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Rezensionen

Schon das Cover mit einem dicken roten Balken und den Worten „DGUV Empfehlungen“ markiert die Abkehr vom früher seriösen anthrazit-grauen, später seriös dunkelblauen Bucheinband der 1971 erstmals erschienenen „Berufsgenossenschaftlichen Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen“. Nach über 50 Jahren wollen die weit über 100 Autorinnen und Autoren vornehmlich aus Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen des Ausschusses Arbeitsmedizin der DGUV
(AAMED-GUV) eine Trendwende praktisch umsetzen, die der Gesetzgeber 2008 mit der Neuausrichtung der arbeitsmedizinischen Vorsorge eingeläutet hat: Eine fürsorgliche und partnerschaftliche ärztliche Beratung einerseits, die gleichzeitig die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten respektiert, aber auch eine kompetente Beratung der Unternehmensleitung und Mitwirkung bei der Gefährdungsbeurteilung andererseits, die heute keine starren „Grundsätze“ mehr braucht. Vielmehr sollen die „Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen“ die Individuen und die äußerst vielseitigen Arbeitsbedingungen gleichermaßen berücksichtigen. Hier hat die DGUV seit Jahren mit ihren „Empfehlungen“ zur Gefährdungsermittlung in vielen Bereichen aber auch mit den Begutachtungsempfehlungen im BK-Recht bereits gute Erfahrungen gemacht.

Nachdrücklich weisen die Autorinnen und Autoren darauf hin, die Empfehlungen hätten auch keine Rechtsverbindlichkeit, „weder den Status einer Vorschrift noch einer Regel und sind auch keine Leitlinien im engeren Sinne“. Sie dienten vielmehr dazu, „die Betriebsärzte und Betriebsärztinnen als Beauftragte der Unternehmer und Unternehmerinnen zu unterstützen, bei den Maßnahmen des Arbeitsschutzes den Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen, wozu § 4 Nr. 3 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) die Unternehmerinnen und Unternehmer verpflichtet“. Sie seien auch deutlich abzugrenzen von den sog. Arbeitsmedizinischen Empfehlungen (AME). Diese beruhen auf gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen und werden vom Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) aufgestellt oder angepasst und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
veröffentlicht.

Werden die neuen Empfehlungen nun ihrem selbst gesetzten Anspruch gerecht? Auf den ersten Blick bestechen sie durch ihre klare Gliederung. Nach einer lesenswerten Einleitung „Über dieses Buch“ mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen unterscheiden sie streng nach Vorsorgeanlässen und Eignungsuntersuchungen, was dazu führt, dass Tätigkeiten mit Atemschutzgeräten und Taucherarbeiten sogar doppelt (in unterschiedlicher Betrachtungsweise) Erwähnung finden. Innerhalb der Vorsorge wurde idealerweise die Gliederung des Anhangs der ArbMedVV übernommen, was das Zurechtfinden erleichtert.

Innerhalb der Anlässe dominiert wieder eine einheitliche Gliederung nach „Rechtsgrundlagen“, Anwendungsbereich“, „Pflichten und Anforderungen“ an den Arzt, ein individuelles „Ablaufdiagramm“ für jeden Anlass und die Beschreibung der erforderlichen „Bescheinigung“. Darauf folgen ausführliche stoffspezifische Hinweise zum Vorkommen (häufig ergänzt durch die früher separat in der DGUV Information 250 [einst: BGI/GUV-I 504] veröffentlichten Hinweise für die Auswahl des mehr oder weniger gefährdeten Personenkreises), Aufnahme, Wirkungen und Krankheitsbild, Möglichkeiten des Biomonitorings und einen Hinweis auf die ggf. einschlägige Berufskrankheit. Ausführlich werden Fragen zur Anamnese (bei Erst- und Folgeberatung), mögliche körperliche und klinische Untersuchungen sowie die zugehörigen Beurteilungskriterien dargestellt. Zusätzliche Hinweise für die Beratung der Beschäftigten und des Unternehmens und Hinweise auf aktuelle Literatur, Vorschriften und Regeln runden die jeweilig umfangreiche Monografie ab. Ergänzend kann im Anhang sogar das verantwortliche Autorenteam noch eingesehen werden.

