Gefahrstoffeigenschaften von Arzneistoffen identifizieren
Die Auswertung einer bundesweiten Online-Befragung (Segner et al. 2017) zeigte, dass die meisten Pflegenden zwar wissen, dass Arzneistoffe zur Behandlung von Krebserkrankungen häufig krebserzeugende, keimzellmutagene und reproduktionstoxische (CMR-)Eigenschaften haben können; jedoch ist ihnen oftmals nicht bewusst, dass auch Arzneistoffe zur Behandlung anderer Erkrankungen solche oder andere gesundheitsschädigende Eigenschaften haben können. Ein wesentlicher Grund für das fehlende Wissen über die Gefahren und ein mögliches gesundheitliches Risiko liegt darin, dass Arzneimittel allgemein nicht als Gefahrstoffe wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass Arzneimittel von der gefahrstoffrechtlichen Einstufungs-, Verpackungs- und Kennzeichnungspflicht ausgenommen sind und somit auf den Verpackungen keine Gefahrenpiktogramme sowie H- oder P-Sätze, wie sonst bei Gefahrstoffen üblich, existieren. Die Vermittlung von Kenntnissen über mögliche gesundheitsschädigende Eigenschaften von Arzneistoffen ist daher ein nicht zu vergessender Bestandteil der arbeitsmedizinischen Beratung.
Im Bereich der Pflege können die meisten Arzneistoffe schon allein dadurch sicher gehandhabt werden, dass die allgemeinen Hygienestandards konsequent eingehalten werden. Trotzdem ist es für eine zielgerichtete arbeitsmedizinisch-toxikologische Betreuung unerlässlich, sich zu informieren, auf welche Arzneimittelwirkstoffe aufgrund ihrer besonderen schädlichen Eigenschaften gesondert einzugehen ist. Sicherheitsdatenblätter liefern dazu erste Hinweise auf mögliche gesundheitsgefährdende Eigenschaften eines Arzneimittels; auch kann in vielen Fällen die beliefernde Apotheke mit ihrem pharmazeutisch-toxikologischen Know-how weiterhelfen. Für extern tätige Arbeitsmediziner kann der Arbeitsschutzausschuss eine weitere Informationsquelle sein. Häufig sind jedoch weitere Recherchen notwendig, die meist mit einem hohen Zeitaufwand verbunden sind. Die beiden nachfolgend beschriebenen Quellen sollen dabei helfen, die Ermittlung der stofflichen Eigenschaften in einem vernünftigen zeitlichen Rahmen zu halten:
- Im Jahr 2009 wurde erstmalig von einer Apothekerin eine Liste mit Arzneistoffen erstellt, die unter dem Verdacht stehen, dass sie CMR- oder sensibilisierende Eigenschaften besitzen. Die Liste wurde von der BGW publiziert und enthält aktuell 505 Arzneistoffe (s. „Weitere Infos“: Hadtstein 2017), wobei Stoffe aus der Gruppe der Zytostatika (101 Arzneistoffe) und der Antibiotika (58 Arzneistoffe) besonders stark vertreten sind ( Tabelle 1).
Während bei den Zytostatika krebserzeugende Eigenschaften für die Aufnahme in die Liste verantwortlich sind, erfolgte dieses bei den Antibiotika in der Regel aufgrund sensibilisierender Eigenschaften. Bei ca. 50 % aller gelisteten Arzneistoffe besteht ein mögliches teratogenes Risiko bei therapeutischer Anwendung; zu klären bleibt, inwiefern von diesen Substanzen auch beim beruflichen Umgang und damit mutmaßlich deutlich niedrigeren Expositionen ein teratogenes Risiko ausgeht. Insgesamt kann bei 11 % der Substanzen von einem gesicherten kanzerogenen Potenzial ausgegangen werden. Etwa 28 % der gelisteten Arzneistoffe stehen unter dem Verdacht, sensibilisierende Eigenschaften zu besitzen. Die Liste ist keine vollständige Nennung aller Arzneistoffe mit besonderen schädlichen Eigenschaften. Inwieweit ein beruflicher Umgang mit den entsprechenden Fertigarzneimitteln im Gesundheitsdienst mit einer realen Gefährdung für die Beschäftigten einhergeht, muss unter Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitssituation entschieden werden. Die Arzneistoffliste versteht sich insofern als eine Auswahlhilfe für diese Beurteilungsarbeit und kann in diesem Sinne für die arbeitsmedizinische Beratung genutzt werden.
