Die Uhr tickt. In Zeiten des demografischen Wandels können wir uns den RONI nicht mehr leisten. Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 65-Jährigen lag im Jahr 2014 bereits bei 65,6 % (Nöllenheidt u. Brenscheidt 2016; s. „Weitere Infos). Im Alter nehmen chronische Erkrankungen und Lebenskrisen zu. Pro Mitarbeiter wurden im Schnitt aller Branchen 17,4 Krankheitstage verzeichnet. Im Zuge des IGA-Barometer 2013 antworteten nur ca. 50 % der befragten Erwerbstätigen, dass sie sich vorstellen können, ihre heutige Tätigkeit bis zum 65. bzw. 67. Lebensjahr auszuüben. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter (Alters- und Erwerbsminderungsrentner) lag im Jahr 2015 bei 61,9 Jahren (Deutsche Rentenversicherung Bund 2016; s. „Weitere Infos“). Dabei sind die psychischen Erkrankungen die Achillesferse der betrieblichen Leistungserbringung. Zum einen wegen der direkten Entgeltfortzahlungskosten, zum anderen wegen der Bedeutung einer gesunden Psyche in einer wissensbasierten und auf sozialen Interaktion ausgerichteten Dienstleistungswirtschaft. Der krankheitsbedingte Ausfall eines Mitarbeiters aufgrund psychischer Belastung führt zu einem Produktionsausfall von ca. 1010,– Euro und einem Verlust der Bruttowertschöpfung von ca. 1764,– Euro bei durchschnittlich 10,2 Tagen.
Welchen Beitrag ein BGM zur Risikominimierung leisten kann, hängt weniger vom eingesetzten Kapital, sondern vielmehr vom Selbstverständnis, vom Konzept und von der Strategie ab. Die folgenden Ausführungen beschreiben, welche betrieblichen Ressourcen einzusetzen sind, damit ROI zur Wirkung kommt.
Frei nach dem Pareto-Prinzip gilt es die besagten 20 % zu identifizieren, die uns 80 % Wirkung im BGM sichern. Effizienter Ressourceneinsatz gelingt, wenn folgende strategischen Prämissen Berücksichtigung finden:
- Zielorientierung
- Gemeinsame Werte
- Führung und Netzwerkorientierung
- Verhaltens- und Verhältnisprävention
- Lernen im Sinne kontinuierlicher Verbesserung
Betriebliche Gesundheitsförderung lohnt sich. Darauf verweist die Initiative Gesundheit und Arbeit (iga), die für ihren neuen Report rund 2400 Studien ausgewertet hat. Demnach können Unternehmen mit jedem Euro, den sie in die Gesunderhaltung der Belegschaft investieren, im Ergebnis 2,70 Euro durch reduzierte Fehlzeiten einsparen. Die Höhe des Kosten-Nutzen-Effekts des BGM ist von verschiedenen Faktoren abhängig, liegt aber in der Regel zwischen 1 : 2 und 1 : 6, das Mittel liegt bei 1 : 4.
Erfolgsfaktor Zielorientierung – Wirtschaftlichkeit und Gesundheit strategisch zusammengeführt
Bernhard Badura liefert mit seinem Werk „Sozialkapital – Grundlagen von Gesundheit und Unternehmenserfolg“ wissenschaftliche Belege dafür, dass Wirtschaftlichkeit und Gesundheit zwei Seiten ein und derselben Medaille sind (Badura et al. 2013). Das bedeutet konkret, dass alles das, was der Gesundheit förderlich ist, auch gleichzeitig die Wirtschaftlichkeit bedient und umgekehrt. Auch die Resilienzforschung zeigt auf, dass die Schlüssel einer guten Widerstandsfähigkeit auf Individuen und Organisationen gleichermaßen übertragbar sind. Gelingende Gesundheit und Wirtschaftlichkeit sind gleichermaßen Lern- und Anpassungsprozesse. Ein wirksames BGM sollte keinem Selbstzweck dienen, sondern Antworten darauf finden, wie es gelingen kann, die betrieblichen Ziele bei bester Gesundheit zu erreichen.
