Schiffsärzte arbeiten dort, wo Andere Urlaub machen. Sie können in weißer Offiziersuniform an fein gedeckten Tischen gemeinsam mit den Passagieren dinieren und dürfen sich auf dem Schiff frei bewegen – ein großes Privileg, das den meisten Besatzungsmitgliedern verwehrt bleibt. Zumindest auf Kreuzfahrt-schiffen ist das der mit der Realität noch am ehesten übereinstimmende Anteil des weit verbreiteten Klischees „Schiffsarzt – Ein ge-ruhsamer Job unter Palmen“.
Worüber sich Kollegen an Land jedoch oftmals keine Gedanken machen ist, welche vielfältigen Rollen der Schiffsarzt an Bord einnehmen muss. Zunächst die offenkundige Aufgabe: Sicherstellung der medizini-schen Notfallversorgung für die Passagiere. An Bord moderner Kreuzfahrtschiffe wer-den Passagierzahlen erreicht, die durchaus mit den Einwohnerzahlen kleiner Ortschaf-ten mithalten können. Daher ist es notwendig, eben nicht nur mit dem Funktelefon in der Tasche über das Deck zu flanieren, sondern neben einer durchgehenden Notfallbereitschaft mehrfach täglich ganz normale Sprechstunden sowohl für die Passagiere als auch für die Besatzung anzubieten. Kommt dann noch etwas Seegang hinzu, wird auch dem Neueinsteiger relativ schnell klar, dass die Vorstellung von der ruhigen Urlaubsvertretung an Bord vielleicht doch eher ein Trugschluss war. Gerade weil die personel-len Ressourcen an Bord nicht denen einer Klinik entsprechen und man auch nicht ein-mal schnell die andere Fachabteilung konsultieren kann, ist eine Tätigkeit als Schiffsarzt oft anstrengend und herausfordernd, aber eben auch sehr spannend und nach wie vor etwas ganz Besonderes.
Bücher mit Titeln wie „Schläft das Personal auch an Bord?“ deuten bereits darauf hin, dass da außer den Passagieren noch mehr Menschen sind, denen es gilt, mit Aufmerksamkeit und Fachkompetenz zur Seite zu stehen: die Crew. Es handelt sich dabei um mehrere hundert bis tausend Menschen aus häufig über 40 verschiedenen Nationen und Kulturen, die ohne Wochenenden oder Feiertage tagtäglich in z. T. Zwölf-Stunden-Schichten für das perfekte Urlaubserlebnis der Gäste arbeiten, dabei häufig mit ihren Kollegen in Zwei-Bett-Innenkabinen leben und, je nach Job, so gut wie nie in die öffent-lichen Bereiche des Schiffes gelangen.
"Zwei Welten" an Bord müssen vom Schiffsarzt adäquat betreut werden
Die meisten Kollegen beschreiben das als einen der intensivsten Eindrücke: Es gibt zwei Welten an Bord. Die Welt der Gäste ist bunt, wohlriechend, flauschig, mit beruhigenden Klängen beschallt und akzentuiert beleuchtet. Die Welt der Besatzung dagegen besteht aus kaltem Neonlicht, Kunststoff-böden und streng hierarchisch organisierten Funktionsbereichen mit blanken Stahlwänden und schweren Türen. Der Schiffsarzt ist Pendler zwischen diesen Welten. Ein Privileg, aber auch eine enorme Verantwor-tung. Alleine aus der Sicht der Gefährdungs-beurteilung psychischer Belastungen dürfte der arbeitsmedizinisch versierte Kollege bereits ahnen, was ihn an Bord eines Kreuzfahrtschiffs erwarten kann: Ein ganz eigener Mikrokosmos mit vielen Aufgaben.
Der Schiffsarzt ist für die Besatzung, die im Gegensatz zu den Passagieren über meh-rere Monate an Bord lebt, mehr als nur der Notarzt. Er ist zugleich Hausarzt, Hygieniker, Erste-Hilfe-Ausbilder, Gynäkologe, Internist, Psychologe, Betriebsarzt, Chirurg und vieles mehr in diesem Mikrokosmos, der nicht nur Schiff ist, sondern auch Hotelbetrieb, Spielhalle, Freizeitpark, Großküche, Wasserwerk, Profiwäscherei, Metallwerkstatt, Kindergarten, Heizkraftwerk etc. – mit eigenen Hierarchien, eigenen Regeln sowie einem Chef: dem Kapitän. Aus diesem Grund ist eine der seit August 2014 geltenden rechtlichen Anforderungen für Ärzte, die auf Schiffen unter deutscher Flagge als Schiffsarzt tätig werden möchten, die umfassende Kenntnis der maritimen Besonderheiten (§ 19 Absatz 2 der MariMedV). Eine nachvollziehbare Forderung.
