Digitale Menschmodelle und Ergonomiesysteme
Ein digitales Menschmodell verkörpert ein künstliches dreidimensionales Modell des Menschen mit einer je nach Einsatzzweck unterschiedlichen Funktionalität. So steht z. B. bei biomechanischen Modellen die Simulation von Bewegungen des Menschen im Vordergrund.
Integrierte Ergonomie-Tools umfassen die für einen spezifischen Ergonomieaspekt wie z. B. Aktionskräfte, Sichtbedingungen oder auch die Lastenhandhabung aufbereiteten Analyse- und Bewertungsverfahren. Die Grundlage für das hier vorgestellte Tool bildet das Menschmodell CharAT Ergonomics der Firma VHE GmbH. Dieses Menschmodell wurde im Rahmen von Forschungsarbeiten an der Professur für Arbeitswissenschaft der TU Dresden um Werkzeuge für die Ergonomiebewertung erweitert (vgl. Kamusella et al. 2016). Derzeit sind Werkzeuge für
- manuelle Lastenhandhabung,
- Körperhaltungsbewertung,
- Sichtbewertung und
- Aktionskräfte
verfügbar (s. „Weitere Infos“).
Der Vorteil in der digitalen Bewertung liegt darin, dass die Arbeitspersonen leicht variiert werden können (Männer, Frauen, Nationalitäten, Körperformen) und das Ergebnis der Beurteilung in Echtzeit ausgegeben wird. Damit wird gegenüber den herkömmlichen Papier- und Bleistiftmethoden ein Qualitäts- und Zeitvorteil erzielt. Nachfolgend wird die Beurteilung der manuellen Lastenhandhabung ausführlicher erläutert. Die weiteren verfügbaren Verfahren werden im Überblick vorgestellt.
Manuelle Lastenhandhabung
Mit dem Ergonomiewerkzeug „Lastenhandhabungsbewertung“ können für geplante bzw. vorhandene Ausführungsbedingungen der Lastenhandhabung Gesundheitsrisiken nach der Leitmerkmalmethode in einer digitalen Umgebung identifiziert und Maßnahmenbedarfe erkannt werden. Die Leitmerkmalmethode Heben, Halten, Tragen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA 2001) erlaubt eine orientierende Beurteilung der Arbeitsbelastungen bei Handhabung von Lasten. Die Handhabungsarten Heben, Halten, Tragen werden dabei getrennt bewertet. Die Beurteilung erfolgt bei bereits real vorhandenen Arbeitsplätzen im Allgemeinen über Arbeitstagaufnahmen vor Ort, indem ein Beobachter Teiltätigkeiten eines Arbeitstages schriftlich notiert und die Einflussgrößen anhand formalisierter Kriterien einstuft. Erfasst werden die Leitmerkmale Lastgewicht, Körperhaltung und Ausführungsbedingungen. Deren Summe bildet, multipliziert mit der ebenfalls zu ermittelnden Zeitdauer bzw. Häufigkeit, den entsprechenden Risikowert. Wechseln die Leitmerkmale innerhalb einer Teiltätigkeit, sind vereinfachend Mittelwerte zu bilden. Die tätigkeitsbezogenen Risikopunktwerte werden anschließend nach dem Ampel-Bewertungssystem in Zonen des Gesundheitsrisikos eingestuft, aus denen die Handlungserfordernis abgeleitet werden kann.
Bei der in ein digitales Ergonomiesystem integrierten Version der Leitmerkmalmethode werden virtuelle Arbeitspersonen (digitale Menschmodelle) verwendet. Diese können aus einer Datenbank ausgewählt werden, so dass unterschiedliche Populationen als Zielgruppe möglich sind. Arbeitsverrichtungen mit ihren Vorgabezeiten, egal, ob real vorhandene oder geplante, werden virtuell über synthetisch erzeugte Einzelbilder in sequentieller Reihenfolge gemäß dem Arbeitsablauf ausgeführt. Die Arbeitsumgebung, in der das Menschmodell interagiert, ist als 3D-Geometriemodell verkörpert ( Abb. 1).