Ein BGM flankiert ebenso wie das Qualitätsmanagement, das Energiemanagement, das Risikomanagement oder das Umweltmanagement die eigentliche betriebliche Leistungserbringung. Solch ein integriertes Managementsystem fragt: „Wenn wir dies und das erreichen wollen, welchen Beitrag muss BGM leisten, damit es gelingt?“
Demzufolge wird ein hochspezialisiertes Familienunternehmen, das Feinmechanik-Werkzeuge im Sauerland herstellt, ganz andere strategische BGM-Ziele formulieren als der deutsche Standort eines amerikanischen Pharmakonzerns im Ruhrgebiet oder das Pfälzer Abfallunternehmen in öffentlicher Trägerschaft. Das muss so sein, weil all diese Unternehmen von jeweils spezifischen Demografierisiken tangiert sind. Sie finden bestimmte, regionale Standortfaktoren vor und haben branchenspezifische Herausforderungen zu bewältigen. Bei dem einen steht der Fachkräftemangel auf Platz 1 der Hitliste der Engpässe, bei dem anderen die Risiken alterskritischer Tätigkeiten im Schichtbetrieb, beim nächsten schmerzhafte Einschnitte durch Personalabbau. BGM-Ziele sind SMART, also spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert. Wenn sich Gesundheitsziele und Wirtschaftsziele wechselseitig fördern, können die Hürden nur im Schulterschluss von Mitarbeitern und Betrieb genommen werden. Idealerweise auf der Basis eines gemeinsamen Win-Win-Verständnisses mit klar messbaren Zielerreichungskriterien.
Erfolgsfaktor Werte und ein gemeinsames Verständnis von Gesundheit – Vom Arbeitsfähigkeitsmanagement zum ganzheitlichen Gesundheitsmanagement
Bekannt ist, dass Anwesenheit bei der Arbeit und Gesundheit zwei unterschiedliche Kriterien sind. Ob Mitarbeiter bei mehr oder weniger guter Gesundheit lieber arbeiten als zuhause zu bleiben, begründet sich selten in einer bestimmten Diagnose. Es sind häufig die Begleitumstände einer privaten Situation oder Ambivalenzen des psychologischen Arbeitsvertrages, die das Fass buchstäblich zum Überlaufen bringen. Die Gesundheitswissenschaften haben belegt, dass das Betriebsklima und die im Unternehmen gelebten Werte die Krankenquote wesentlich beeinflussen.
Aus der Perspektive des Betrieblichen Gesundheitsmanagers ist nicht die Senkung der Abwesenheitsquote das Primärziel, sondern die Steigerung und der Erhalt der Arbeitsbewältigungsfähigkeit. Einem Mitarbeiter, dem das Wochenende kaum zur Erholung reicht und der es leidlich schafft, seinen privaten Anliegen nachzukommen, wird auch montags nicht zur Höchstform auflaufen. Organisationspathologien sind die Folgen einer Abwärtsspirale erschöpfter Unternehmen. Gemeint ist eine Zunahme von Konflikten, Fehlern, Doppelarbeiten und Zynismus, die der Leistungserbringung entgegenstehen. Die Unternehmenskosten durch Präsentismus betrugen im Jahr 2009 in Deutschland 2399,– Euro pro Mitarbeiter, die für Absentismus beliefen sich auf 1199,– Euro pro Mitarbeiter. Die Fehlzeitenquote ist für diesen Zusammenhang blind. Als Spätindikator ist sie gleichbedeutend mit dem Blick in den Rückspiegel beim Autofahren. Jeder umsichtige Autofahrer schaut vorausschauend durch die Frontscheibe, hält die Frühindikatoren und Treiber im Blick, statt permanent nach hinten zu blicken.
