Die Tätigkeit des Arbeitsmediziners als Betriebsarzt ist verbunden mit einem besonders breiten medizini-schen Querschnitt durch alle Fachdisziplinen. Nahezu alle innerhalb des Er-werbsalters eintretenden Krankheiten kön-nen mit einer aktuellen Arbeitsfähigkeit bzw. einer langfristigen Erwerbsfähigkeit kollidie-ren. Die überwiegende Verursachung durch die Arbeit (arbeitsbedingte Erkrankung bzw. Berufskrankheit) macht jedoch nur einen sehr kleinen Anteil aus.
Die Empfehlungen des Betriebsarztes rich-ten sich einerseits auf eine sehr komplexe Situation zwischen verschiedenen Gesundheitsstörungen und Erkrankungen und an-dererseits auf die nach Art und Umfang sehr vielfältigen Anforderungen und Belastungen bei der Arbeit.
Die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Beschäftigter nach Möglichkeit an ihrem Arbeitsplatz nimmt für Betriebsärzte bei älter werdenden Belegschaften in den Betrieben einen wachsenden Anteil an ihrer Arbeit ein (Hartmann et al. 2014, s. „Weitere Infos“).
Voraussetzungen für eine wissensbasierte Arbeit
Wir sind nicht gut vorbereitet auf die Herausforderung der arbeitsmedizinischen Be-urteilung älterer Beschäftigter und müssen etwas dafür tun: Die Breite der Fragestellun-gen kann nicht allein aus einer Kombination von individuell erworbenen Kenntnissen und der Ergänzung durch ein „Bauch-gefühl“ gelöst werden. Leitlinien könnten unterstützen, wenn sie das vorhandene Wis-sen zusammentragen und Hilfen bei der Ent-scheidung geben. Die durch die DGAUM bei der AWMF publizierten Leitlinien genügen allerdings in ihrer Themenbreite derzeitig dazu nicht annähernd. Es bedarf der wissensbasierten Bearbeitung von Empfehlungen für Vorsorge und Eignung.
Es ist nicht hilfreich, die gegenwärtigen Grundsätze der DGUV für arbeitsmedizinische Untersuchungen in ihrer Ganzheit zu kritisieren, denn es gibt derzeit keine alternativen Hinweise für das Vorgehen bei arbeitsmedizinischer Vorsorge. Wir brauchen einen Konsens über das Vorgehen bei arbeitsmedizinischer Beurteilung, wozu eine an den Belastungen orientierte Systematik für Empfehlungen der Diagnostik und vor allem der Beratung angemessen ist. Arbeitsmedizinische Diagnostik allein hilft nicht, wenn sie nicht mit realistischen Empfehlungen zur Gesunderhaltung, zur Diagnostik oder Therapie oder mit tätigkeitsspezifischen Empfehlungen verbunden ist. Diskussionen in Qualitätszirkeln Arbeitsmedizin oder im ArbMedNet können eine empirische Ergänzung sein, die im Einzelfall durch gut orientierte Kollegen zu den behandelten Themen möglichst das Problem-bewusstsein stärkt und konkrete Fälle vertiefen kann.
Existierende Grundlagen der Beurteilung
Jeder erhobene Befund einschließlich der Selbstangaben des Beschäftigten zum Belastungsempfinden braucht eine Bewertung von Gesundheit und Beanspruchung unter den gegebenen Belastungen am Arbeitsplatz. Wichtige Kriterien sind einerseits der alterstypisch normale Befund bzw. die Abweichungen davon sowie andererseits der Befund in Bezug zur Arbeitsbelastung.
Bei der Audiometrie (Luftleitung) kann das beispielhaft dargestellt werden: Es ist unbestritten, dass sich vor allem das Hochtongehör mit zunehmendem Alter allmäh-lich vermindert und ganze Bereiche des Ge-hörs ausgeblendet werden. Dieser Prozess kann durch Mittelwerte gut und im Prinzip richtig beschrieben werden. Er verläuft jedoch nicht für alle Personen gleich – es gibt Personen mit exzellentem Gehör im fortgeschrittenen Alter und solche mit übermä-ßigem Hochtonverlust. Dabei stellen sich im Einzelfall u. a. folgende Fragen:
- Ist der Befund individuell gegenüber der Gesamtheit der Beschäftigten bzw. gegen-über der gleichen Altersgruppe auffällig?