Für die digitale ergonomische Simulation ist zunächst die virtuelle Nutzergruppe, die als Testkollektiv einer Risikobewertung zugeführt werden soll, nach anthropometrischen Kriterien wie Alter, Geschlecht und Perzentil zusammenzustellen. Die Auswahl kritischer Referenzpersonen, die durch Menschmodelle zu repräsentieren sind, kann dabei aus folgenden Betrachtungsweisen resultieren ( Abb. 2):
- Gegenüberstellung unterschiedlich großer Personen, da hierdurch Gegenpole in der Körperhaltungsvariabilität entstehen,
- Gegenüberstellung männlicher und weiblicher Nutzer, da die lumbale Kompressionsfestigkeit bei Frauen aufgrund einer geringeren Aufnahmefläche der Wirbel niedriger ist und in der Ergonomiebewertung über das Merkmal „Lastmasse“ Berücksichtigung findet,
- Einbeziehung einer individuell abgebildeten Anthropometrie, um z. B. Aussagen für eine leistungsgewandelte Person zu erhalten bzw. um an einem Arbeitsplatz eine individuelle Gestaltungslösung zu finden,
- Einbeziehung personenspezifisch bedingter Ausführungsbedingungen, die zu besonderen Haltungsanpassungen führen (z. B. durch sperrige Lastgeometrie).
Im nächsten Schritt wird in der virtuellen Umgebung ein Arbeitsablauf mit allen relevanten Teiltätigkeiten, die durch Lastenhandhabung gekennzeichnet sind, abgebildet. Dazu ist eine Gesamtszene in relevante Teilszenen (Arbeitsabschnitte) aufzuteilen. Die zu erstellende Bewegungsanimation für das als Referenzperson ausgewählte Menschmodell verkörpert dabei eine Abfolge von Arbeitsbewegungen. Dieser Schritt ist sehr aufwändig und in gewissem Grade subjektiv geprägt, da die Bewegungsansteuerung des Menschmodells über Zielpunkt- und zum Teil Gelenkpunktanimation erfolgt. Das bedeutet, dass die zu erwartenden und in die Animation zu überführenden Haltungen und Bewegungen vorprognostiziert werden müssen und die Genauigkeit deren Einstellung von der Erfahrung des Programmnutzers abhängt. Daher ist das entwickelte Ergonomie-Tool als ein Expertenprogramm einzustufen. Im Nachgang zur umgesetzten Animation aller Arbeitsbewegungen sind Lastverknüpfungen für diejenigen Teiltätigkeiten einzurichten, in denen das Menschmodell Lasten mitführen soll. Sich wiederholende Vorgänge oder Arbeitsabschnitte sind dabei nur einmal zu modellieren. Dialoggeführt gibt der Nutzer Lastmassen, Ausführungsbedingungen und Häufigkeiten ein. Anhand eines Beispiels soll die digitale Umsetzung und Bewertungsmöglichkeit erläutert werden.
Beispiel: An einem Putzarbeitsplatz einer Gießerei werden Gussteile verschiedener Formvarianten in unterschiedlicher Stückzahl aus einer Gitterbox entnommen, an einem Bockschleifer geputzt, anschließend Gussstücke nach Bedarf auf einer separaten Werkbank mit Handschleifgerät nachbearbeitet und danach in einer zweiten Gitterbox abgelegt. Der Weg zwischen Entnahmestelle der Werkstücke und Bockschleifer sei (fiktiv angenommen) größer als 5 m. Während des Bearbeitungsvorgangs am Bockschleifer müssen die Teile haltend mehrfach gedreht und positioniert werden und können nicht an der Schleifmaschine aufliegen. Demnach treten bei der Tätigkeit die Handhabungsarten Heben, Halten und Tragen gleichermaßen auf.
Als Referenzperson einer Nutzergruppe soll hier der so genannte „große Mann“ (95. Körperhöhenperzentil) der Körpermaßnorm DIN 33402-2 verwendet werden. Abb. 3 enthält gehandhabte Lastmassen und Stückzahlen sowie die Eingabemaske im Programm, um verschiedene Lastmassen zu listen. Der gesamte Arbeitsablauf gliedert sich in zwei Arbeitsabschnitte ( Abb. 4):
- Abschnitt 1: Sequentielle Entnahme der Gussteilformen 1 bis 3 aus Gitterbox A, Transport zur Schleifmaschine, nach deren Bearbeitung Ablage in Gitterbox B.
- Abschnitt 2: Sequentielle Entnahme der Gussteilformen 4 bis 6 aus Gitterbox A, Transport zur Schleifmaschine, nach deren Bearbeitung Transport zur Werkbank und Nachbearbeitung mit Handschleifer, Ablage in Gitterbox B.
