Relevanz
Durch den hohen Stellenwert der Sicherheit in der heutigen Arbeitswelt sind Unfälle seltener geworden. Dennoch kann es gerade im Berufsleben immer wieder zu Ausnahmesituationen kommen, die psychisch wie physisch extrem belastend sind.
Im Jahr 2014 sind laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 955 919 meldepflichtige Arbeitsunfälle registriert worden, von denen 639 tödlich endeten. Schwere Verkehrsunfälle gehören zu den häufigsten traumatischen Erlebnissen in Deutschland. Im Jahr 2015 ereigneten sich über 2,5 Millionen Unfälle mit 305 659 Verletzten und 3459 Toten (Statistisches Bundesamt 2016).
Damit ist für Mitarbeiter in der Verkehrs- und Logistikbranche das Risiko gegeben, irgendwann im Berufsleben mit einem Unfallereignis konfrontiert zu sein. Neben Unfällen ist auch daran zu denken, dass Mitarbeiter häufiger Opfer von gewalttätigen Übergriffen und Überfällen werden. Gerade von anderen Menschen zugefügtes Leid, „man-made“ genannt, ist schwer zu bewältigen.
Psychische Verarbeitung von Unfällen
Je mehr Wahrnehmungseindrücke einwirken und je stärker wesentliche Grundannahmen eines Menschen erschüttert werden, umso schwieriger ist im Regelfall die Verarbeitung (Ruprecht u. Wiemann 2011).
Die Verarbeitung dieser Erfahrung ist deshalb so schwierig, weil sie die normalen Anpassungsstrategien des Menschen überfordert. Anders als gewöhnliches Unglück bedeuten traumatische Ereignisse in der Regel eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, eine Konfrontation mit Gewalt, Schmerzen, Verletzungen und Tod. Diese Erfahrung von Hilflosigkeit und Angst stellt eine Belastung dar, die die Folgesymptome verständlich macht.
Untersuchungen haben gezeigt, dass sich nach einer nichtadäquaten Betreuung nach einem Unfall, Großschadensfall oder Überfall bei ca. 30 % der Betroffenen eine posttraumatische Belastungsstörung ausbilden kann, die nach dem Ereignis die Bewältigung des Alltags stark einschränkt (Frommberger 1997). Eine schwerwiegende Folge ist die vorübergehende oder, im schlimmsten Fall, dauerhafte Berufs- oder Arbeitsunfähigkeit.
Risikofaktoren im Verkehrskontext
- Unfälle im Verkehrsbereich sind je nach Art der Fahrzeuge (Größe, Gewicht) und der Fahreigenschaften (lange Bremswege, nicht ausweichen können) häufig schwerwiegend, d.h. mit schweren Verletzungen oder Todesfolge verbunden.
- Gerade ein langer Bremsweg, das „Draufzufahren“ ohne weitere Handlungsmöglichkeit, wie bei schienengebundenen Fahrzeugen typisch, verstärkt das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, was die spätere Verarbeitung erschwert.
- Unfallbeteiligte können extremen Bildern und Sinneseindrücken ausgesetzt sein, weil sie schwere Verletzungen sehen oder erste Hilfe leisten. Es sind gerade die bizarren Bilder, Geräusche und Gerüche, die in der späteren Verarbeitung Schwierigkeiten bereiten.
- Je mehr Sinneseindrücke ein Betroffener während des Unfalls sammelt, desto wahrscheinlicher sind Folgebeschwerden. Hierbei sind unter anderem Dauer der Unfallsituation, die Anzahl von Verletzten und/oder Toten aber auch der Schweregrad von Verletzungen wichtige Einflussgrößen.
- Eine erfolgreiche Verarbeitung kann erheblich erschwert werden, wenn einerseits soziale Unterstützung vom Betrieb ausbleibt und andererseits Zusatzbelastungen entstehen, wie z. B. langes Warten am Unfallort, drängendes Ausfragen durch Ermittlungsbehörden oder Unverständnis des Umfelds. Hier ist es wichtig, Mitarbeiter nicht allein zu lassen!
- In der Verkehrs- und Logistikbranche sind männliche Beschäftigte stark vertreten. Diese „harten Kerle“ neigen dazu, Probleme und Hilfsbedürftigkeit herunterzuspielen. Das kann eine Hürde sein, Hilfsangebote generell und psychologische Hilfe insbesondere in Anspruch zu nehmen.