Erfolgsfaktor Führung und Netzwerkorientierung
Wer „Gesundheit“ in dieser Weise versteht, bekommt eine Ahnung davon, dass es nicht gelingen wird, mit einem BGM Gesundheit zu „produzieren“ oder jemanden gesund zu machen. Erreicht werden kann ein Klima, in dem Gesundheit möglich ist. Authentizität im BGM entsteht, wenn es von der Geschäftsführung beauftragt und „topdown“ im Unternehmen umgesetzt wird.
Verschiedene Studien haben belegt, dass Führung die Arbeitsbedingung mit der stärksten gesundheitstreibenden Kraft ist. Führungskräfte nehmen ihre Fehlzeiten mit, wenn sie die Abteilung wechseln. Darüber hinaus beeinflussen Führungskräfte die Mitarbeiterbindung an das Unternehmen. Gemäß der Gallup-Q12® Metaanalyse 2012 haben Mitarbeiter mit einer hohen Bindung ca. 48 % weniger Unfälle und 37 % weniger Ausfallzeiten als Arbeitsgruppen mit niedriger emotionaler Bindung. Aus der von der BiBB BAuA im Jahr 2012 durchgeführten Erwerbstätigenbefragung an 17 000 Beschäftigten geht hervor, dass Unterstützung durch die Führungskraft Belastungen puffert und gesundheitliche Beschwerden reduziert. Es ist bemerkenswert, wie Wertschätzung das Erleben von Zeitdruck oder körperlich schwerer Arbeit signifikant beeinflusst. Je besser Führungskompetenz und Vorgesetztenverhalten bewertet werden, desto höher ist die Arbeitszufriedenheit und umso geringer sind die gesundheitlichen Beschwerden. Deshalb muss BGM zunächst bei den Führungskräften ansetzen, auch um sie in Sachen „selfcare“ zu unterstützen und deren Arbeitsbedingungen von Fehlbelastungen zu befreien.
Aus neurowissenschaftlicher Sicht bilden die beiden im Menschen verankerten Grundbedürfnisse nach Zugehörigkeit und Wachstum das salutogene Potenzial der Arbeit. Netzwerkorientierung fördert die Flexibilität und Widerstandskraft im Betrieb. Um die Selbstwirksamkeit der Beschäftigten zu fördern, sind beteiligungsorientierte Prozesse nötig. Nur aus einer Gestalterrolle heraus lassen sich Veränderungen mutig angehen.
Erfolgsfaktor Verhaltens- und Verhältnisprävention
Arbeitsbedingungen und Arbeitsbewältigungsfähigkeit bedingen sich wechselseitig. Hinzu kommen individuelle Gesundheitstreiber und -verhinderer der Beschäftigten. Es ist bekannt, dass eine lang anhaltende Überforderung und die Unterforderung gleichermaßen der Gesundheit schaden. Nur durch eine Verknüpfung verhaltens- und verhältnispräventiver Ansätze kann krankheitsbedingten Fehlzeiten entgegengewirkt werden. Wirksamkeit im BGM setzt voraus, alternskritischen Fehlbelastungen und Gesundheitsrisiken gezielt zu begegnen.
So lassen sich beispielsweise die Risiken der Schichtarbeit reduzieren, indem eine ergonomische Arbeitszeitorganisation hergestellt und den Mitarbeitern, unter der Voraussetzung bestimmter Regeln, viel Gestaltungsräume bei der Arbeitszeitorganisation gewährt wird. Verhältnispräventiv werden auf diese Weise salutogene, alternsgerechte Arbeitsbedingungen gestaltet. Auf der verhaltenspräventiven Ebene fokussieren die Angebote für Schichtarbeitnehmer z. B. auf die Risikofaktoren gesunder Schlaf, Teilnahme am sozialen Leben und Ernährung.