- In einem von der BGW-geförderten Projekt BESI wurden für 93 Arzneistoffe aus der Gruppe der Antiinfektiva (zu denen auch Vertreter der Antibiotika zählen) die toxikologischen Daten recherchiert. Anschließend wurden die Arzneistoffe vier Kategorien zugeordnet (siehe Infokasten).
Der erste Teil des Projektberichts zu BESI (Möller et al. 2017) enthält ausführliche Angaben zu den recherchierten toxikologischen Daten sowie die jeweiligen Literaturquellen und die Begründung für die jeweilige Einstufung.
Demnach haben 26 der 93 betrachteten Arzneistoffe (28 %) nachgewiesenermaßen giftige, sehr giftige oder CMR-Eigenschaften. 58 Substanzen (62 %) können am Menschen sensibilisierend wirken. Dass eine Sensibilisierung durch den beruflichen Umgang mit bestimmten Antiinfektiva in Einrichtungen des Gesundheitsdienstes grundsätzlich möglich ist, zeigen Berichte unter anderem aus der pharmazeutischen Industrie, aber auch aus Heil- und Pflegeeinrichtungen wie Krankenhäusern. Erfreulicherweise ist die Anzahl der bei der BGW eingehenden Verdachtsmeldungen auf eine durch Arzneistoffe verursachte BK 5101 (Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können), die beispielsweise eine Hautsensibilisierung beinhaltet, sehr gering. Die Quote der in 2016 getroffenen Entscheidungen über eine BK 5101 mit Bezug zu Arzneistoffen (meist handelte es sich um eine Exposition gegenüber Antibiotika) betrug nur 0,2 % und lag damit weit hinter der Quote der Entscheidungen mit Bezug zu Desinfektionsmitteln (ungefähr 60 % aller Entscheidungen). Diese Tendenz spiegelt sich auch in den Ergebnissen der bereits erwähnten Online-Befragung im Pflegebereich wider (Segner et al. 2017). Das Wissen um die toxikologischen Eigenschaften vieler Arzneistoffe erfordert dennoch, dass sie als Gefahrstoffe im Rahmen der arbeitsmedizinischen Beratung betrachtet und als solche auch im Gespräch mit den Beschäftigten thematisiert werden. Dazu sollte der Fokus jedoch zunächst auf diejenigen Arzneistoffe gerichtet werden, die entweder CMR-Eigenschaften aufweisen, als sehr giftig oder giftig eingestuft sind oder sensibilisierend sind.
Empfehlungen für Schutzmaßnahmen
Zum Inhalt einer arbeitsmedizinischen Beratung von Pflegenden zählen neben der Thematisierung der intrinsischen Eigenschaften von Arzneimitteln auch Verhaltenshinweise und Hinweise zur Festlegung und Umsetzung tätigkeitsbezogener Schutzmaßnahmen. In der betrieblichen Praxis gestaltet sich die dazu erforderliche Gefährdungsbeurteilung jedoch schwierig. Derzeit fehlen Daten, in welchem Umfang und wie schnell ein Arzneistoff bei einer bestimmten Tätigkeit (beispielsweise beim Ausblistern, Teilen oder auch Mörsern von Tabletten) freigesetzt und anschließend über die Haut, über die Atemwege oder über den Mund aufgenommen wird. Grundsätzlich sollten alle vorbereitenden Tätigkeiten an einem separaten, möglichst störungsfreien Arbeitsplatz unter Einhaltung der üblichen Hygienestandards (Tragen von Handschuhen, regelmäßiges Reinigen benutzter Arbeitsflächen etc.) durchgeführt werden. Generell sollten Tätigkeiten, wie beispielsweise das Mörsern von Tabletten in einem offenen Mörser, vermieden werden. In die Überlegungen zur Expositionsvermeidung sollten auch Entsorgungs- und Reinigungstätigkeiten mit einbezogen werden. Zur Reduktion von Belastungen und möglicher gesundheitlicher Beanspruchungen muss zunächst der in den Technischen Regeln für Gefahrstoffe 525 (Gefahrstoffe in Einrichtungen der medizinischen Versorgung) formulierte Rahmen für Schutzmaßnahmen eingehalten werden. Die nachfolgenden Hinweise und Tipps spezifizieren die in der TRGS 525 eher allgemein beschriebenen Maßnahmen. Sie wurden mit Unterstützung der BGW unter Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse (Kimbel et al. 2015) und Einbindung von Pflegenden zusammengestellt. Die folgenden tätigkeitsbezogenen Empfehlungen sollten als eine Sammlung denkbarer Maßnahmen verstanden werden, aus der die für die jeweilige Arbeitssituation geeigneten Maßnahmen im Rahmen der arbeitsmedizinischen Beratung angesprochen werden sollten. Die individuelle Beratung sollte somit nur die Arzneimitteltätigkeiten umfassen, die von den Beschäftigten bereits ausgeübt werden bzw. später an ihrem Arbeitsplatz ausgeübt werden sollen ( Tabelle 2).