Die Animationserstellung erfolgt auf der Ebene von Vorgangselementen. Das bedeutet, dass z. B. der Vorgang „Gratentfernung an Gussteil 1“ aus den in Abb. 5 genannten Elementen besteht, denen eine Bewegungszeit zugeordnet wird. Legt der Werker z. B. 1 m/s zurück, zeigt die Zeitleiste der Animation die entsprechende Ausgangs- und Endzeit an.
Die gesamte Animation führt man nach deren Fertigstellung einer Ergonomieauswertung zu. Die automatische Auswertung dieser Animation erzeugt eine Tabelle mit allen Vorgangselementen und relevanten Berechnungsparametern. Die Anthropometrie des Menschmodells und davon beeinflusste bewertungsrelevante Parameter (z. B. geschlechtsabhängige Lastwichtung) erkennt das Berechnungstool ebenfalls automatisch.
Im Beispiel wird jedes Gussteil in einer anderen Häufigkeit verarbeitet, was sich über das Leitmerkmal Zeitdauer/Häufigkeit unmittelbar auf die Belastung und damit auch die Beanspruchung der arbeitenden Person auswirkt.
Der für den simulierten Arbeitsablauf und getrennt für die Handhabungsarten Heben, Halten und Tragen errechnete Risikowert folgt dem Beurteilungsmodell der Leitmerkmalmethode und dem 3-Zonen-Bewertungssystem der DIN EN 614-1:2009, die drei Risikobereiche definieren. Werte bis 25 Risikopunkte gelten als sicher, d. h. es ist ein sehr geringes Gesundheitsrisiko vorhanden. Im Bereich von 25 bis 50 Risikopunkten ist eine weitere Risikoabschätzung unter Beachtung der individuellen Belastbarkeit der Beschäftigten vorzunehmen und mehr als 50 Punkte sind mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko verbunden, technische und/oder organisatorische Umgestaltungsmaßnahmen sind notwendig. Im vorliegenden Anwendungsfall errechnet das Ergonomietool für Tragen ein gerade noch akzeptables, für Halten ein bereits leicht erhöhtes und für Heben/Umsetzen ein inakzeptables Gesundheitsrisiko. Man erhält also eine sehr detaillierte Beurteilung, aus der bereits Ansätze für Gestaltungsmaßnahmen erkennbar werden. In Abb. 6 sind die aufsummierten Wiederholungen der Handhabungsarten, deren Wichtungsfaktoren für Zeit, Körperhaltung, Ausführungsbedingung und Last sowie der Risikowert zu sehen.
Gegenüber dem konventionellen Papier- und Bleistiftverfahren wird damit in einem Zug die gesamte Arbeitstätigkeit beurteilt und es müssen nicht viele Einzelbeurteilungen durchgeführt und zusammengeführt werden.
In der Verfahrensvorschrift zur Leitmerkmalmethode ist festgelegt, dass beim Wechsel von Lastgewichten und/oder Körperhaltungen innerhalb einer Teiltätigkeit Mittelwerte zu bilden sind. Bei deutlich unterschiedlichen Lastenhandhabungen innerhalb einer Gesamttätigkeit sind diese getrennt einzuschätzen und gehen damit auch nicht in eine Dosis ein. Mittelungen glätten die Belastungsfälle. Insofern ist das Verfahren, da es auf der Beurteilungsebene einer orientierenden Bewertung liegt, vorherrschend für eher homogene Lastausübungsfälle mit nur geringförmig abweichenden Bedingungen geeignet. Um es auch für heterogene Tätigkeiten nutzen zu können, sind Regeln für eine Zusammenfassung von Wichtungsfaktoren der Leitmerkmale zu finden, die geeignetere Bewertungsergebnisse in guter Näherung liefern. Hier wurde eine zeit- bzw. häufigkeitsgewichtete Mittelung der Wichtungsfaktoren der Leitmerkmale vorgenommen, die dann in die Gesamtberechnung des Risikowerts eingehen. Damit konnte eine weitere Aufwandsreduzierung gegenüber der herkömmlichen Beurteilung erreicht werden. Diese modifizierte Berechnung der Wichtungsfaktoren erfolgt in analoger Weise für die Ausführungsbedingungen und Körperhaltung.
