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Betriebsnahe integrierte Versorgung

Einleitung

Psychische Erkrankungen gehen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit und langen krankheitsbedingten Fehlzeiten einher (Büttmann et al. 2006; Bandura et al. 2012). Für die Arbeitsnehmer und Betriebe, aber auch für die Kostenträger der Versorgungsleistungen stellen sie eine erhebliche Belastung dar.

Nur wenige Patienten mit psychischen Störungen nehmen fachpsychiatrische Hilfen in Anspruch (Gaebel et al. 2011). Begrenzte Verfügbarkeit niedergelassener Fachärzte und Psychotherapeuten, lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz, Kommunikationshemmnisse an den Übergängen fachärztlicher Bereiche führen oft zu einer Unter- oder Fehlversorgung. Die Schnittstellenproblematik zwischen den unterschiedlichen Akteuren des Gesundheitssystems tritt sowohl bei der Behandlungseinleitung als auch bei der beruflichen Wiedereingliederung im Rahmen der Genesung auf.

Aus diesem Grunde wurde ein betriebsnahes Versorgungsnetzwerk (BVN) mit einer strukturierten Kooperation zwischen einem Betrieb und psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsanbietern in Düsseldorf ins Leben gerufen. Ziel des Projekts ist, die Behandlung von psychisch erkrankten Beschäftigten zu optimieren.

Konzept und Setting

Der Vertrag zwischen dem betriebsärztlichen Dienst eines großen Industrieunternehmens, der Betriebskrankenkasse, bei der ca. 50 % der Beschäftigten des Betriebes versichert sind, dem LVR-Klinikum Düsseldorf und einer niedergelassenen psychotherapeutischen Praxis wurde auf Basis der Integrierten Versorgung nach § 140 SGB V geschlossen. Alle Leistungen werden von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen. Die Behandlung unterliegt, wie in der Regelversorgung, der Kontrolle durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK); es wurden keine Rabattverträge oder sonstige Verträge mit dritten (Pharmaunternehmen o. Ä.) abgeschlossen. Die Inanspruchnahme dieses Angebots ist für die Mitarbeiter des Betriebs freiwillig.

Sobald sich Anzeichen für eine psychische Störung eines Betriebsangehörigen ergeben, werden die weiteren Schritte strukturiert eingeleitet ( Abb. 1).

Schritt I: Früherkennung, vorläufige Diagnostik, Zuweisung auf kooperierende Stelle

Bei Verdacht auf eine psychische Störung bittet der Betriebsarzt den betroffenen Mitarbeiter um ein Gespräch und führt dabei die Erstdiagnostik durch. Neben der ärztlich klinischen Diagnostik werden Selbstbeurteilungsfragebögen zu Depression und Angststörungen angewendet. Der Mitarbeiter wird über das Behandlungsangebot informiert. Bei vorliegendem Einverständnis wird der betroffene Mitarbeiter für die weitere Diagnostik und ggf. Einleitung der Therapie an die kooperierende (1) Psychiatrisch-Psychotherapeutische Institutsambulanz (PIA) des LVR-Klinikums Düsseldorf oder (2) die psychotherapeutische Praxis weitergeleitet.

Schritt II: Lotsengespräch zur weiteren Diagnostik und Therapieeinleitung

Innerhalb von acht bis zehn Tagen wird ein Erstgespräch mit einem ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten in der PIA bzw. der Praxis realisiert. Hier werden Diagnostik und weitere therapeutische Schritte initiiert.

Schritt III: Intervention

Je nach Diagnose und Schwere der Erkrankung wird dann eine ambulante, teilstationäre oder stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung eingeleitet. Dabei wird in Zusammenarbeit mit psychologischen Psychotherapeuten, Psychiatern, Sozialdienst und ggf. Betriebsarzt ein sektorenübergreifendes Monitoring des Therapieverlaufs initiiert. Regelmäßige, therapeutisch begleitete Kontakte zum Arbeitsumfeld stehen hierbei im Mittelpunkt.

Schritt IV: Unterstützung bei Beantragung von Medizinischer Rehabilitation

Über den Integrierten Versorgungsvertrag hinaus besteht die Möglichkeit, betroffene Mitarbeiter im Bedarfsfall einer Rehabilitation zur Vorbereitung der Rückkehr an den Arbeitsplatz zuzuführen.