- Wäre dieser Befund an einem anderen Untersuchungstag hinreichend reprodu-zierbar (reliabel)?
- Welche Prognose ergibt sich daraus für das Hörvermögen, wie wird der weitere Verlauf sein?
Bezogen auf die Arbeitsbelastung bedeutet das aber:
- Gibt es für die ausgeübte Tätigkeit einen anderen weniger belastenden oder schä-digenden Arbeitsplatz?
- Welche Prognose ergibt sich für das Hör-vermögen unter den Bedingungen des Lärm-Arbeitsplatzes?
- Welchen Nutzen hätte ein Schutz vor der Lärmexposition durch Wechsel des Arbeitsplatzes für den Erhalt des Hörvermögens bei diesem Befund?
- Wären damit soziale Einschnitte verbun-den, weil ein Arbeitsplatzwechsel mit er-heblicher Einkommensminderung oder ein Arbeitsplatzverlust ausgelöst würde?
Betrachtet man Erkrankungen mit komple-xer Genese wie Diabetes mellitus, so kommen weitere Aspekte der Prognose wie Art der Therapie, Therapieerfolg und Compliance hinzu.
Auch der Begriff der körperlichen Leistungsfähigkeit sowie deren „Normalwerte“ sind differenziert zu betrachten. Die Arbeits-physiologie der Vergangenheit hatte hier ihre Grenzen: Es wurden Gesunde mittle-ren Alters als „Normalpersonen“ ausgewählt. Dabei hatte man grundlegend richtige Erkenntnisse gewonnen, die jedoch unseren heutigen Anforderungen an die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit im fortgeschrittenen Alter nicht genügen. Selbst differenzierte Felduntersuchungen haben dieses Problem nicht gelöst, wie u. a. das Beispiel „Montage-spezifischer Kraftatlas“ (Wakula et al. 2009) zeigt. Die Variationsbreite zwischen dem 5. und 95. Perzentil für ein Beispiel der maxi-malen statischen Aktionskräfte von Männern beim Ziehen nach oben in gebeugter Rumpfhaltung beträgt 238 N bzw. 830 N, das entspricht einem Unterschied um den Faktor 3,5!
Somit geben uns physiologisch und epidemiologisch begründete Werte zwar Anhaltspunkte zur Beurteilung der Ergebnisse, es sind aber immer die Zusammenhänge zwischen konkreter persönlicher, gesundheitlicher und betrieblicher Situation zu be-trachten.
Forschungsarbeit wäre nötig, um diese Kluft deutlich zu verringern.
Eignung
Zunächst stellt sich die rechtliche Frage nach der gesetzlichen Grundlage und der Rechtfertigung einer Eignungsuntersuchung so-wie der Informationsweitergabe. Davon ist die inhaltliche Fragestellung zu trennen, auf welcher medizinisch-wissenschaftlichen Grundlage diese beurteilt werden soll.
Die betriebsärztlichen Fragestellungen lassen sich wenigstens zwei verschiedenen Konstel-lationen zuordnen:
- a) Gesetzlich vorgegebene Eignungsanfor-derungen z. B. beim Führen von Kraftfahrzeugen, Schienen- und Luftfahrzeugen oder bei Arbeiten nach der DruckluftVO. Hier stehen entweder besondere Gefährdungen für Dritte oder extreme Eigengefährdungen im Vordergrund: Bei diesen medizinischen Untersuchungen wird in Kauf genommen, dass aufgrund rigider Einzelkriterien eine gewisse Anzahl falsch-negativer Entscheidungen getroffen werden, um die Sicherheit z. B. für Flugzeugpassagiere zu gewährleis-ten. Im Bereich der privaten Kfz-Nutzung wird dieses Kriterium deutlich großzü-giger gehandhabt.
Konfliktpotenzial besteht oftmals beim Zusammentreffen von arbeitsbedingten Infektionsgefahren am Arbeitsplatz mit dem öffentlichen Interesse am Infektionsschutz z. B. im Krankenhaus.
