stellen.

Sofern bei der Einreise die Inanspruchnahme von Leistungen das Hauptziel war, sei stets ein missbräuchliches Verhalten anzunehmen. Anders sei das nach der Gesetzesbegründung bei der unerwarteten „Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“. Zusammenfassend sei Missbräuchlichkeit zu bejahen, wenn ein Leistungsantrag als ungerechtfertigte Ausnutzung der Solidargemeinschaft und damit als Verstoß gegen Treu und Glauben angesehen werden müsse.

Diese Voraussetzung sah der Senat beim Antragsteller als erwiesen an. Die weitere Behandlungsbedürftigkeit seiner Verletzung am linken Bein war dem Antragsteller vor Rückreise nach Deutschland nicht nur bekannt, sondern sie war ausschließlicher Grund seiner Rückreise. Er habe selbst vorgetragen, dass seine private AKV ihn dazu veranlasst hatte, weil sie für weitere Behandlungskosten in Thailand nicht mehr einstehen wollte. Weitere Motive für die Rückkehr nach Deutschland seien nicht ersichtlich oder vorgetragen.

Bei der weiteren Behandlung im Universitätsklinikum B-Stadt ging es, wie den vorgelegten Unterlagen des Universitätsklinikums zu entnehmen sei, nicht um die (unerwartete) Versorgung akuter Erkrankung oder Schmerzzustände. Vielmehr war die Erstversorgung in Thailand bereits regelgerecht erfolgt. Ob die private AKV des Antragstellers diesen aus rein finanziellen Überlegungen nach Deutschland schicken durfte, erscheine durchaus fraglich. Denn laut § 7 der Versicherungsbedingungen muss der Versicherte bei Eintritt einer Krankheit oder eines Unfalls nur dem Rücktransport an den Wohnort bzw. in das dem Wohnort nächstgelegene geeignete Krankenhaus zustimmen, nicht dagegen einer Rückkehr in sein Herkunftsland. Der Wohnort des Antragstellers im November 2017 war aber sicher nicht A-Stadt oder B-Stadt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Antragsteller einzig und allein aus dem Grund, in Deutschland für ihn kostenfreie medizinische Behandlung zu erhalten, eingereist sei.

Auslandsversicherungsschutz unerheblich

Im Übrigen könne es für die Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit der Leistungsinanspruchnahme keinen Unterschied machen, ob sich ein Betroffener deshalb zur Einreise entscheidet, weil er im Ausland überhaupt nicht über einen Krankenversicherungsschutz verfüge – für diesen Fall ist § 52a SGB V offenkundig einschlägig –, ob er einen nur lückenhaften Schutz habe oder die im Ausland einstandspflichtige Krankenversicherung die Leistung verweigere. Solche Lücken oder –- wie hier –- (zivilrechtliche) Streitigkeiten mit einer privaten Krankenversicherung auf dem Rücken der Versicherungsgemeinschaft zu schließen bzw. auszutragen, betrachte der Senat als rechtsmissbräuchlich im Sinne des § 52a SGB V.

Ob der Antragsteller auch deshalb nach Deutschland zurückgekehrt ist, um vom hiesigen hohen medizinischen Standard zu profitieren oder primär um einer Auseinandersetzung mit seiner privaten AKV aus dem Weg zu gehen, könne dahingestellt bleiben. Denn in beiden Fällen handele es sich um eine ungerechtfertigte Ausnutzung der Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland, zu deren Finanzierung der Antragsteller in den letzten Jahrzehnten praktisch keinen Beitrag geleistet habe.

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Weitere Infos

    Sozialgesetzbuch (SGB) V – Gesetzliche Krankenversicherung, § 5 Versicherungspflicht

    https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__5.html

    Sozialgesetzbuch (SGB) V – Gesetzliche Krankenversicherung, § 52a Leistungsausschluss

    https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__52a.html

    Autor

    Reinhard Holtstraeter

    Rechtsanwalt

    Lorichsstraße 17

    22307 Hamburg

    mail@ra-holtstraeter.de

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