Zu einer Zeit, als die Weltbevölkerung nur ein Viertel so groß wie heute war, raffte die Spanische Grippe 20 bis 50 Millionen Menschen dahin und damit mehr, als auf den Schlachtfeldern des zu Ende gehenden Weltkriegs starben. Im Gegensatz zur aktuellen Coronapandemie traf die in mehreren Wellen weltweit von 1918 bis 1920 wütende Pandemie nicht nur vorwiegend Alte und Vorerkrankte, sondern vor allem auch Jugendliche und junge Erwachsene.
Die Geschichte dieser Pandemie hat der aus Österreich stammende und in Prag als Autor und Verleger lebende Arzt und Medizinhistoriker Dr. Harald Salfellner in seinem Buch „Die Spanische Grippe“ in 35 Kapiteln beschrieben, in der jetzt vorliegenden zweiten Auflage des Buches ergänzt durch Anmerkungen zur aktuellen COVID-19-Pandemie. Hinterlegt durch Quellennachweise präsentiert Salfellner eine Fülle von Fakten, angereichert durch Kasuistiken und Beschreibungen von Einzelschicksalen berühmter Persönlichkeiten und veranschaulicht durch zahlreiche Fotos und Illustrationen. Der Leser erfährt, dass auch 100 Jahre nach Ausbruch der Pandemie der geografische Ursprung noch immer ungeklärt ist. Nach Salfellner sind mehrere Szenarien möglich. Sicher ist er sich, dass die Spanische Grippe ihren Namen zu Unrecht trägt: Die irreführende Namensgebung beruht vermutlich auf der im neutralen Spanien unzensierten ausgiebigen Berichterstattung über die in diesem Land auch damals grassierende Seuche. Parallelen, aber auch Unterschiede zur aktuellen Coronapandemie werden bei der Darstellung der empfohlenen oder angeordneten Maßnahmen erkennbar: der dringende Appell zur Einhaltung strenger Hygienestandards; die Empfehlungen zum Abstandhalten – generell von Erkrankten, aber auch von Mitreisenden in der Straßenbahn –; die Anweisung, Restaurants und Theater regelmäßig zu lüften und beim außerhäusigen Speisen eigene Bestecke und Gläser mitzubringen; der in Städten der USA unter Strafandrohung auferlegte Zwang zum Tragen von Schutzmasken; schließlich, nicht überall, aber in manchen Ländern das Schließen von Schulen, Theatern, Kinos und das Aussetzen von Sportveranstaltungen, als bei der zweiten Welle im Herbst 2018 die Zahl der Pandemietoten in die Höhe schnellte. Fotos, die die Enge und Überfüllung der Krankenlager, das Anfertigen von Schutzmasken durch Krankenschwestern, das Ausheben von Massengräbern und den Abtransport der Pandemietoten dokumentieren, gleichen aktuellen Bildern der Coronakrise in manchen Regionen. Dass sich damals einige Ärzte in Erwartung einer milderen Symptomatik im Sommer und eines schwereren Verlaufs einer zweiten Welle im Herbst für das Anstreben einer Herdenimmunität in den Sommermonaten aussprachen, erinnert an die aktuelle schwedische Pandemiestrategie. Salfellner beschreibt auch, wie sich – ähnlich wie in der Gegenwart – bei der Spanischen Grippe Verschwörungstheorien verbreiteten und wie die Pandemie dazu herangezogen wurde, einerseits dem militärischen Gegner Biowaffengebrauch zu unterstellen und andererseits das Scheitern militärischer Operationen unter anderem auf den Grippebefall eigener Soldaten zu schieben. Auf besonderes medizinhistorisches Interesse dürften die im Buch beschriebenen ärztlichen Bemühungen stoßen, die Influenza und die damit oft einhergehende Pneumonie ohne die noch nicht verfügbaren Antibiotika und antiviralen Medikamente zu therapieren. An den angewandten häufig fragwürdigen und meist erfolglosen Therapiemethoden wird der seither erzielte medizinische Fortschritt deutlich, trotz der vielen Toten, die auch die gegenwärtige Pandemie fordert. Salfellners abschließende Beschreibung, wie es nach jahrzehntelangen Bemühungen zur Gewinnung von Virusmaterial 87 Jahre nach Ausbruch der Spanischen Grippe gelang, die komplette Gensequenz des auslösenden Virus zu rekonstruieren, unterstreicht die heutigen Möglichkeiten der virologischen Forschung, ungeachtet der auch heute noch offenen Fragen zu dieser Pandemie.
Das Buch „Die Spanische Grippe“ ist eine medizin- und zeithistorisch ausgesprochen informative und zugleich sehr lebendige Lektüre. Gleichzeitig mahnt uns das Buch, auf eine mit Sicherheit kommende künftige Viruspandemie gut vorbereitet zu sein