Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Urteil des Bundessozialgerichtes vom 11.07.2017 – B 1 KR 26/16 R

Sachleistungsanspruch kraft gesetzlicher Fiktion

Als eine Maßnahme zur Verbesserung der Patientenrechte wurden die Krankenkassen im Jahr 2013 verpflichtet, über einen Leistungsantrag zügig, spätestens jedoch innerhalb von drei Wochen zu entscheiden. Kann die Krankenkasse die Dreiwochenfrist nicht einhalten, muss sie dies dem Versicherten rechtzeitig schriftlich mitteilen. Unterbleibt die Mitteilung oder gibt die Krankenkasse keinen hinreichenden Grund für die Verzögerung an, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. Nicht abschließend geklärt war bisher, ob Krankenkassen nach Fristüberschreitung die beantragte Sachleistung ohne weitere Prüfung zu erbringen haben, oder ob lediglich Erstattung der Kosten für selbstbeschaffte Leistung beansprucht werden kann.

Sachverhalt

In dem vom Bundessozialgericht (BSG) am 11.07.2017 entschiedenen Rechtsstreit war über den Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einer bariatrischen Operation (Verkleinerung des Magenvolumens) zu entscheiden.

Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte, an einer Adipositas Grad III leidende Klägerin beantragte die Operation mit Schreiben vom 08.12.2014, Eingang bei der Beklagten am 17.12.2014. Die Beklagte forderte von der Klägerin telefonisch Unterlagen an, beauftragte nach deren Eingang den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Begutachtung und setzte die Klägerin am 16.01.2015 hierüber in Kenntnis. Der MDK hielt die nichtoperativen leitliniengerechten Therapiemöglichkeiten noch nicht für ausgeschöpft, so dass die Beklagte es mit Bescheid vom 19.02.2015 ablehnte, die Therapie zu bewilligen.

Das Sozialgericht hatte die Beklagte zunächst wegen Verfristung der Leistungsablehnung verurteilt, der Klägerin eine bariatrische Operation als Sachleistung aufgrund fingierter Genehmigung aus § 13 Abs. 3a SGB V zu gewähren. Dieses Urteil wurde vom Landessozialgericht aufgehoben und die Klage abgewiesen, da nach Meinung des dortigen Senats eine Verfristung allenfalls einen Erstattungs-, nicht aber einen Naturalleistungsanspruch auf eine fiktiv genehmigte Leistung geben könne. Auch erfülle die Klägerin nicht die medizinischen Voraussetzungen des Anspruchs auf Versorgung mit einer bariatrischen Operation.

Dem tritt das BSG mit beachtlichen Gründen entgegen und stellt das Urteil der ersten Instanz wieder her. Es bestätigte ausdrücklich, dass die Klägerin aufgrund fingierter Genehmigung ihres Antrags nach Fristablauf am 07.01.2015 einen unmittelbaren Leistungsanspruch auf Versorgung mit einer bariatrischen Operation erlangt habe. Hierzu sei es ausreichend, dass der Antrag der Klägerin eine Leistung betraf, die sie für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) liegt. Sofern die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt sei, stehe dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid gleich. Der Anspruch könne mit der allgemeinen Leistungsklage geltend gemacht werden.

Naturalleistungsanspruch

Zur Begründung verweist das BSG zunächst auf die ausdrückliche gesetzliche Regelung, wonach ohne Mitteilung eines hinreichenden Grundes, die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt (§ 13 Abs. 3a S. 6 SGB V). Gilt eine beantragte Leistung als genehmigt, erwächst dem Antragsteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarer Anspruch auf eben diese Leistung. Nur wenn die fingierte Genehmigung eine Leistung betrifft, die nicht als Naturalleistung erbracht werden kann, ist der Anspruch entsprechend den allgemeinen Grundsätzen auf Freistellung von der Zahlungspflicht gerichtet.

Der im Gesetzestext nachfolgende Satz 7, der bei bereits selbstbeschaffter Leistung die Möglichkeit der Kostenerstattung eröffne, stehe dem nicht entgegen. Denn eine KK dürfe anstelle der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsieht (§ 13 Abs. 1 SGB V). Nach dem Regelungssystem entspreche daher der in Satz 6 geregelte Naturalleistungsanspruch dem im Anschluss hieran geregelten Kostenerstattungsanspruch im Falle der vorherigen naturalleistungsersetzenden Selbsthilfe. Nur der Naturalleistungsanspruch ermögliche auch mittellosen Versicherten, die nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, ihren Anspruch zu realisieren.

Für diese Auslegung spreche schließlich der Sanktionscharakter der Norm, der helfen soll, die Patientenrechte durch Beschleunigung der Bewilligungsverfahren zu stärken. Soweit ein Naturalleistungsanspruch als Rechtsfolge der Genehmigungsfiktion verneint werde, würde vernachlässigt, dass § 13 Abs. 3a SGB V bewusst abweichend von den sonstigen in § 13 SGB V geregelten Kostenerstattungstatbeständen normiert wurde und sich wie der Erstattungsanspruch nur auf subjektiv „erforderliche“ Leistungen erstreckt.