Wichtig
Die Art der Betreuung von Betroffenen am Unfallort und in der Folgezeit nach einem belastenden Ereignis entscheidet wesentlich über Intensität und Dauer der entstehenden Belastung!
Umgang mit Betroffenen – Goldene Regeln
- Im Blick haben, dass Betroffene unter Schock stehen oder ein Schock jederzeit plötzlich und massiv einsetzen kann. Betroffene von der Aufgabe ablösen, um keine Risiken einzugehen. Bei starken Schocksymptomen eine ärztliche Abklärung initiieren.
- Maßnahmen ruhig und sicher vollziehen, ggf. erläutern aber nicht diskutieren, d. h. eine sanfte, aber wirkungsvolle Strukturierung für die Betroffenen geben. Bedenken Sie, dass die Aufnahmefähigkeit der Betroffen oft sehr begrenzt ist.
- Abschirmen von zusätzlichen belastenden Sinneseindrücken, z. B. Betroffene nicht das Fahrzeug untersuchen lassen, um eine mögliche Konfrontation mit Blut oder Leichenteilen zu vermeiden. Es geht aber auch um Abschirmung vor Schaulustigen mit ggf. unpassenden Kommentaren, vor sensationsgieriger Presse, vor Ermittlungsbeamten, die unsensibel vorgehen und vor allen weiteren sozialen Zusatzbelastungen.
- Möglichst schnell Schutz und Sicherheit herstellen, z. B. durch begleitete Heimfahrt, ruhige Umgebung, Betroffene nicht allein lassen, Vertrauenspersonen wie Familie und Freunde hinzuziehen.
- Selbstkontrolle stärken und Betroffene nicht bevormunden, allerdings auch nicht überfordern. Betroffene behutsam in kleinere Aufgaben einbinden oder einfache Entscheidungen treffen lassen (Sachen zusammenpacken, Angehörige informieren, etwas zu trinken anbieten etc.).
- Zuhören, wenn der Betroffene reden möchte. Häufig ist es so, dass sich Helfer selbst unter Druck setzen, die „optimal tröstenden Worte“ zu finden. Sie übersehen dabei, dass es dem Betroffen schon völlig reicht, wenn jemand bei ihm ist und einfach nur zuhört. Geben Sie den Betroffenen Raum dafür, worüber sie reden wollen. Akzeptieren Sie aber auch Schweigen. Schulungen im Vorfeld helfen, mit dieser speziellen Gesprächssituation gut umzugehen.
- Trotz Schock und Unfall können Betroffene ein erhebliches Informationsbedürfnis haben, z. B. zu rechtlichen Folgen, zum Ausgang des Unfalls („Hat er überlebt?“) und zur persönlichen Perspektive („Was wird mit mir?“). Die Faustregel ist, dass der Betroffene wahrheitsgemäß, aber möglichst schonend informiert wird. Notlügen oder gut gemeinte Beschönigungen können sich als Zeitbomben herausstellen, weil Betroffene im zeitlichen Verlauf doch mit der Wahrheit konfrontiert werden.
- Bei Arbeitsunfällen muss ein Unfallbericht erstellt und der Durchgangsarzt aufgesucht werden, auch wenn es sich nicht um eine körperliche, sondern eine seelische Verletzung handelt.
Warnsignale bei Betroffenen
Die Faustregel lautet: Wenn Beschwerden nach einem Unfall bei Betroffenen länger als 14 Tage anhalten und keine Tendenz zur Besserung erkennbar ist, sollte weitergehende, fachliche Unterstützung eingeholt werden.
Ab 14 Tage nach dem Ereignis zeigen diese Warnsignale, dass mehr Unterstützung notwendig ist:
- Häufige, intensive und belastende Erinnerungen an das Ereignis,
- Schlafprobleme und Albträume,
- Rückzug,
- Reizbarkeit,
- Konzentrationsprobleme, Gedächtnisschwierigkeiten,
- sehr hohe Belastung, Betroffene zeigen sich sehr labil,
- sehr starke Vermeidungsstrategien, Betroffene gehen allem aus dem Weg, was mit dem Ereignis zu tun hat.