Schritt V: Begleitung bei der Rückkehr zur Arbeit

Es besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen PIA, Betriebsärzten und Sozialarbeitern bei der Vorbereitung und Unterstützung der Rückkehr zur Arbeit. Zusammen mit allen Beteiligten werden in jedem konkreten Fall berufliche Risiken evaluiert und ggf. ein stufenweiser Wiedereingliederungsplan erstellt. Durch die medizinische Versorgungseinrichtung wird die psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung innerhalb des Wiedereingliederungsprozesses sowie eine ambulante Verlaufs- und Erfolgskontrolle realisiert.

Erste Erfahrungen des LVR-Klinikums Düsseldorf

Zwischen 2011 und 2014 wurden 72 Mitarbeiter nach Kontakt mit dem Werksärztlichen Dienst der Firma der Psychiatrischen Institutsambulanz des LVR-Klinikums Düsseldorf zum Erstgespräch zugewiesen. Herunter waren 54,2 % Männer, das Durchschnittsalter lag bei 46,1 Jahren (SD=8,4). Der Anteil an Angestellten (48 %) und Arbeitern (52 %) war in etwa ausgeglichen.

Bei 90 % der Patienten wurde im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung eine (rezidivierende) depressive Störung nach ICD-10 (F32/33) diagnostiziert, bei 65 % der Patienten mit einer schweren Ausprägung.

Bei 83,3 % der Betroffenen bestand die Symptomatik bereits länger als drei Monate vor der Vorstellung im Rahmen der IGV. Dabei war die Mehrzahl der Personen (58,4 %) bisher nicht mit der Regelversorgung in Kontakt gekommen. Bei 16,6 % der Patienten wurde bereits durch den Hausarzt eine Pharmakotherapie mit Antidepressiva, Tranquilizer und/ oder Hypnotika eingeleitet; 25 % der Patienten wurden in der Vergangenheit psychiatrisch oder psychotherapeutisch, zum Teil nur sporadisch, behandelt.

Inanspruchnahme der Versorgungsleistungen

Alle der PIA des LVR-Klinikums Düsseldorf zugewiesenen Patienten nahmen eine ambulante psychotherapeutische Therapie (Fachrichtung Verhaltenstherapie) in Anspruch. Bei über der Hälfte der zugewiesenen Patienten (54,2 %) war eine tagesklinische psychiatrische Behandlung notwendig, die im Mittel 57,6 Tage dauerte (SD = 30,7). Bei 13,9 % war eine vollstationäre psychiatrische Behandlung erforderlich – mit einer mittleren Dauer von ca. sieben Wochen (SD = 58,4 Tage). Im Durchschnitt wurden pro Patient 30,5 (SD = 19,8) ambulante psychotherapeutische Sitzungen wahrgenommen. Die meisten Patienten (51,4 %) erhielten zwischen 26 und 45 ambulante psychotherapeutische Sitzungen.

Diskussion der Ergebnisse

Anhand der Erfahrungen mit dem Düsseldorfer Projekt lässt sich ableiten, dass sich für psychisch kranke Mitarbeiter in Betrieben wohlmöglich bessere Zugangswege eröffnen lassen als die bislang existierenden Strukturen in der Regelversorgung. So zeigt sich, dass ein höherer Anteil männlicher Patienten und ein höherer Anteil von Patienten mit einem geringerem sozialen Status eine Behandlung wahrnehmen.

Trotz längerer Persistenz der Erkrankung und Einschränkungen durch die bestehende Symptomatik hatte die Mehrheit der Personen den Zugang zur Regelversorgung bisher nicht gefunden. Aber auch bei den Personen, bei denen bereits im Vorfeld Kontakte zur Regelversorgung erfolgt waren, bestanden zumeist zum Zeitpunkt der Erstvorstellung keine adäquaten therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten. Zum Teil wurden Patienten über eine längere Zeit durch Hausärzte behandelt. Die Vorkontakte mit Psychiatern oder Psychotherapeuten beschränkten sich oft auf sporadische Einzelkontakte und Notfallvorstellungen. In einigen Fällen erwies sich die ambulante Behandlung für die vorhandene Schwere der Erkrankung als nicht ausreichend.