Fiktionsfähiger Antrag

„Leistungsberechtigter“ im Sinne der Regelung ist derjenige, der berechtigt ist, Leistungen nach dem SGB V zu beanspruchen – also sämtliche GKV-Versicherte im Verhältnis zu ihrer jeweiligen KK – und einen fiktionsfähigen Antrag gestellt hat. Dafür muss der Antrag so bestimmt gestellt sein, dass er geeignet ist, den Inhalt der fingierten Genehmigung hinreichend klar zu konkretisieren. Der Verfügungssatz, einen Naturalleistungsanspruch auf eine bestimmte Krankenbehandlung zu gewähren, verschafft dem Adressaten nämlich eine Rechtsgrundlage dafür, mittels Leistungsklage einen Vollstreckungstitel auf das Zuerkannte zu erhalten.

Hierfür sieht es das BSG als genügend an, dass nach dem Antragsinhalt bzw. seinen Anlagen das Behandlungsziel klar ist, wobei unschädlich wäre, dass zur Erfüllung der Leistungspflicht verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Der Antrag der Klägerin vom 08.12.2014 genügte diesen Anforderungen. Er war auf die Versorgung mit einer stationär durchzuführenden bariatrischen Operation in einem hierfür geeigneten Krankenhaus gerichtet und enthielt die Bitte, ihr die Chance zu geben, ihr „Gewicht mittels einer Operation verringern zu können“.

Subjektive Erforderlichkeit der Leistung

Einschränkungen für die Genehmigungsfiktion sind zwar nicht ausdrücklich geregelt, folgen aber sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen.

Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Die Klägerin durfte in ihrem Fall eine bariatrische Operation aufgrund der zuvor von ihr eingeholten ärztlichen Stellungnahme von Prof. Dr. H. für erforderlich halten. § 13 Abs. 3a SGB V weicht gerade als Sanktionsnorm von den allgemeinen Anforderungen ab und ordnet eine Genehmigung selbst dann an, wenn der Antragsteller auf diese Maßnahme nach objektiven Kriterien keinen materiell-rechtlichen Anspruch hat. Das Gesetz nimmt damit bewusst in Kauf, dass die Rechtsauffassung des Antragstellers nur aufgrund der Fiktion rechtmäßig ist. Wären nur die auf materiell-rechtlich bestehende Leistungsansprüche gerichteten Anträge fiktionsfähig, wäre die Reglung des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V obsolet.

Drei-Wochen-Frist

Maßgeblich für den Fristbeginn ist der Eingang des Antrags bei der KK. Hierbei ist es unerheblich, ob die betroffene KK meint, der maßgebliche Sachverhalt sei noch aufzuklären. Das folgt aus Wortlaut, Regelungssystem, Entstehungsgeschichte und Regelungszweck. Nach § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V hat die KK über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Ein Fristbeginn erst bei Eingang der vollständigen Unterlagen ist abzulehnen, da es Zweck der Regelung ist, eine zügige Bescheidung der Anträge im Interesse der betroffenen Versicherten zu erreichen.

Wenn die KK eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten (§ 13 Abs. 3a S. 2 SGB V). Der MDK nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung (§ 13 Abs. 3a S. 3 SGB V).

Kann die KK die Fristen nach S. 1 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (§ 13 Abs. 3a S. 5 SGB V). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt.

Dies gilt selbst dann, wenn die KK einen Antrag völlig übergeht bzw. überhaupt nicht antwortet.

Gründe für Fristverlängerung

Einen hinreichenden Grund für angemessene Fristverlängerung kann die im Rahmen der Amtsermittlung gebotene Einholung von weiteren Informationen beim Antragsteller oder Dritten geben, um abschließend über den Antrag entscheiden zu können. In diesem Sinne führen die Gesetzesmaterialien beispielhaft an, „dass die Versicherten oder Dritte nicht genügend oder rechtzeitig bei einer körperlichen Untersuchung mitgewirkt oder von einem Gutachter angeforderte notwendige Unterlagen nicht beigebracht haben“. Allgemein wird man sagen können, dass nur Gründe zu akzeptieren sind, die außerhalb des Verantwortungsbereichs der Krankenkasse liegen. Auf Organisationsmängeln, allgemeine Arbeitsüberlastung der Sachbearbeiter oder sonstige Gründe verzögert betriebener Verwaltungs- oder Begutachtungsverfahren des MDK kann die KK sich nicht berufen. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob die beantragte Leistung überhaupt medizinisch eilbedürftig ist.

Taggenaue Mitteilung der Dauer

Das Hinweisschreiben der Beklagten, eine Stellungnahme des MDK einzuholen, erfüllte bereits deshalb nicht die gesetzlichen Anforderungen, weil es nicht bis zum Ablauf des 07.01.2015 zuging. Doch selbst bei fristgerechtem Eingang wäre es für eine Fristverlängerung nicht genügend gewesen, da es nicht die voraussichtliche Verzögerungsdauer taggenau mitteilte.