Während so die chemischen Gefahrstoffe auf über 600 Seiten abgearbeitet werden und nahezu keine Wünsche offenlassen, werden unter „Tätigkeiten mit Infektionsgefährdung“ die Biostoffe nur verallgemeinert dargestellt. Der „Spezielle Teil“, der in der 6. Auflage der Grundsätze noch auf über 200 Seiten vom Adenovirus bis zu Yersinia pestis Einzelheiten darstellte, ist vollständig weggefallen. Hier verweist man nun auf Leitlinien der AWMF, Merkblätter des RKI, die GESTIS Biostoffdatenbank, auf Erregerdossiers der BG RCI, auf Papiere des ABAS und weitere Literatur. Schade – wenigstens im e-Book
sind allgemeine Links zu diesen Datenbanken direkt anklickbar –, die Suche ist dennoch zeitaufwendiger geworden. Auch bei den „Arbeitsaufenthalten im Ausland …“ beschränkt sich das Autorenteam auf Grundsätzliches – die Details
müssen reisemedizinischen Datenbanken und Spezialwerken vorbehalten bleiben.

Im Kapitel der Tätigkeiten mit physikalischen Einwirkungen sind die Empfehlungen zu natürlicher optischer Strahlung (Sonne) neu hinzugekommen, die Empfehlungen zu Säureschäden der Zähne sind ersatzlos entfallen.

Die fünf aufgeführten Eignungsbeurteilungen (sauerstoffreduzierte Atmosphäre, Absturzgefahr, Atemschutzgeräte, Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten sowie Überdruck) zeichnen sich jeweils durch eine umfangreiche Vorbemerkung zur Erforderlichkeit einer Rechtsgrundlage unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aus, die durchaus mit dem Unternehmen bei Bedarf diskutiert werden sollte. Bei den Anforderungen zum Seh- und Hörvermögen bei Fahr- und Steuertätigkeiten sind einige Änderungen/Vereinfachungen eingeflossen.

Die darüber hinaus in staatlichen Vorschriften geregelten Eignungsuntersuchungen, insbesondere in den Verkehrsbereichen, aber auch zur Strahlenschutzverordnung, nach Beamtenrecht, Gefahrstoffverordnung (Schädlingsbekämpfer und Begaser) und dem Sprengstoffgesetz sind weiterhin nicht in den Empfehlungen enthalten. Hier muss ergänzende Literatur, in einigen Fällen aber auch verbunden mit obligaten Ermächtigungskursen, zu Rate gezogen werden.

Der Anhang zur Lungenfunktion wurde praxisnah bebildert und macht die seit 2012 publizierten GLI-Sollwerte nun zu Standards, die in den meisten modernen Messgeräten angezeigt werden können. Die EGKS-Sollwert-Tabellen zur Vitalkapazität sind auch in der Empfehlung „Asbest“ nun entfallen, obwohl die heute gebräuchlichen Sollwerte der GLI für die Vitalkapazität im mittleren Lebensalter für beide Geschlechter etwas höhere Werte; für das höhere Lebensalter eine größere Streuungsbreite aufweisen. Dies ist aber weniger für die aktuelle Vorsorge als vielmehr für die Verlaufsbeobachtung und Beurteilung der Lungenfunktion von Bedeutung. In der Ergometrie wird deutlicher als in den „Grundsätzen“ nun zwischen der präventiv-diagnostischen (Vorsorge) und der leistungsphysiologischen Indikation (Eignung) differenziert, absolute und relative Kontraindikationen wurden neugefasst und bei den Notfallmedikamenten verweist man auf die jeweils aktuellen Leitlinien der Fachgesellschaften.

Der Anhang 3 zum Biomonitoring wurde geringfügig erweitert und bringt mit seinen Gefahrstoff- und Arbeitsstofftabellen die Beurteilungswerte wieder auf einen aktuellen Stand.

In der Gesamtbetrachtung ist dem Auto­renteam mit den als „1. Auflage“ benannten „DGUV Empfehlungen“ die Trendwende gelungen. Sie haben Bestehendes in allen Kapiteln und Texten kritisch hinterfragt und konsequent der Neuausrichtung der arbeitsmedizinischen Vorsorge von 2008 Rechnung getragen. Für die Weiterbildung in der praktischen „Arbeitsmedizin“ sind sie sicher ein „Muss“, als Nachschlagewerk im Alltag für viele Spezialfragen – besonders im Gefahrstoffbereich – wieder ein praktischer aktueller Wegbegleiter. Bei dem stattlichen Buchgewicht von 1652 g wird man in der Praxis möglicherweise aber lieber die parallel erschienene digitale Version zu Rate ziehen, die auch einige direkte Verlinkungen zu ergänzenden Quellen ermöglicht.