- b) Der Wunsch von Arbeitgebern nach Eignungsuntersuchungen kann im Einzelfall verständlich sein. Er ist mitunter mit dem Ziel einer Auflösung des Arbeitsvertrages aus medizinischen Gründen verbunden. Allerdings ist es nicht die Aufgabe des Betriebsarztes, nach formalen Gründen für eine Entlassung zu suchen, sondern die vorhandenen Ressourcen des Beschäftigten im Rahmen seiner Möglichkeiten zu fördern und Lösungen zu finden. Eine Minderleistung als Kündigungsgrund kann nicht durch medizinische Befunde, sondern nur am Arbeitslatz selbst durch das Unternehmen festgestellt werden.
Daher wären auch besondere Eignungsuntersuchungen für Ältere sowohl wegen des sozialen Auftrags als auch wegen begrenzter betrieblicher Möglichkeiten wenig hilfreich. Wichtig ist es, rechtzeitig beginnend das Konzept der Vorsorge mit steigendem Alter und abhängig vom individuellen Gesundheitszustand fle-xibel zu handhaben. Dazu können Bera-tungen im Rahmen der Vorsorge förder-lich sein: sowohl zum Erhalt des Arbeits-platzes als auch zur rechtzeitigen vertikalen oder horizontalen Umorientierung in der Erwerbstätigkeit (Zec u. Zieschang 2015).
Vorsorge
Sowohl die arbeitsmedizinische Vorsorge nach der Arbeitsmedizinischen Vorsorge-verordnung (ArbMedVV) als auch die nun für Betriebsärzte möglichen allgemeinen Gesundheitsuntersuchungen nach dem Prä-ventionsgesetz (§ 132f) haben auch bei Gesundheitsrisiken keine Pflichten für den Be-triebsarzt durch gesetzlich regulierte Genehmigungen zur Folge und sie können dem-zufolge nicht zu Ausnahmeregelungen füh-ren. Die ArbMedVV 2014 hat durch den Weg-fall der Angabe eines Untersuchungsergebnisses („gesundheitliche Bedenken“) auf der betriebsärztlichen Bescheinigung für den Arbeitgeber eher zu Irritationen wegen scheinbarer Unverbindlichkeit der arbeits-medizinischen Vorsorge geführt. Das Recht der informationellen Selbstbestimmung der Beschäftigten stärkt ja gerade den Spielraum, um bei gesundheitlichen Problemen eine der Person gemäße Lösung unter Kenntnis der Arbeitssituation und der ergonomischen Möglichkeiten im Betrieb sowie der geplanten betrieblichen Entwicklung zu finden. In diesem Sinne beraten Betriebsärzte vor allem über die künftigen gesundheitlichen Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit.
Diese Situation ist für die meisten Betriebsärzte nicht neu: Erfahrungen aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge in der Bauwirtschaft haben gezeigt, dass auch bei der früher noch möglichen Angabe gesundheit-licher Bedenken diese lediglich bei ca. 0,6 % der damals Untersuchten befristet sowie bei 0,2 % dauerhaft ausgesprochen worden waren. Im Vordergrund standen damals „keine Bedenken unter bestimmten Voraussetzungen“ bei ca. 11 % der Untersuchten, was mit einem Beratungsgespräch zur Erhaltung oder Förderung der Gesundheit verbunden war bzw. mit Empfehlungen an den Betrieb.
Kurz gesagt: Bei arbeitsmedizinischer Vorsorge sind „Ausnahmegenehmigungen“ nicht vorgesehen und es gibt auch hier diesen Rechtsbegriff nicht.
Wir brauchen für die Beurteilung der Be-schäftigungsfähigkeit Informationen über Arbeitssituationen, Gefährdungen, Belastungen, Angaben des Betroffenen über ihn belastende Situationen, konkrete Gesundheitsbeeinträchtigungen, Erfahrungen usw.