Aus arbeitsmedizinischer Sicht sind Kenntnisse des Schiffsbetriebs für den Arzt an Bord unabdingbar
Insgesamt ist das Seearbeitsrecht im Ver-gleich zum ArbSchG etwas Besonderes. So gibt es z. B. in der Seefahrt noch eine explizite Seedienst-Tauglichkeitsuntersuchung. Auch andere Details differieren zwischen Seefahrt und „normalem“ Arbeitsplatz. Da an Bord eines Schiffes nicht immer unmittelbar klar ist, welches nationale Recht im Einzelfall anwendbar ist, müssen viele Aspekte der Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord zunächst einmal völkerrechtlich ge-klärt werden. Als ein gemeinsamer Mindeststandard wurde im Jahre 2006 von der Inter-nationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) die Maritime Labour Convention veröffentlicht. Im April 2013 wurde dann die-ses Seearbeitsübereinkommen mit dem See-arbeitsgesetz in nationales Recht umgesetzt. Bemerkenswert dabei ist, dass die etablierte Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) mit der dualen Zuständigkeit von Berufsgenossenschaft und staatlichem Arbeitsschutz im maritimen Kontext keine Rolle mehr spielt. So ist jetzt gemäß § 129 SeeArbG nur noch die Berufsgenossenschaft für die Überprüfung der Einhaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord von Schiffen unter deutscher Flagge verantwortlich. Im Vergleich zum vorher bestehenden föderalen Vorgehen ist dies eine Strategie, die sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringen kann und die sich in den nächsten Jahren beweisen muss.
Fakt bleibt aber in jedem Fall: Schon aus arbeitsmedizinischer Sicht ist die Kenntnis des Schiffsbetriebs für den Schiffsarzt elementar. Denn wo hat man schon auf so begrenztem Raum die Verantwortung für Nautiker, Künstler, Köche, Schweißer, Lackierer, Animateure, Tischler, Elektriker, Housekeeping-Personal, Fotografen, Kindergärtner, Ingenieure, Wäscher, Kellner, Tauchlehrer, Bike Scouts usw.?
Ein Schiffsarzt ist seinen Patienten deutlich näher als dies bei anderen Kollegen an Land möglich ist
Ein großer Vorteil, wenn man sich für die Menschen interessiert: Schiffsärzte sitzen als Betriebsärzte mit ihren Mitarbeitern und als Hausärzte mit ihren Patienten buchstäblich „in einem Boot“. Sie sind den von ihnen Be-treuten damit wesentlich näher als es anderen Ärzten normalerweise möglich ist.
Und diese Nähe zum Patienten erweist sich in der Regel als äußerst hilfreich. Selbst auf großen Kreuzfahrtschiffen mit mehre-ren tausend Menschen an Bord, lassen sich die Hilfesuchenden ohne großen Aufwand praktisch täglich wieder einbestellen. Das verbessert die Möglichkeiten zu einer guten Nachsorge erheblich. Und Besatzungsmitglieder, die eher zum Dissimulieren neigen, können direkt an ihrem Arbeitsplatz aufge-sucht und betreut werden – ein Luxus, den man an Land nicht häufig finden wird.
Die in einer Allgemeinarztpraxis eher gängige Verschreibungspraxis kann an Bord oft deutlich minimiert werden. Der Arzt kann in vielen Fällen auf den Einsatz von Medi-kamenten verzichten, da er sich täglich ein Bild seines Patienten verschaffen kann. Das gibt sowohl dem Arzt als auch den Patienten ein zusätzliches Maß an Sicherheit. Die Kehrseite der Medaille: Der Schiffsarzt muss rund um die Uhr erreichbar sein. Das kann auf großen Schiffen mit zwei Kollegen und einem engagierten Pflegeteam, die sich die Dienste teilen, durchaus gut machbar sein. Ist man Einzelkämpfer, kann die Situation je nach Patientengut allerdings auch zu einer großen Herausforderung werden.
Das Gros des Tagesgeschäfts machen nach wie vor die allgemeinmedizinischen Konsultationen aus. Spektakulärer – und da-her aus Presse und Fernsehen auch besser bekannt – sind die – erfreulicherweise selteneren – Notfalleinsätze. Und hier beginnen die Schwierigkeiten. Wann entwickelt sich ein unklares allgemeinmedizinisches Problem zu einem Notfall?