Nur die Mitteilung mindestens eines hinreichenden Grundes und dessen taggenauer (voraussichtlicher) Dauer bewirkt das Entstehen des hinreichenden Grundes, aufgrund dessen die Leistung trotz Ablaufs der Frist noch nicht als genehmigt gilt. Stellt sich nach Mitteilung einer ersten, sachlich gerechtfertigten Frist heraus, dass sich diese zunächst prognostizierte Frist aus hinreichenden Sachgründen als zu kurz erweist, kann die KK zur Vermeidung des Eintritts der Genehmigungsfiktion dem Antragsteller vor Fristablauf die weiteren Gründe mit der geänderten taggenauen Prognose erneut mitteilen. In diesem Fall greift erst nach Ablauf der letzten, hinreichend begründeten Frist die Genehmigungsfiktion. Ohne eine taggenaue Verlängerung der Frist könnte der Antragsteller nicht erkennen, wann die Fiktion der Genehmigung eingetreten ist, was dem dargelegten Regelungsgehalt und Beschleunigungszweck der Norm widerspräche.

Nicht hinreichend sind (fern-)mündliche Mitteilungen. Die Beklagte informierte vorliegend mit einem Telefonat die Klägerin, dass sie ein Ernährungstagebuch benötige sowie Ultraschallbefunde der Nebennieren und der Schilddrüse anfordere. Das BSG wertete dies als Information über Ermittlungswünsche, bei der es neben genauer Angaben zur Ermittlungsdauer an der Schriftform mangelte.

Kein Widerruf fiktiver Genehmigung

Abschließend stellt das BSG klar, das eine einmal entstandene Fiktion nicht durch den späteren Ablehnungsbescheid erlöschen kann. Die fingierte Genehmigung schützt den Adressaten dadurch, dass sie ihre Wirksamkeit ausschließlich nach den allgemeinen Grundsätzen über Erledigung, Widerruf und Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts verliert. Ihre Rechtmäßigkeit beurteilt sich nach der Erfüllung der oben aufgezeigten Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V, nicht nach den Voraussetzungen des geltend gemachten Naturalleistungsanspruchs.

Damit sind nach Fristablauf Einwendungen der KK gegen die fingierte Genehmigung weitgehend ausgeschlossen. Die Genehmigung bleibt solange gültig, wie sie nicht durch nachlaufende Veränderungen anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf bzw. auf andere Weise erledigt ist. Sind Bestand oder Rechtswirkungen einer Genehmigung für den Adressaten erkennbar von vornherein an den Fortbestand einer bestimmten Situation gebunden, so wird sie gegenstandslos, wenn die betreffende Situation nicht mehr besteht.

Diese Grundsätze gelten in gleicher Weise für Naturalleistungsbegehren wie für Kostenerstattungsbegehren. Eine unterschiedliche Behandlung der beiden Fallgruppen widerspräche der Gesetzeskonzeption und dem Sanktionscharakter der Regelung, die das Interesse aller Versicherten an einem beschleunigten Verwaltungsverfahren schützt. Mittellose Versicherte würde sie sachwidrig ungleich gegenüber jenen behandeln, die sich die Leistung nach fingierter Genehmigung selbst beschaffen können.

Stärkung der Patientenrechte

Das Urteil ist als deutliche Stärkung der Patientenrechte zu begrüßen. Mit seinen Feststellungen schafft es Rechtssicherheit, weil bereits im Laienhorizont gut prüfbar ist, ob eine Genehmigungsfiktion eingetreten ist. Versicherte können bei verzögerter Sachbearbeitung daher bereits nach Ablauf der Drei- bzw. Fünfwochenfrist ohne erhebliches Risiko entscheiden, wie weiter zu verfahren ist. Nach den Regeln der Untätigkeitsklage könnten sie frühestens nach 6 Monaten auf Entscheidung klagen und hätten selbst bei Stattgabe der Klage noch keine positive Leistungsentscheidung.

Zudem ist jetzt geklärt, dass von Verzögerung betroffene Krankenkassenversicherte über ein echtes Wahlrecht verfügen. Sie können, sofern es ihre finanziellen Möglichkeiten zulassen, unverzüglich zur Selbstbeschaffung der beantragten Leistung schreiten, ohne dass man dem Erstattungsanspruch später entgegenhalten könnte, dass sie nach objektiven Kriterien keinen Leistungsanspruch hätten. Es genügt, dass der behandelnde Arzt eine entsprechende Indikation stellt und die beantragte Leistung nicht offensichtlich – d. h. für jeden Laien leicht erkennbar – außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegt.

Alternativ können sie nach Fristablauf gestützt auf § 13 Abs. 3a SGB V die zuvor beantragte Leistung unmittelbar als Sachleistung verlangen. Im Falle fortgesetzter Weigerung der KK dürfen sie direkt auf Leistung klagen. Bei Eilbedürftigkeit steht ihnen dann mit guter Erfolgsaussicht der einstweilige Rechtsschutz zur Verfügung.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt

    Autor

    Reinhard Holtstraeter

    Rechtsanwalt

    Lorichsstraße 17

    22307 Hamburg

    mail@ra-holtstraeter.de

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen

    Tags