Klassifizierung von Körperhaltungsvarianten
In der herkömmlichen Leitmerkmalmethode schätzt der Beobachter einer konkreten Arbeitssituation die aktuell angetroffene einzelne Körperstellung anhand grob vorgegebener verbaler Beschreibungskriterien und Piktogramme ein. So sind die Haltungen z. B. umschrieben mit „Last am Körper“, „körpernah“ oder „geringes Vorneigen“, „Verdrehen des Oberkörpers“, „über Schulterhöhe“, „tiefes Beugen“, „Knien“ u.a. (vgl. Abb. 7). Diese Kriterien lassen dem Beobachter bereits viel Spielraum bei der Interpretation und sind für eine rechentechnische Umsetzung und Auswertung einer konkreten Kombination von Gliedmaßenstellungen wenig geeignet. Was ist z. B. körpernah und was bedeutet geringe Vorneigung? Der Anwender der herkömmlichen Leitmerkmalmethode kann dies mit einem gewissen Erfahrungshintergrund einschätzen. Für eine rechentechnische Umsetzung sind jedoch konkrete, formalisierbare Regeln und eine stärkere Differenzierung der Körperhaltungen notwendig.
Für die automatisierte Einstufung der Körperhaltung wurden Attribute und Attributwerte festgelegt. Die wichtigsten Attribute sind der Abstand der Last zum Körper, die Rumpfbeugung, die Rumpfdrehung, die Höhe der Last in Bezug zur Schulter sowie das Knien bei Lastenhandhabung. Durch Kombination aller Attributwerte entstehen so 108 verschiedene Körperhaltungsvarianten, denen Wichtungsfaktoren zugeordnet wurden. Die Validierung erfolgte über den Vergleich der automatisch generierten Werte und der sich durch Experteneinschätzungen ergebenden Werte.
Mit den beschriebenen Entwicklungen zu einem automatisierten Verfahren wurde die konventionelle Methode weiterentwickelt. Die rechentechnische Umsetzung von Körperbewegungen ist zwar zunächst aufwändig, bietet dann aber durch die mögliche Variation der Nutzerpopulation große Vorteile. Wenn in Planungsprozessen, in denen in der Regel inzwischen die Arbeitsumgebung bereits digital abgebildet ist, Arbeitstätigkeiten geändert oder Lasten variiert werden, dann kann direkt die Beurteilung der Arbeitsbedingungen erfolgen.
Körperhaltungsbewertung
Dieses Tool der digitalen Ergonomiebewertung dient ganz allgemein einer Abschätzung des Gesundheitsrisikos, das durch physische Belastungen in Form arbeitsbedingt erzwungener Körperhaltungen und -bewegungen hervorgerufen werden kann. Es ist eine Einschätzung animierter Körperhaltungen und -bewegungen des Menschmodells an digitalen Prototypen nach den Screening-Verfahren RULA (Rapid Upper Limb Assessment) und OWAS (Ovako Working Posture Analysing System) möglich.
Das RULA-Verfahren als schnelles Bewertungsverfahren beurteilt vorausgewählte einzelne Haltungen ohne Einbeziehung von deren Dauer und Häufigkeit und schätzt das Änderungserfordernis ein. RULA betrachtet Körperhaltungen von Ober-/Unterarm, Handgelenkstellung, Kopf, Rumpf, unteren Extremitäten, ergänzt um Aspekte von Muskelarbeit. Die Einschätzung erfolgt für rechte und linke Körperseite getrennt. Eine Gesamtpunktzahl wird einem Risikowert zwischen grün (akzeptabel) bis rot (sofortiger Handlungsbedarf) auf einer Skala von 1 bis 7 zugeordnet.
OWAS überprüft Körperhaltungen in Verbindung mit Lastenhandhabung. Möglich ist die Beachtung einer einzelnen Gesamtkörperhaltung ohne Zeitbezug. Die Kombination aus Arm-, Bein-, Rumpfhaltung sowie dreier Lastgewichtsklassen führt zu vier Belastungsstufen und Maßnahmenklassen. Darüber hinaus können statische und statisch/dynamische Körperteilhaltungen von Rumpf, Kopf, Beinen und Armen zeitbasiert untersucht werden. Die Häufigkeit des Vorkommens einzelner Körperteilhaltungen führt entsprechend des Ampel-Bewertungssystems zu entsprechenden Risikostufen und begründet einen Handlungsbedarf.