Hanns Wildgans, München


Wolfgang Schneider
Eine Gesellschaft
zwischen Narzissmus, Hysterie und Abhängigkeit

240 Seiten, Hogrefe, Bern, 2022.
ISBN: 978-3-456-86217-0
Preis: 29,95 €

Das neue Buch von Wolfgang Schneider ist, wie bereits aus dem Titel ersichtlich, eine kulturkritische Abhandlung. Wolfgang
Schneider ist ein Arzt für Psychiatrie, Psy­cho­somatik und Psychoanalyse und war langjähriger Direktor der Klinik für Psycho­somatische Medizin an der Universität Rostock. Sein nun erschienenes Buch ist ein „Thesenbuch“, wie der Autor anmerkt. Es ist ein gesellschaftskritisches und auch subjektives Resümee aus der Feder eines Autors, der viele Jahre als Wissenschaftler, Psychosomatiker und Psychotherapeut gearbeitet hat. Es gründet auf einer langjährigen Lebens- und Berufserfahrung, fasst die Interessen- und Arbeitsschwerpunkte des Autors zusammen und gibt vor diesem Hintergrund eine Deutung der aktuellen
bundesrepublikanischen Befindlichkeit. Das Buch steht damit in der Tradition anderer Bücher von Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten, wie es Sigmund Freud mit der Schrift „Das Unbehagen an der Kultur“ bereits getan hat, um auf Entwicklungen hinzuweisen, auch und gerade, wenn sie nicht in jedem Detail empirisch evidenzbelegbar sind.

Schneider kommentiert aus psychodyna­mischer Perspektive die aktuellen Herausforderungen in Deutschland, d. h. Coronapandemie, Ukrainekrieg, Ampelkoalition, die anhaltenden Debatten um Ost- und Westdeutschland, die Immigrantionsprobleme, die ideologischen Auseinandersetzungen und nicht zuletzt die Änderungen in der Arbeitswelt. Er kommentiert aber auch das medizinische und psychotherapeutische Versorgungssystem, die Nebenwirkungen der Krankheitsklassifikationen ICD und DSM, die Bedeutung der vielen chronischen Erkrankungen für das Verständnis von therapeutischer Hilfe, die Gefahren der Verengung auf biologische Konzepte in der Psychiatrie und vor allem die „Medikalisierung“ der Gesellschaft. Er hat sich auch zuvor schon vielfach zu diesen Themen geäußert, einschließlich seinem speziellen Interesse an der Arbeitswelt und seiner Tätigkeit als Beiratsmitglied der Zeitschrift Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Umweltmedizin (ASU). Daher ist das Buch gerade auch für Arbeits- und Sozialmedizinerinnen und -mediziner eine anregende Lektüre, um die tägliche Arbeit in einen größeren Kontext einordnen zu können.

Das Buch von Schneider ist insofern ein (wissenschafts-)politisches Buch eines Psychoanalytikers, das kritisch und unterhaltsam auf gesellschaftliche Missverständnisse und Fehlentwicklungen hinweist. Es handelt sich um ein hoch aktuelles Buch, das auf die derzeitigen Problemstellungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft Bezug nimmt, aus der Sicht eines erfahrenen Psychotherapeuten und Universitätslehrers eine gesellschaftliche Diagnose stellt und Therapieempfehlungen gibt. Die Aktualität der angesprochenen Themen macht das Buch zu einem interessanten Lesestoff.

Aus Rezensentensicht fehlt dem Buch allerdings noch ein Kapitel. Wenn auf Krieg, politische Radikalisierung, Verfall traditioneller gesellschaftlicher Werte, Terrorismus, Fluchtbewegungen oder Seuchen eingegangen wird, dann hätte man sich ergänzend zur bundesrepublikanischen Perspektive eine internationale und vor allem auch historische Erweiterung gewünscht. Herausforderungen wie Krieg, Ideologisierung, herausfordernde Arbeitssituationen, Seuchen usw. gibt es nicht nur in Deutschland, sondern aktuell in vielen Ländern der Welt, in denen auch noch Probleme wie Hunger, grobe Missachtung der Menschenrechte oder politische Instabilität hinzukommen. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, was die eigenen Eltern und Großeltern erlebt haben und die vielen Generationen davor. Es bleibt also eine offene Zusatzfrage: Warum und wann gibt es eigentlich Grund zur Klage und wie können Menschen mit den unausweichlichen Lebenswidrigkeiten umgehen, bzw. wann fehlt ihnen eine angemessene Lebensresilienz und wie steht die bundesrepublikanische Gesellschaft diesbezüglich da?

Michael Linden, Berlin

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