Ernste Notfälle kommen seltener vor, gehören aber dennoch zum Aufgaben- bereich des Schiffsarztes
Fallbeispiel: Ein Internist und Arbeitsmediziner berichtet von einer Patientin, die ihn auf der Seereise vom Schwarzen Meer nach Kanada in Atem hielt. Nach einem ausge-dehnten Bad in der Mittagssonne klagte die frisch zugestiegene Reisende über vermehrte Müdigkeit, die sie jedoch selbst dem Jetlag zuschrieb. Bei der Vorstellung im Schiffshospital am Folgetag fühlte sie sich in keinster Weise ausgeschlafen. Im Gegenteil war sie schläfriger als jemals zuvor. Die klinische Untersuchung zeigte keine Hirndruckzeichen, das eingeschränkt mögliche Labor – an Elektrolyten ließ sich nur Kalium bestimmen – war unauffällig. Die Patientin wurde stationär im Schiffshospital aufgenommen und fiel innerhalb weniger Stunden in ein nicht beatmungspflichtiges Koma.
Was tun? Die Vorgeschichte nahezu unbekannt, keine Fachkollegen für ein Konsil, keine ausgedehnten Diagnostikmöglichkeiten wie CCT und keine Intensivstation außer der bordeigenen weit und breit. Als Verdachtsdiagnosen kamen Sonnenstich, Drogenabusus, Apoplex oder Hirnblutung in Frage.
Hier beginnt dann zusätzlich zur medizinischen Tätigkeit die Managementaufgabe: Absprache des weiteren Vorgehens mit der Schiffsführung. Herstellen des Kontakts zu potenziell aufnehmenden Krankenhäusern an der amerikanischen Ostküste, Organisieren eines Rücktransports ins Heimatland mit einem Assistance-Unternehmen sowie die Kontaktaufnahme und Koordination des weiteren Vorgehens mit den Verwandten der Patientin zu Hause – ein äußerst bürokratischer Aufwand.
Die zweite Patientengruppe sind die Besatzungsangehörigen. Diese aus den verschiedensten Ländern der Erde kommenden Mit-arbeiter sehen während ihrer langen Heuerzeiten meist keinen Arzt an Land und sind deshalb besonders vom Engagement und der Zivilcourage des eingesetzten Schiffsarztes abhängig. Das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen, ist nicht ganz einfach. Und vielen Kollegen gelingt das auch nicht, wenn sie nicht aktiv an die Arbeitsplätze der Besatzung herantreten und sich sichtlich für die Tätigkeit und auch für das Leben der ihnen Anvertrauten interessieren. Denn wie viele Kollegen es auch aus der Arbeitsmedizin kennen: Oft wird der Schiffsarzt erst einmal zurückhaltend als Vertreter des Arbeitsgebers betrachtet. Umso erfreulicher ist es dann für den engagierten Schiffsarzt, wenn er oder sie bei der Mannschaft Vertrauen gewinnt und nicht nur therapeutisch tätig werden darf, sondern bei der Besatzung auch in Fragen zur Prävention Gehör findet.
Ein wichtiger Aspekt an Bord ist der Arbeitsschutz
Prävention ist ein wichtiges Thema an Bord. Es beginnt mit den alltäglichen Dingen wie der Beachtung des Hautschutzplans und den Arbeitsschutzaspekten z. B. beim Sortieren der Abfälle ( Abb. 1) oder der Absturzsicherung bei Reinigungsarbeiten ( Abb. 2). Zu den wichtige Themen gehören auch der Schallschutz im Maschinenraum oder die klimatischen Bedingungen in der Bordwäscherei. Auch den reisemedizinischen Kenntnissen wird viel abverlangt, wenn z. B. ein Passagier oder Besatzungsmitglied mit Blessuren von exotischen Land-ausflügen zurückkehrt.