Die Ankopplung beider Verfahren an das digitale Menschmodell verfolgt das Ziel, zeitgleich zur Bewegung des Menschmodells eine automatische Bewertung nach OWAS und RULA zu generieren und das mögliche Gesundheitsrisiko sofort abzulesen. In Abb. 8 und Abb. 9 wird jeweils exemplarisch eine Anwendung gezeigt.
Digitale Sichtbewertung
An der Mensch-Maschine-Schnittstelle gelten für die geometrischen Sichtbedingungen und optischen Anzeigeeinrichtungen, die u. a. in Maschinen, Anlagen, Mess- und Bildschirmgeräten, Instrumententafeln, Steuer- und Überwachungskonsolen eingesetzt werden, eine Reihe ergonomischer Einzelanforderungen. Das betrifft z. B. die menschliche Bewegungsmotorik bei Ausrichtung auf ein Sehobjekt. Bei visueller Kontaktierung von Sehzielen ermöglicht das Menschmodell innerhalb sehaufgabenabhängiger Bewegungslimits eine serielle Auge-Kopf-Körper-Motorik. Bei Ausrichtung des Blicks auf ein Sehobjekt setzt das Menschmodell zuerst die Augen, gefolgt von Kopf und Rumpf ein. In Abhängigkeit von der Augpunkthöhe der Zielgruppe und der Sehentfernung einer Sehfläche wirkt sich diese sequentielle Bewegung auf die Körperhaltung und Sehstrahlausrichtung aus. Damit wird die Bearbeitung unterschiedlicher Aufgabenstellungen unterstützt. So können Displays für verschiedene digitale Testpersonen ergonomisch ausgerichtet werden. Weiterhin wird die ergonomisch richtige Platzierung von Displays zum Menschmodellauge unterstützt. Die altersabhängige Scharfstellung des Bildes auf der Netzhaut bei veränderter Objektweite (Akkommodation) wird für zwei Grenzen ergonomisch kontrolliert und bewertet. Der Akkommodationsnahpunkt für temporäres Scharfsehen (maximale Akkommodation) sowie für ermüdungsfreies bequemes Sehen über längere Zeit (Gebrauchsakkommodation) bestimmt die jeweilige Seh- bzw. Gegenstandsweite. Sie ist im Sicht-Tool für Personen ohne, mit zunehmender und ausgeprägter Presbyopie (Alterssichtigkeit) berücksichtigt.
Im Beispiel der Abb. 10 ist beispielhaft ein Montagearbeitsplatz für Steharbeit gezeigt. Die Hände der Nutzer bleiben am Montageort gebunden, während ein Blickkontakt zum Kontrollmonitor besteht. Die Planer sehen für eine deutsche Zielgruppe einen nicht höhenverstellbaren Tisch und einen Monitor in fester Höhe und Entfernung zum Werker vor. Diese geplante Arbeitsplatzgeometrie kann nun mit den Ergonomie-Tools Sicht und Körperhaltungsbewertung für beliebige Referenzpersonen überprüft werden. Dabei können sowohl Akzeleration der Körpermaße (jüngere Personen sind größer als Ältere), Perzentil (kleine Person P5, große Person P95), Geschlecht und Alter Berücksichtigung finden.
Zu erkennen ist, dass das 95. Perzentil Mann leicht gebeugt am Montagetisch arbeiten muss (Ampelfarbe gelb: erhöhte Belastung), während das 5. Perzentil Frau aufrecht montieren kann. Gestaltungsalternativen können nun durch schrittweise Veränderung der Monitorhöhe, -entfernung, -neigung sowie durch Höhenanpassung des Tisches synchron bewertet werden. Mehrere Positionen können quasi „übereinander“ gelegt werden, so dass ein Optimum ermittelt werden kann.
Bewertung aufzubringender Aktionskräfte
Bei manuellen Montage- oder Handhabungsprozessen müssen nach wie vor, teilweise in ungünstigen Körperpositionen, Kräfte aufgebracht werden. Eine Nutzergruppe, die diese Aktionskräfte an der Mensch-Maschine-Schnittstelle aufbringen soll, besitzt alters- und geschlechtsabhängig ein unterschiedliches Kraftvermögen. Kraftbetonte Tätigkeiten treten dabei in unterschiedlichen Körperhaltungen und Kraftrichtungen auf. Kraftausübungsfälle können über ergonomische Bewertungskenngrößen bewertet und optimiert werden.