Im Übrigen lassen sich Belastungen entweder durch deren Reduktion und/oder durch eine Stärkung der Ressourcen abfedern. Nur wenn diese Ableitung zielgerichteter Maßnahmen gelingt, wird das Engagement nicht verpuffen.
Erfolgsfaktor Lernen
Diese ursachenorientierte Maßnahmenableitung setzt ein Instrumentarium der Risikobeurteilung voraus, d. h. am Anfang steht eine Analyse der Arbeitssituation mit Stärken, Schwächen, Risiken und Chancen. Dabei sind alle Tätigkeiten, alle Mitarbeitergruppen und insbesondere die Situation der Führungskräfte zu berücksichtigen. Ein ganzheitlicher Blick vom Individuum aus auf das Team, dann auf die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit und schlussendlich über den betrieblichen Tellerrand hinaus ist im BGM erforderlich.
Managementsysteme wie das BGM sind Lernprozesse im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung. Entlang des PDCA-Zyklus wird zunächst eine Analyse durchgeführt. Daraus entwickeln sich zielgerichtete Maßnahmen mit ihren messbaren Erfolgskriterien, eine Evaluierung des Handelns und ggf. ein Nachjustieren. Für diesen selbstlernenden Prozess eignet sich die seit Oktober 2013 im Arbeitsschutzgesetz verankerte Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (§ 5 ArbSchG). Unternehmen werden bei der Gefährdungsbeurteilung feststellen, dass Sparsamkeit im Verbrauch, also die Vermeidung von Doppelarbeiten oder andere Formen der Verschwendung, Mitarbeiter und Betrieb gleichermaßen entstresst.
Fazit
Zum Schluss noch ein Plädoyer für mehr Zahlen und weniger „Bauchgefühl“ im BGM. Die Initiative Gesundheit und Arbeit veröffentlichte mit dem IGA-Report 20 eine Studie zur Umsetzung des BGM in Betrieben mit einer Größenordnung von 50 bis 499 Mitarbeitern. Nur ca. 36 % der Unternehmen dieser Größe betreiben ein BGM und davon lediglich eine Minderheit mit eigenen BGM-Strukturen und unter Beteiligung der Mitarbeiter. Erfahrungsgemäß leidet BGM in vielen Betrieben immer noch unter dem Apfelkorb-Image gut gemeinter Gesundheitsaktivitäten. Allein ein auf Kennzahlen basierendes BGM-Controlling ist in der Lage, Vorhaben und Projekte vom Nimbus der Sozialromantik zu befreien. Ohne handfeste Belege im Sinne von Wirkungsanalysen oder Kosten-Nutzen-Betrachtungen gibt es selten Investitionsentscheidungen des Managements. Kennzahlen wollen gefunden werden und am besten in einer Allianz von Betroffenen und Management. Fragen wie: „Woran merken wir, dass wir dieses oder jenes Ziel erreicht haben?“, „Wie können wir unseren Erfolg in Zahlen ausdrücken?“, „Wie lassen sich Veränderung und der Status quo messbar machen?“ führen zu aussagefähigen Indikatoren. Am Ende werden RONI und ROI doch noch allerbeste Weggefährten.
Literatur
Badua B et al.: Sozialkapital. Berlin, Heidelberg: Springer, 2013.
iga Barometer 4. Welle 2013: Die Arbeitssituation in Deutschen Unternehmen. Eine repräsentative Befragung der Erwerbsbevölkerung in Deutschland. iga.Report 27.
Reisinger K: „High Five“ und das Betriebliche Gesundheitsmanagement. Betriebliche Prävention 2016; 128: 504–508.
Weitere Infos
Nöllenheidt C, Brenscheidt S: Arbeitswelt im Wandel: Zahlen – Daten Fakten. BAuA, 2016
Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Statistik der Deutschen Rentenversicherung; Aktuelle Ergebnisse
iga.Report 28: Wirksamkeit und Nutzen betrieblicher Prävention
iga.report 16: Return on Investment im Kontext der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention