Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seiner jüngsten Entscheidung zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) die bisherige Rechtsprechung nicht nur zusammengefasst und weiter konkretisiert. Mit seinen Qualitätsanforderungen hat das BAG insbesondere die Kündigungshürde für die Arbeitgeber deutlich erhöht, die ihrem erkrankten Mitarbeiter nicht unaufgefordert ein BEM anbieten oder ihrer gesetzlichen Pflicht aus § 84 II SGBIX nicht ausreichend qualifiziert nachgehen.
Sachverhalt
Im aktuell entschiedenen Fall war der Klä-ger seit Beginn des Arbeitsverhältnisses im Jahr 1991 wegen unterschiedlicher Erkrankungen wiederholt arbeitsunfähig gewesen. In den Jahren 2006–2011 war er jeweils zwischen 59 und 135 Tagen wegen Krankheit nicht arbeitsfähig. Die Fehlzeiten verteilten sich auf unterschiedlich lange Zeiträume, jeweils unterbrochen durch Tage der Arbeits-fähigkeit. In den betriebsärztlichen Stellung-nahmen hieß es jeweils, gegen eine Beschäf-tigung des Klägers bestünden keine gesund-heitlichen Bedenken. Im Jahr 2010 stellt der Betriebsarzt fest, es hätten sich keine Hinweise darauf ergeben, dass die gehäuften krankheitsbedingten Fehlzeiten im Zusam-menhang mit dem Arbeitsplatz stehen könn-ten. Mit Schreiben vom 29. November 2011 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. Juni 2012.
In seiner Kündigungsschutzklage machte der Kläger geltend, die Kündigung sei unverhältnismäßig. Die Fehlzeiten seien auf unter-schiedliche berufliche und außerberufliche Ursachen zurückzuführen. Ein BEM habe die Beklagte nicht durchgeführt. Sie könne sich daher nicht darauf berufen, es habe keine Möglichkeiten zur Vermeidung oder Verringerung der Fehlzeiten gegeben. Tatsächlich hätten dazu Veränderungen am Arbeitsplatz und ein geeignetes Gesundheitsmanagement beitragen können. Zwischenzeitlich durchgeführte Rehamaßnahmen hätten das bestätigt. Die Krankheiten seien wesentlich ausgeheilt und indizierten keine negative Zukunftsprognose.
Verhältnismäßigkeit der krankheits-bedingten Kündigung?
Die Beklagte vertrat die Auffassung, die Kün-digung sei durch Gründe in der Person des Klägers bedingt. Dieser sei bis einschließlich des 25. November 2011 an insgesamt 1061 Tagen wegen Krankheit arbeitsunfähig gewesen. Davon habe sie für 803 Tage Entgeltfortzahlung geleistet. Die erheblichen Fehlzeiten sprächen für eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit des Klägers und begründeten eine negative Gesundheitsprognose. Dies wiederum beeinträchtige ihre betrieblichen Interessen erheblich. Sie habe damit rechnen müssen, an den Kläger weiterhin Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle für die Dauer von mehr als sechs Wochen jährlich leisten zu müssen. Ihre Verpflichtung zur Durchführung eines BEM habe sie mit den in Auftrag gegebenen arbeitsmedizinischen Untersuchungen erfüllt. Jedenfalls stehe aufgrund der betriebsärztlichen Stel-lungnahmen fest, dass die Krankheitsanfäl-ligkeit des Klägers nicht durch organisatori-sche Änderungen habe überwunden werden können. Die Kündigung sei damit selbst dann verhältnismäßig, wenn es an einem regelkonformen BEM fehlen sollte.
Die Vorinstanzen hatten der Klage stattgegeben. Die zugelassene Revision der Beklagten blieb erfolglos. Die Kündigung sei nicht sozial gerechtfertigt und trotz der er-heblichen Fehlzeiten unverhältnismäßig. Mangels BEM konnte der Arbeitgeber seiner erweiterten Darlegungs- und Beweislast zur Gesundheitsprognose nicht genügen.
Ohne BEM erweiterte Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers
Das BAG unterstrich erneut seine ständige Rechtsprechung, wonach eine Kündigung als Ultima Ratio zur Beseitigung einer eingetretenen Vertragsstörung solange nicht geeignet oder erforderlich ist, wie es ange-messene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Mildere Mittel könnten insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – leidensgerechten – Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus könne sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeit-gebers ergeben, dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung die Chance zu bieten, ggf. spezi-fische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch die Wahrscheinlichkeit künf-tiger Fehlzeiten auszuschließen.
Die Darlegungs- und Beweislast, dass im jeweiligen Einzelfall behauptete mildere Mit-tel nicht zur Verfügung stünden, trifft den Arbeitgeber. Hat er es versäumt, ein BEM ordnungsgemäß anzubieten und/oder durch-zuführen, obliegt es ihm, detailliert und konkret nachzuweisen, dass keine Möglich-keit bestanden habe, einem künftigen Auf-treten erheblicher, über sechs Wochen hin-ausgehender Fehlzeiten des Klägers entgegenwirken zu können. Nicht ausreichend sei der Nachweis, dass innerbetriebliche oder arbeitsorganisatorische Anpassungsmaßnahmen nicht möglich oder erfolgversprechend seien. Selbst wenn feststünde, dass die tatsächlichen betrieblichen Bedin-gungen, zu denen der Kläger arbeitete, nicht hätten geändert werden können, sei nicht auszuschließen, dass bei Durchführung ei-nes BEM Rehabilitationsbedarfe in der Person des Klägers hätten erkannt und durch entsprechende Maßnahmen künftige Fehlzeiten hätten reduziert werden können. Der Arbeitgeber habe gleichfalls darzutun und zu belegen, dass auch durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger künftige Fehlzeiten nicht in relevantem Umfang hätten vermieden wer-den können.
Leitkriterien des BAG zu den Anforderungen an ein BEM
Aus den Gründen des Urteils lassen sich Art und Umfang der Initiativpflicht des Arbeitgebers sowie die Rechtsfolgen bei deren Missachtung wie folgt zusammenfassen:
Art und Ursache der Fehlzeiten unerheblich
Die Verpflichtung des Arbeitgebers nach § 84 II SGBIX gegenüber Beschäftigten, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig erkranken, ein BEM anzu-bieten, besteht unabhängig von der Art und den Ursachen der Erkrankung. Auch wenn krankheitsbedingte Fehlzeiten auf unterschiedlichen Grundleiden beruhen, kann sich aus ihnen – zumal wenn sie auf eine generelle Krankheitsanfälligkeit des Arbeit-nehmers hindeuten – eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses ergeben, dem das BEM entgegenwirken soll. Die Durchführung ei-nes BEM setzt nicht voraus, dass bei dem betroffenen Arbeitnehmer eine Behinderung vorliegt.
Notwendige Unterrichtung und Belehrung des Arbeitnehmers
Es ist Sache des Arbeitgebers, die Initiative zur Durchführung eines gesetzlich gebotenen BEM zu ergreifen. Um der Initiativlast zu genügen, muss dem Arbeitnehmer zunächst verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er Vorschläge einbringen kann. Zu den Zielen rechnet die Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann. Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes BEM durchführen zu können.
Offener Suchprozess
Nach der Konzeption des Gesetzes lässt das BEM den Beteiligten bei der Prüfung, mit welchen Maßnahmen, Leistungen oder Hilfen eine künftige Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers möglichst vermieden werden, jeden denkbaren Spielraum. Es soll erreicht werden, dass keine vernünftigerweise in Betracht kommende, zielführende Möglichkeit ausgeschlossen wird. Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, hat der Arbeitgeber auch bei nicht behinderten Arbeitnehmern die örtlichen gemeinsamen Servicestellen hinzuzuziehen. Damit soll er-reicht werden, dass insbesondere auch die Rehabilitationsträger aktiv an der Suche nach Möglichkeiten beteiligt werden.
Beweis der Nutzlosigkeit arbeitsplatz-bezogener Maßnahmen
Hat der Arbeitgeber die gebotene Initiative zum BEM nicht ergriffen, muss er umfassend darlegen und beweisen, warum ein BEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Zur Darlegung der Verhältnismäßigkeit einer auf krankheitsbedingte Fehlzeiten gestützten Kündigung gehört es daher zunächst, die objektive Nutzlosigkeit arbeitsplatzbezogener Maßnahmen iSv § 1 II Satz 2 KSchG umfassend und detailliert aufzeigen. Solche Maßnahmen könnten z. B. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes bzw. der Aufgaben, Beschäftigung auf einem anderen leidensgerechten Arbeitsplatz, Veränderungen der Arbeitszeit usw. sein.
Beweis der Nutzlosigkeit außer-betrieblicher Therapiemöglichkeiten
Das BEM dient auch dem Ziel, spätestens im Kündigungszeitpunkt bestehende außer-betriebliche Therapiemöglichkeiten zu erkennen und ggf. zu realisieren. Denkbares Ergebnis des BEM kann es sein, den Arbeitnehmer auf eine solche Maßnahme der Rehabilitation zu verweisen und ihm vor einer Kündigung die Chance zu bieten, dadurch die Wahrscheinlichkeit künftiger Fehlzeiten zu reduzieren. Hängt die Maßnahme von der Mitwirkung des Arbeitnehmers ab, darf der Arbeitsgeber eine angemessene Frist zur Inanspruchnahme der Leistung setzen. Erst nach ergebnislosem Ablauf dieser Frist kann die Kündigung wirksam erklärt werden. Der Arbeitgeber muss bei unterlassenem BEM folglich ebenfalls konkret dartun, dass künftige Fehlzeiten durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Re-habilitationsträger gleichfalls nicht in relevantem Umfang hätten vermieden werden können.
Möglichkeit positiver Ergebnisse ausreichend
Ist es nach der Überzeugung des erkennen-den Gerichts denkbar, dass ein ordnungsgemäß initiiertes BEM ein positives Ergebnis erbracht hätte, muss sich der Arbeitgeber regelmäßig vorhalten lassen, er habe „vorschnell“ gekündigt. Seine Kündigung ist dann unverhältnismäßig.
Begutachtung des Betriebsarztes ersetzt kein BEM
Die Inanspruchnahme des Sachverstands eines Betriebsarztes kann der Klärung dienen, ob vom Arbeitsplatz Gefahren für die Gesundheit des Arbeitnehmers ausgehen und künftig durch geeignete Maßnahmen vermieden werden können (§ 3 I Satz 2 ASiG). Die betriebsärztliche Untersuchung oder Begutachtung ist mithin ein wichtiges Instrument zur die Einschätzung der Einsatzfähigkeit der Arbeitnehmers. Als Einzelmaßnahme des BEM steht sie aber seiner Durchführung als Ganzem nicht gleich. Ausdrücklich offen gelassen hat das BAG, ob der Arbeitsgeber dem Betriebsarzt die Durchführung und Leitung des BEM übertragen darf.