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Die Bedeutung der betriebsärztlichen Nachsorge

Belastende Ereignisse im Fahrdienst

Kasuistik

Bernhard K. ist seit 1990 in einem Verkehrsbetrieb als Straßenbahnfahrer beschäftigt. Ab Januar 2012 kommt es zu rezidivierenden Blutdruckentgleisungen und thorakalem Druckgefühl. Später treten zusätzlich auch Panikattacken auf. Eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme im März 2013 wegen rezidivierender Blutdruckentgleisungen und schlecht einstellbarem Hypertonus verläuft ohne Erfolg. Kurz danach wird er als betrieblicher Erstbetreuer alarmiert. Er soll einen Straßenbahnfahrer betreuen, der in einen Unfall mit Personenschaden verwickelt ist. Seither kommt es bei ihm zum Wieder-erleben eigener früherer Unfälle, die sich zwischen 1997 und 2007 ereigneten. Bei Un-fällen in den Jahren 1997, 1998 und 1999 wurden die Unfallfahrzeuge erheblich defor-miert. Es kam zu großen Trümmerfeldern. Die Fahrer blieben leicht bis mittelschwer verletzt. Im Jahr 2000 wurde eine junge Frau mit Kind trotz Gefahrenbremsung von einer Straßenbahn erfasst. Die Schwere der Verletzungen ist ihm nicht bekannt. Im Jahr 2007 wurde bei einer Gefahrenbremsung eine hochschwangere Frau durch den Zug geschleudert. Sie wurde vom Rettungsdienst in die Klinik transportiert. Es blieb unklar, ob Folgeschäden für Mutter oder Kind zurück-geblieben sind.

Das Wiedererleben der eigenen Unfälle ist verbunden mit Panikattacken und vegeta-tiven Begleitsymptomen. Im Mai 2013 begibt sich Bernhard K. in eine stationäre psychotherapeutische Behandlung. Die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD F 43.1), einer Panikstörung (ICD 41.0) und einer mittelgradig depressiven Episode mit somatischem Syndrom (ICD F 32.11) wird gestellt. Er wird mit einer antidepressiven Medikation, Verhaltenstherapie, Psychoedu-kation und kognitiver Therapie behandelt. Hierunter kommt es zunächst zur Stabilisie-rung. Im Juni 2013 wird Bernhard K. über das Wochenende aus der stationären Therapie beurlaubt. Auf dem Rückweg in die Klinik gerät er als Fahrer seines Pkw in einen Stau. Im Stau stehend wird er unmittelbarer Zeuge eines Straßenbahnunfalls, bei dem eine Person unter den Triebwagen gerät. Er beobachtet die Rettungsmaßnahmen aus unmittelbarer Nähe. Es gelingt den Rettungs-kräften nicht, eine Verblendung der Straßen-bahn zu entfernen und sich so Zugang zum Unfallopfer zu verschaffen. Nach diesem Er-eignis verschlechtert sich sein Gesundheitszustand erheblich.

Aufgrund der dramatischen Verschlechterung der Posttraumatischen Belastungsstörung und der Prognose der behandelnden Ärztin stellt der Betriebsarzt eine dauerhafte Fahrdienstuntauglichkeit fest. Eine innerbetriebliche Umsetzung auf eine Stelle als Sachbearbeiter wird geplant. Diese Tätigkeit entspricht auch seinem erlernten Beruf als Verwaltungsfachangestellter. Von Juni bis September 2013 erfolgt die stufenweise Wiedereingliederung in der neuen Tätigkeit. Die Belastbarkeit konnte während der über dreimonatigen Wiedereingliederung auf maximal drei bis vier Stunden täglich gesteigert werden. Ein Antrag auf Teilerwerbsminderungsrente wurde gestellt. Die Tätigkeit als Sachbearbeiter in einem Umfang von drei bis vier Stunden täglich stellen für Bernhard K. die Belastungsgrenze dar. Es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren. Auf-merksamkeit und Merkfähigkeit verbessern sich nur zögerlich. Das Leistungsvermögen entspricht auch mehrere Monate nach der Umsetzung noch nicht den Erwartungen der Führungskraft. Es ist daher fraglich, ob diese Tätigkeit dauerhaft ausgeübt werden kann.

Ein Antrag von Bernhard K. beim Unfall-versicherungsträger auf Anerkennung der Posttraumatischen Belastungsstörung als Folge mehrerer Psychotraumata wird abgelehnt. Die Ablehnung begründet sich unter anderem auf die mangelhafte Dokumenta-tion und fehlende Meldung der Unfallereignisse in den Jahren 2001 und 2007 sowie auf die fehlende Dokumentation der Unfälle in den Jahren 1997, 1998, 1999 und 2000. Bernhard K. zitiert seine damalige Führungskraft mit den Worten: „Wenn Du damit nicht zu-rechtkommst, bist Du falsch im Job“. Aufgrund dieser Haltung seiner Führungskraft hatte sich Bernhard K. damals nicht beim betriebsärztlichen Dienst vorgestellt. Die Unfallereignisse wurden nicht als Arbeitsunfall dokumentiert. Ein Widerspruch gegen die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers bleibt erfolglos. Daher entschließt Bernhard K. sich zu einer Klage vor dem Sozialgericht.

