Welche Möglichkeiten gibt es mit Provokationen und Vorwürfen eines Patienten umzugehen? Wie ist es möglich weitschweifige Beschwerdeschilderungen einer Patientin gelassen anzuhören?
Das Buch „Praxis der Psychosomatischen Grundversorgung“ von Iris Veit gibt Hilfestellung, indem es die Beziehung zwischen Arzt und Patient als zentrales Diagnoseinstrument vorstellt. Grundlegend ist ein integratives Krankheitsverständnis, das von Beginn der Behandlung an die körperliche und die psychische Ebene als gleichwertig und sich gegenseitig beeinflussend ansieht. Die Arzt-Patienten-Interaktion wird als ein wichtiger klinischer Parameter der Entscheidungsfindung angesehen.
Die Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patient gehört für die Autorin zu den Kernkompetenzen der ärztlichen Tätigkeit. Konsequent wird der Blick auf die Ressourcen und die Kompetenz der Selbstfürsorge eines Patienten gerichtet.
Die Allgemeinmedizinerin Iris Veit ist Lehrbeauftragte der Ruhr-Universität Bochum und leitet seit vielen Jahren das Curriculum „psychosomatische Grundversorgung“ für die Akademie für ärztliche Fortbildung der Ärztekammer und der kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe.
Das Buch ist übersichtlich gegliedert. Nach Vorstellung der Autorin und der Koautorin Dipl.-Psychologin Susanne Behling, Dozentin am Westfälischen Institut für Psychotraumatologie (WIPT), die das Kapitel „Psychische Traumatisierung“ geschrieben hat, findet sich ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. Ein oder mehrere Tabellen geben in jedem Kapitel einen kurzen Überblick über die wichtigsten Empfehlungen für die Praxis.
Die Autorin verfügt über einen großen Erfahrungsschatz aus ihrer allgemeinmedizinischen Praxis und illustriert mit zahlreichen Krankheitsbildern ihre Vorgehensweise. Ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Sachwortregister runden die gelungene Präsentation ab.
Das 2018 in 2. Auflage erschienene Werk berücksichtigt die neuen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften AWMF und die Praxisempfehlungen der deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin DEGAM.
Inhaltlich stellen die Kapitel, die sich mit der Bedeutung von Beziehung und frühen Bindungspersonen beschäftigen, einen Schwerpunkt dar. Ausführlich beschrieben werden die Beziehungsmodi des ängstlichen, des depressiven, des narzisstischen, des zwanghaften und des histrionischen Patienten, entsprechend der Systematik nach S. Mentzos. Die Analyse der Art der Kontaktaufnahme erleichtert den Umgang mit schwer traumatisierten oder chronisch kranken Patienten. Auch Patienten mit chronischen Schmerzen oder mit somatoformen Körperbeschwerden, für die sich kein organisches Korrelat findet, werden besser behandelbar.
Nur kurz abgehandelt wird hingegen das große Gebiet der Essstörungen. Im Gegensatz zu den übrigen Kapiteln findet sich hier keine Analyse der Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patient. Die abschließende Darstellung wissenschaftlich anerkannter Methoden der Psychotherapie und der Kooperationen im psychosozialen Versorgungssystem vermittelt lediglich Basisinformationen.
Das gut lesbare Werk richtet sich besonders an primär somatisch tätige Ärzte, die Kenntnisse in der psychosomatischen Grundversorgung erwerben möchten. Bereichernd ist das Buch auch für Ärzte in der Facharztweiterbildung und für Medizinstudenten sowie für die, die schon längere Berufserfahrung haben und ihre kommunikative Kompetenz verbessern wollen.
Auch in der Arbeitswelt sind Kenntnisse der Interaktion zwischen somatischen und psychischen Prozessen unabdingbar um Mitarbeiter in ihrem spezifischen psychosozialen Kontext zu verstehen. Zu Beschäftigten mit Rückenschmerzen, Herzbeschwerden, Burn-out sowie anderen komplexen Krankheitskonstellationen können neue Zugangswege gefunden werden.
Das Buch ist damit auch für den Arbeitsmediziner eine lohnenswerte Lektüre.