Bei Tätigkeiten mit Arzneistoffen, die CMR-Eigenschaften haben, können zu den genannten Schutzmaßnahmen weitere hinzukommen. Diese müssen aufgrund einer individuellen Gefährdungsbeurteilung festgelegt werden. Für die Stoffgruppe der Zytostatika hat die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) eine praxisgerechte Hilfestellung erarbeitet (BGW 2009).
Zusammenfassung
Arzneimittel unterliegen im Allgemeinen nicht der gefahrstoffrechtlichen Kennzeichnungspflicht und sind daher nicht ohne weiteres als Gefahrstoffe erkennbar. Im Bewusstsein von Pflegenden spielt ihr Gefahrenpotenzial daher oftmals eine eher untergeordnete Rolle. Der Arbeitsmediziner kann jedoch mit seinem Wissen über die Eigenschaften der eingesetzten Arzneistoffe einerseits und die mit ihnen verrichteten Tätigkeiten andererseits, wesentlich dazu beitragen, die Beschäftigten über möglicherweise von Arzneimitteltätigkeiten ausgehende Risiken und erforderliche Schutzmaßnahmen aufzuklären. Außerdem können Arbeitsmediziner bzw. Betriebsärzte mit ihrem Fachwissen einen wichtigen Beitrag zur Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen leisten. Für eine kompetente arbeitsmedizinisch-toxikologische Beratung sollten von ihnen folgende Voraussetzungen erfüllt werden:
- Schaffung eines guten Basiswissens bezüglich der Gefahrstoffeigenschaften von Arzneimitteln
- Ermittlung der Arbeitsplätze, an denen Arzneistoffe eingesetzt werden
- Kommunikation mit den Verantwortlichen (Fachkraft für Arbeitssicherheit, Hygieneleitung etc.)
- Abstimmung der Schutzmaßnahmen im Betrieb.
Aus pragmatischen Gründen sollte der Inhalt der arbeitsmedizinisch-toxikologischen Beratung zunächst auf Tätigkeiten mit Arzneistoffen gerichtet werden, bei denen eine gesundheitsschädigende Exposition bei Nichteinhaltung der Hygieneregeln oder darüber hinaus gehender Schutzmaßnahmen möglich ist. Dazu zählen expositionsintensive Tätigkeiten mit Arzneistoffen, die CMR-Eigenschaften haben (beispielsweise die meisten Zytostatika) oder als sehr giftig oder giftig im Sicherheitsdatenblatt eingestuft sind. Auch Arzneistoffe mit sensibilisierenden Eigenschaften wie die meisten Antibiotika sollten bei der Beratung berücksichtigt werden.
Literatur
BGW (Hrsg.): Zytostatika im Gesundheitsdienst – Informationen zur sicheren Handhabung von Zytostatika., Hamburg: BGW, 2009
Kimbel R, Roßbach B, Segner V, Jochems P: Bericht zum Projekt „Bereitstellung von sicherheitsrelevanten Informationen zu Arzneistoffen und damit verbundenen Tätigkeiten – BESI“, Teil II: Hospitationsbericht und Ermittlung der Freisetzung im Umgang mit Arzneimitteln. Mainz: Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, 2015.
Segner V, Roßbach B, Zier U: Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben – Sicheres Arbeiten mit Medikamenten (SAM). Mainz: Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, 2017.
Interessenkonflikt: Beide Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Info
Koautor
Der Mitautor Dr. rer. nat Bernd Roßbach ist Mitarbeiter des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Weitere Infos
Hadtstein C: Arzneistoffe mit Verdacht auf sensibilisierende und CMR-Eigenschaften, Hamburg 2017, Best.- Nr.: BGW09-19-001
Möller A, Padberg S, Heinemann A: Bericht zum Projekt „Bereitstellung von sicherheitsrelevanten Informationen zu Arzneistoffen und damit verbundenen Tätigkeiten – BESI“, Teil I: Bewertung der stoffbezogenen Eigenschaften, Hamburg 2014
FÜR DIE AUTOREN
Dr. rer. nat. André Heinemann
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, Abt. Arbeitsmedizin, Gefahrstoffe, Gesundheitswissenschaften
Bonner Str. 337 – 50968 Köln