Rahmenbedingungen betriebs-ärztlicher Tätigkeit
Die Erfüllung des Vorsatzes, zur Beschäftigungsfähigkeit beizutragen, ist in der Regel mit dem Ziel verknüpft, bei vermuteten oder sicheren Beeinträchtigungen die Gesundheit von Beschäftigten in kurzen zeitlichen Abständen zu überwachen. Das ist zwar im gesetzlichen Rahmen zulässig, kann aber bei kleineren Unternehmen und dezentraler Organisationsstruktur zu Problemen führen, die diese Umsetzung einschränken. Die Betreuung von kleinen und mittleren Unternehmen mit geringen zeitlichen Betreuungsumfängen und insbesondere die sog. bedarfsgerechte alternative Betreuung erschweren die individuelle Begleitung oder machen sie unmöglich. Grundsätzlich gilt aber auch hier, dass
- Beschäftigte selbst im Rahmen einer sog. Wunschvorsorge nach der ArbMedVV den Zugang zum Betriebsarzt herstellen können oder
- bei Arbeitsunfähigkeit > 6 Wochen in den letzten 12 Monaten oder nach langzeitiger Erkrankung durch das Wiedereingliederungsmanagement unter Mitwirkung des Betriebsarztes Brücken gebaut werden können.
Damit können prinzipiell Begleitungen des Arbeitseinsatzes und Prüfungen von Empfehlungen zur Arbeitsgestaltung erfolgen.
Zusammenfassung
Der Betriebsarzt hat einen großen Handlungsspielraum der Beratung und ist nur in sehr begrenztem Umfang bei spezifischen Fragestellungen an enge gesetzliche Regeln zur Einschränkung des Arbeitseinsatzes gebunden.
Der Betriebsarzt braucht für seine qualifizierte Beratungstätigkeit
- 1.Leitlinien unter Berücksichtigung von Altersveränderungen und differenzierten Befundkonstellationen (z. B. verschiedene Formen von Anfallsleiden, Diabe-tes mellitus etc.),
- 2.Erfahrungen, um verschiedene Befunde und Diagnosen zusammenzuführen und Bewährungssituationen unter Belastung beurteilen zu können,
- 3.zuverlässige Arbeitsplatzinformationen, um Zusammenhänge zur Arbeitsfähigkeit bewerten zu können und
- 4.Möglichkeiten zur Beratung für Verände-rung am Arbeitsplatz: In der Regel sind keine speziellen Altersarbeitsplätze oder Ausnahmeregelungen für ältere Beschäf-tigte erforderlich, sondern ergonomisch gut gestaltete Arbeit und Arbeitsplätze für Beschäftigte aller Altersgruppen.
Es bedarf dafür hinreichender betriebsärztlicher Kapazität, die derzeit nicht in allen Fällen zur Verfügung steht. Dennoch ergibt sich daraus eine Konsequenz: Es ist wenig sinnvoll, diese Problematik auf einen „Ersatz“-Betriebsarzt mit kleiner Fachkunde zu übertragen, der von seiner klinischen Haupttätigkeit geprägt wird. Wir brauchen Kompetenz und Werkzeuge für eine gute arbeitsmedizinische Praxis, aber keine formale Pflichterfüllung!
Insbesondere brauchen wir eine wachsende gesellschaftliche Motivation zur Arbeit mit 60+, wobei eine differenzierte Betrachtung abhängig von der individuellen Lebenssituation, von Gesundheit und von konkreten Bedingungen der Arbeit erfolgen muss.
Weitere Infos
Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention (Präventions-gesetz – PrävG). Bundes-gesetzblatt Teil I Nr. 31 vom 24. 07. 2015
www.nakos.de/data/Andere/2015/PraevG-Bundesgesetzblatt.pdf
Hartmann H et al.: Be-schäftigungsfähigkeit im demografischen Wandel. Ein Leitfaden für Betriebs-ärzte und die Verantwort-lichen im Unternehmen. 2014
www.vdbw.de/fileadmin/01-Redaktion/02-Verband/02-PDF/Leitfaden/Leitfaden_Demografie.pdf
Verordnung zur arbeits-medizinischen Vorsorge vom 18. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2768), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 23. Oktober 2013 (BGBl. I S. 3882) (ArbMedVV)
www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/arbmedvv/gesamt.pdf
Wakula J et al.: Der Montagespezifische Kraftatlas. BGIA-Report 3/2009
publikationen.dguv.de/dguv/pdf/10002/rep03_09.pdf
Zec S, Zieschang H: Wegweiser Berufsumstieg. Gesund bis zur Rente durch einen frühzeitigen Berufswechsel. IAG-Report 2/2015. DGUV, Berlin
Für die Autoren
Prof. Dr. med. Bernd Hartmann
Steinbeker Grenzdamm 30 d
22115 Hamburg