Das entwickelte Tool ist allgemein zur Beurteilung von Aktionskräften mittels digitaler Prototypen geeignet. Es dient der qualitativen Abschätzung sowie quantitativen Bestimmung isometrischer Aktionskräfte des Arm-Schulter- und Ganzkörpersystems.
Im Beispiel in Abb. 11 wird ein geeigneter Kraftangriffspunkt zum Schieben eines Wagens gesucht. Dieser befindet sich im rot markierten Bereich, dort liegt ein grüner Knotenpunkt mit Maximalkraft. Durch die Variation der Position kann ein Optimum erzielt werden. Die Griffstange ist demzufolge für verschiedene Nutzer (im Bild großer Mann, kleine Frau) höhenverstellbar und breit auszuführen.
Fazit
Mit digitalen Ergonomiebewertungsverfahren lassen sich besonders in frühen Planungsphasen Bewertungen an 3D-Modellen ohne die Notwendigkeit realer Arbeitssituationen und hierbei insbesondere ein Vergleich verschiedenster Varianten durchführen. Damit werden für geplante Arbeitsbedingungen Aussagen zum Gesundheitsrisiko gewonnen und Lösungen können iterativ verbessert werden. Man kann frühzeitig Änderungsbedarfe erkennen und erforderliche Maßnahmen in Gesamtlösungskonzepte einfließen lassen. Die Nutzerpopulation wird über digitale Menschmodelle mit einer großen Bandbreite an Nutzermerkmalen abgebildet und einer Bewertung zugeführt. Es können dabei verschiedene Nutzer zeitgleich agieren, wodurch Unterschiede in Körperhaltungen und den verursachenden Ausführungsbedingungen sichtbar und nachvollziehbar werden. Ergebnisse dienen nicht nur der ergonomischen Absicherung, sondern werden reproduzier- und wiederverwendbar dokumentiert. Die Ergebnisse unterliegen einer hohen Objektivität, da die im Programm hinterlegten Funktionen formalen Regeln folgen, die für alle Situationen gleichermaßen Anwendung finden. Dies ist ein Vorteil besonders z. B. im Vergleich zur Einstufung von Körperhaltungen in Realsituationen vor Ort, wo das Beobachterauge nur eine Abschätzung vornehmen kann und ein weiterer Beobachter unter Umständen zu anderen Ergebnissen gelangt. Die digitale ergonomische Simulation lässt eine anonymisierte Bewertung zu und trägt damit dem Datenschutz Rechnung. Ergebnisse werden nahezu automatisiert und in Echtzeit gewonnen. Da in betrieblichen Planungen üblicherweise computerunterstützt digital gearbeitet wird, ist der entstehende Aufwand vertretbar und es handelt sich bei der Einbindung von digitalen Ergonomiebewertungsverfahren um eine konsequente Weiterentwicklung von Planungswerkzeugen, die bereits frühzeitig menschliche Beanspruchungen berücksichtigen.
Literatur
Kamusella C, Schmauder M: Ergotyping im rechnerunterstützten Entwicklungs- und Gestaltungsprozess. Zeitschr Arbeitswiss 2009; 3: 212–220.
Kamusella C: Digitale Ergonomie-Tools zur Berücksichtigung ergonomischer Aspekte im Produktentstehungsprozess. In: Tagungsband zum 10. Gemeinsamen Kolloquium Konstruktionstechnik (KT2012): ENTWICKELN – ENTWERFEN – ERLEBEN. Methoden und Werkzeuge in der Produktentwicklung. 14.–15. Juni 2012 Dresden.
Kamusella C, Scherstjanoi E, Schmauder M: Ergotyping-Tools für Ergonomieuntersuchungen im Digital Prototyping. In: Bullinger-Hoffmann A, Mühlstedt J (Hrsg.): Homo Sapiens Digitalis – Virtuelle Ergonomie und digitale Menschmodelle. Berlin: Springer, 2016, S. 347–353.
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Weitere Infos
BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2001): Leitmerkmalmethode zur Beurteilung von Heben, Halten und Tragen
Entwicklung von Ergotyping-Tools
Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI): Handlungsanleitung zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen beim Heben und Tragen von Lasten. Saarbrücken, Potsdam, 2001
Autor
Prof. Dr.-Ing. Martin Schmauder
Professur Arbeitswissenschaft
Institut für Technische Logistik
und Arbeitssysteme
Technische Universität Dresden
Dürerstraße 26
01062 Dresden