Die Implementierung dieses Versorgungsmodells hat gezeigt, dass die strukturierte Zusammenarbeit zwischen psychiatrischer Regelversorgung und Werksärztlichem Dienst zu einer Optimierung der Behandlung psychischer Störungen auf Grundlage eines Vertrags zur Integrierten Versorgung realisierbar ist. Niederschwelligkeit der Angebote, verkürzte Wartezeiten und gute Akzeptanz zeichnen sich bereits ab.

International gibt es erste empirische Belege für die Wirksamkeit eines multimodalen Vorgehens unter Einbezug arbeitsbezogener Faktoren (z. B. Oostrom et al. 2009; van der Feltz-Cornelis et al. 2010; Vlasveld et al. 2012). Für Deutschland liegen bisher nur wenige Ergebnisse zu strukturierten Kooperationen zwischen einem Unternehmen und einer psychiatrischen Versorgungsinstitution vor, die ausschließlich auf Erfahrungen mit Psychosomatischen Sprechstunden im Betrieb basieren (Rothermund et al. 2014).

Konsequenzen für Klinik und Praxis

Betriebliche Strukturen sind ein gut geeignetes Setting zur Erkennung psychischer Beeinträchtigungen. Auch im Rahmen der Rückkehr zur Arbeit kommt Betriebsärzten und weiteren betrieblichen Akteuren eine besondere Rolle zu. Ein sektorenübergreifendes Versorgungsnetzwerk, das eng an betriebliche Strukturen und Prozesse anknüpft und diese unterstützt, kann eine rechtzeitige, vollständige und nachhaltige Behandlung von Beschäftigten mit psychischen Erkrankungen ermöglichen.

Betriebliche Versorgungsnetzwerke können niederschwellige und schnelle Zugangswege zur Regelversorgung für die Betroffenen mit psychischen Störungen unterstützen. Sie können so zu verkürzten Krankheitsverläufen, zum längerem Erhalt der Arbeitsfähigkeit bzw. zur schnelleren Rückkehr zur Arbeit, zur Vorbeugung von Chronizität und dadurch möglichen Reduktion von direkten und indirekten Kosten beitragen. Eine abschließende Beurteilung der Wirksamkeit der sektorenübergreifenden betriebsnahen medizinischen Versorgung psychisch erkrankter Beschäftigter ist jedoch erst möglich, wenn empirisch gesicherte Belege für die Wirksamkeit vorliegen.

Literatur

Badura B, Ducki A, Schröder H, Klose J, Meyer M: Fehlzeitenreport. Berlin: Springer, 2012.

Bültmann U, Rugulies R, Lund T, Christensen KB, Labriola M, Burr H: Depressive symptoms and the risk of long-term sickness absence: a prospective study among 4747 employees in Denmark. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2006; 41: 875–880.

Gaebel W, Zielasek J, Kowitz S: Patienten mit psychischen Störungen – Oft am Spezialisten vorbei. Dtsch Ärztebl 2011; 108: A1476–1478.

Rothermund E, Gündel H, Kilian R, Hölzer M, Reiter B, Mauss D, Rieger MA, Müller-Nübling J, Wörner A, von Wietersheim J, Beschoner P: Behandlung psychosomatischer Beschwerden im Arbeitskontext – Konzept und erste Daten. Z Psychosom Med Psychother 2014; 60: 177–189.

Van der Feltz-Cornelis CM, Hoedeman R, de Jong FJ, Meeuwissen JA, Drewes HW, van der Laan NC, Adèr HJ: Faster return to work after psychiatric consultation for sicklisted employees with common mental disorders compared to care as usual. A randomized clinical trial. Neuropsychiatr Dis Treat 2010; 6: 375–385.

Van Oostrom SH, van Mechelen W, Terluin B, de Vet HC, Knol DL, Anema JR: A participatory workplace intervention for employees with distress and lost time: a feasibility evaluation within a randomized controlled trial. J Occup Rehabil 2009; 19: 212–222.

Vlasveld, MC, van der Feltz-Cornelis CM, Adèr HJ, Anema R, Hoedeman R, van Mechelen W, Beekman ATF: Collaborative care for major depressive disorder in an occupational healthcare setting. Br J Psychiatr 2012; 200: 510–511.

    Für die Autorinnen

    Zentrum für affektive Erkrankungen

    LVR-Klinikum Düsseldorf

    Bergische Landstr. 2

    40629 Düsseldorf

    birgit.janssen@lvr.de

    Koautorin

    Dr. med. Natalia Wege ist Mitarbeiterin am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin des Universitätsklinikums Düsseldorf

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