Aufgrund des Wegfalls von Schichtzula-gen und einer zu erwartenden Teilerwerbsminderungsrente von maximal € 450 brutto monatlich kommt es zu erheblichen finanziellen Einbußen. Die Gefahr einer vollen Erwerbsminderungsrente wird von Bernhard K. als existentiell bedrohlich eingestuft. Stärker als die wirtschaftlichen Sorgen belastet Bernhard K. die Erfahrung, „durch alle Maschen des Systems gefallen zu sein.“

Schlussfolgerungen

Die Ablehnung der Anerkennung einer PTBS als Folge einer Kumulation mehrerer Unfälle wird vom betroffenen Mitarbeiter als sehr ungerecht empfunden. Sein Leidensdruck ist hoch. Die Diagnose einer PTBS wurde von einer anerkannten und erfahrenen Traumatherapeutin gestellt. Eine leitliniengerechte Therapie zeigte zunächst bis zu einer erneuten Traumatisierung während der laufenden Therapie gute Erfolge. In der Anamnese er-geben sich zwar Hinweise auf biografische Risikofaktoren und eine persönliche Disposition, aber keine Anhaltspunkte für außer-berufliche Traumata als Ursache der PTBS. Frommberger weist jedoch darauf hin, dass in psychiatrischen Klassifikationen der Begriff der PTBS sehr eng gefasst wird und hier-unter nur potenziell lebensbedrohliche oder mit schweren Verletzungen einhergehende Ereignisse verstanden werden (Frommber-ger et al. 2014). Das Bundessozialgericht stellte ebenfalls bereits in seinem Urteil vom 09. 05. 2006 fest, dass „zur Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme (ICD-10; DSM IV) erforderlich ist“ (Bundessozialgericht 2006). Gemäß ICD-10 muss ein Ereignis katastrophalen Ausmaßes vorgelegen haben, das bei fast jedem ein Gefühl tiefer Verzweiflung auslösen würde (ICD-10-GM 2014). Der DSM-IV setzt als A-Kriterium die Konfrontation mit tatsäch-lichem oder drohendem Tod oder mit ernsthafter Verletzung oder Gefahr für die körper-liche Unversehrtheit voraus (Dörpinghaus et al. 2004). Diese Bedingungen sind im vor-liegenden Fall unstrittig nicht erfüllt, da stets leichte bis allenfalls mittelschwere Verlet-zungen aufgetreten sind. Ebenso unstrittig bestehen aber auch ein erheblicher Leidens-druck und eine massive Einschränkung der Belastbarkeit mit zumindest teilweiser Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die Beobachtung massiver Zerstörung und ausgedehnter Trümmerfelder begründet allerdings zumin-dest eine durch dienstliche Unfallereignisse begründete Anpassungsstörung (ICD-10: F 43.2).

Doch auch für die Anerkennung einer Anpassungsstörung in Folge dienstlicher Unfälle wären diese zu beweisen. Die Be-weisführung wird erschwert durch die nicht mehr vorhandene Dokumentation der Unfälle in der Unfallabteilung und durch die fehlende Dokumentation in der betriebsärztlichen Akte. Eine Vorstellung in der be-triebsärztlichen Abteilung unterblieb insbesondere aufgrund der bagatellisierenden Haltung der Führungskraft. Die Kasuistik veranschaulicht die herausragende Bedeu-tung einer systematischen Schulung aller betrieblichen Führungskräfte. Insbesondere den Verkehrsmeistern, Einsatzleitern und Gruppenleitern müssen klare Algorithmen zum Vorgehen nach belastenden Ereignis-sen vermittelt werden. Diese Algorithmen müssen zwischen Unfällen mit Personenschaden, Übergriffen auf Mitarbeiter und Beobachtern dieser Ereignisse differenzie-ren. Die Schwelle zur Vorstellung des Mitarbeiters beim Betriebsarzt und zur Dokumentation in einer zentralen Datenbank belastender Ereignisse muss, ggf. anhand von Beispielen, klar definiert werden. Der Fall zeigt außerdem die Sinnhaftigkeit einer betriebsarztgesteuerten Nachsorge. Durch eine systematische und im Idealfall auch be-triebsübergreifend einheitliche Nachsorge mit Erhebung von Risiko-Scores zu definier-ten Zeitpunkten würde eine mögliche spä-tere Gutachtenerstellung deutlich erleichtert. Die Zusammenführung psychiatrischer und psychologischer Befundberichte durch den Betriebsarzt in Verbindung mit eigenen Verlaufsbeobachtungen über längere Zeiträume und der Dokumentation unfall-versicherungsrechtlich relevanter Eckdaten sichert eine adäquate Datengrundlage für spätere gutachtliche Stellungnahmen. Darüber hinaus bestehen inakzeptabel lange Wartezeiten für den Zugang zu qualifizierter psychologischer Therapie. Die Steuerung der Nachsorge durch betriebsärztliche Dienste beschleunigt spürbar die Vermittlung in geeignete Therapien.

Durch Sensibilisierung und Schulung der betrieblichen Führungskräfte und eine Optimierung und idealerweise auch konse-quente Vereinheitlichung der betriebsärztlich gesteuerten Nachsorge kann den Betroffenen zumindest das Gefühl erspart werden, „durch alle Maschen des Systems“ gefallen zu sein. 

Literatur

Bundessozialgericht, Urteil vom 09. 05. 2006, B 2 U 1/05 R.

Dörpinghaus A: Diagnostik in der klinischen Psycho-logie – DSM IV und ICD 10. München: GRIN, 2004.

Frommberger U, Angenendt J., Berger M: Post-traumatic stress disorder – a diagnostic and therapeutic challenge, Dtsch Ärztebl Int 2014; 111: 59–65.

    Weitere Infos

    Autor

    Dr. med. Hans-Georg Hopf

    Centrum für Arbeitsmedizin der N-ERGIE Aktiengesellschaft

    Gostenhofer Schulgasse 28

    90443 Nürnberg

    hans-georg.hopf@n-ergie.de

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