Nach den Schwerpunkten seiner Tätigkeit befragt, resümiert ein Kollege: Gerade auf den Kreuzfahrtschiffen sind Kinder ein großer Teil der Patienten. Häufigstes Krankheitsbild ist der Sonnenbrand, die größte Krankheitsgruppe ist dem HNO-Bereich zu-zuordnen. Bei den Besatzungsmitgliedern sind Ekzeme häufig, bei den Maschinisten zusätzlich noch abszedierende Infektionen der Haut. Passagiere klagen oft über Zahnschmerzen. In der Regel ist die Schmerztherapie an Bord schaffbar. Die Beratung und in einigen Fällen die Therapie finden jedoch, selbst wenn Zahnärzte unter den Passieren sind, fast ausschließlich bei zahnärztlichen Kollegen an Land statt. In Einzelfällen kann z. B. eine Pulpitis innerhalb eines Tages so starke Schmerzen entwickeln, dass sie auch mit Höchstdosen von NSAR und einem nie-drigpotenten Opioid nicht adäquat gelindert werden können. Erst die Trepanation des Zahns – eine Technik, die Humanmediziner inzwischen auch lernen können – führt dann zu einer sofortigen Schmerzlinderung. An Bord werden solche Zähne nur im Sinne einer Notfallversorgung provisorisch verschlossen, die Endbehandlung bleibt den zahnärztlichen Experten an Land überlas-sen. Aus dem Gebiet der Allgemeinchirurgie ist die Abszessspaltung der häufigste Eingriff, der Traumatologe im Schiffsarzt hat sich hauptsächlich um Distorsionen, meist des Sprunggelenks, gelegentlich auch um Frakturen zu kümmern.
Auf den modernen Schiffen steht den Ärzten im Allgemeinen eine umfangreiche und qualitativ hochwertige medizinischen Ausrüstung zur Verfügung: Laborequipment, Notfallmaterial, eine umfassende Bordapotheke, ein einfaches Beatmungsgerät, eine Röntgenanlage und oft auch ein Ultraschall-gerät.
Zum Aufgabenbereich des Schiffsarztes gehört gerade auf den kleineren Schiffen oft auch der Bereich der Hygiene. Und zwar außer der Hygiene im Hospital, gemeinsam mit anderen Abteilungen an Bord, auch die Trinkwasser- und die Küchenhygiene. Das ist unspektakulär, solange nichts passiert. Aber äußerst unangenehm, wenn sich der Schiffsarzt etwa nach einem Noro-Virus-Ausbruch und entsprechenden Schlagzeilen der Boulevardpresse kritischen Fragen zum Hygienemanagement gefallen lassen muss. „Sollte es dennoch einmal zu einem Ausbruch kommen – und hundertprozentig kann man sich dagegen nicht schützen – müssen unverzüglich die bordeigenen Ausbruchspläne umgesetzt werden“, so Bettina Gau, Betriebsärztin aus Kiel und ehemalige Hamburger Hafenärztin sowie Dozentin für Schiffshygiene und Ausbruchsmanagement im Kieler Schiffsarztlehrgang, „Hier gilt es, alle Kontrollmaßnahmen bei Infektionskrankheiten an Bord durch Aufklärung, Diagnostik, Desinfektion, Isolation und eventuell Quarantäne anlassbezogen und mit Augenmaß umzusetzen“ (pers. Mitteilung).
Auch wenn Notfälle eher selten auftreten, bleiben sie einfach besser im Gedächtnis. Der Matrose auf einem Forschungsschiff beispielsweise, dem eine brechende Leine einen Großteil der Oberschenkelmus-kulatur durchtrennt hatte. Oder der Kreuzfahrtkapitän, der auf der Brücke einen Herzinfarkt erleidet. Und die meisten Kollegen sind sich einig, dass sie bisher Glück hatten, dass das Wetter gut genug war für einen Hubschrauberstart, dass die Entfernung zum nächstgelegenen Land so kurz war, dass die Reichweite des Helikopters ausreichte, dass ein Patient so lange stabilisiert werden konnte, bis das Schiff nicht nur den nächsten, sondern einen geeigneten Hafen anlaufen konnte …
Info
Die schiffsärztliche Tätigkeit gehört zu den anspruchsvollsten Sparten in der Medizin. Leider fühlen sich die Wenigsten auf ihren ersten Fahrten hinreichend vorbereitet. Mit dem Zertifikat „Maritime Medizin“ hatte die Ärztekammer Schleswig-Holstein im Jahr 2001 erstmals ein qualitativ hochwertiges Curriculum zur Ausbildung von Schiffs-ärzten erstellt (hieran orientierte sich seit-dem auch die Schiffsarztausbildung der Marine).
Leider wurde diese Weiterbildung unter anderem aufgrund fehlender Ausbildungs-einrichtungen im Frühjahr 2012 wieder abgeschafft. Die Autoren dieses Beitrags haben ein auf dem Zertifikat basierendes und modular aufgebautes Ausbildungskonzept entwickelt und bieten für angehende Schiffsärzte grundlegende und weiterfüh-rende Kurse an (s. „Weitere Infos“).
Weitere Infos
Ausbildungskonzepte und grund-legende sowie weiterführende Kurse für angehende Schiffsärzte
Für die Autoren
Dr. med. Frank Heblich
Schiffsarztlehrgang GbR
Meimersdorfer Weg 217
24145 Kiel