Checkliste – ist mein Unternehmen vorbereitet?
Die Risiken berufsbedingter psychischer Traumatisierung wurden in früheren Jahren eher verdrängt und bagatellisiert. Betroffene blieben sich selbst überlassen, ernteten nicht selten Unverständnis oder wenig hilfreiche Tipps. Hinzu kommt, dass solche Ausnahmesituationen auch für betriebliche Akteure wie Führungskräfte, Betriebsräte, Vertrauenspersonen oder den Personalbereich eine enorme Herausforderung sind. Hier bestehen meist große Betroffenheit und Mitgefühl für verunfallte Kollegen einerseits, andererseits gibt es Handlungsunsicherheiten und die Angst, etwas falsch zu machen.
Die Risiken traumatischer Ereignisse im Arbeitskontext werden mittlerweile zunehmend erkannt und adressiert. Ideal ist es, wenn sich das Unternehmen als Ganzes auf Unfallsituationen oder Extremereignisse vorbereitet, auch unter notfallpsychologischen Gesichtspunkten. Häufig besteht bereits ein betriebliches oder technisches Notfallmanagement, in das notfallpsychologische Ansätze integriert werden können.
Bewährt haben sich mehrstufige Ansätze. Zunächst geht es darum, die Mitarbeiter zeitnah zum Ereignis und ggf. vor Ort zu unterstützen. Diese so genannte „Psychische Erste Hilfe“ kann von Führungskräften oder kollegialen Ersthelfern übernommen werden. Diese sollten auf die Aufgabe mit Schulungen gut vorbereitet werden. Dazu kann zählen: die Ablösung von der verrichteten Aufgabe, Abschirmung/Beistand vor Ort oder die Organisation der Heimfahrt. Im Fokus steht die Unterstützung am Unfalltag direkt und dass Betroffene möglichst wenig Zusatzbelastungen erleiden.
Besonders hilfreich ist es, wenn Betroffene in den nächsten Tagen und Wochen im Unternehmen selbst einen kompetenten Ansprechpartner für die weitere Bewältigung finden können. Für diese Aufgabe bieten sich speziell geschulte kollegiale Vertrauenspersonen an, auch „peers“ genannt. Diese Helfer kennen den Betrieb und die Tätigkeit mit allen damit verbunden Details. Dadurch kann eine authentische und pragmatische Hilfestellung gegeben werden. Außerdem ist die Hürde für Betroffene, diese Hilfe anzunehmen, meist niedriger als beispielsweise einen Arzt oder Psychologen aufzusuchen. Es bietet sich zudem an, alle Personengruppen, die mit Betroffenen in Kontakt kommen – das sind insbesondere Führungskräfte, Disposition, Personalabteilung, Betriebsrat – ebenfalls zu sensibilisieren, wie sie am besten mit „frisch traumatisierten“ Kollegen umgehen.
Checkliste
Ist mein Unternehmen vorbereitet?
Betreuungsstrukturen:
- Kein Tabuthema, firmenweit Akzeptanz als berufsbedingtes Risiko, offene Gesprächskultur
- Anlässe und Risikogruppen in der Belegschaft sind bekannt
- Dazu passende Betreuungsstrukturen für die „Psychische Erste Hilfe“ und „Vertrauenspersonen“ sind festgelegt
- Praxistaugliche Abläufe und Verantwortungen für den Umgang mit Unfällen oder Übergriffen sind bekannt
- Notwendiges Material und Equipment sind vorhanden, z. B. Unterlagen, Notfallkärtchen, Einsatzfahrzeug, um zur Unfallstelle zu kommen
- Zusammenarbeit mit Unfallversicherungsträger wird beachtet
- Betreuungskonzept wird sehr nachhaltig bei Mitarbeitern kommuniziert, um Akzeptanz und Vertrauen herzustellen
Betriebliche Akteure:
- Verantwortliche für die „Psychische Erste Hilfe“ und Vertrauenspersonen sind benannt, z.B. Teamleiter oder Kollegen, Betriebsrat, Personalbereich, andere … .
- Akteure sind fachlich gut auf die Aufgabe vorbereitet (Training zu Psychotrauma und Gesprächsführung)
- Zeitliche sowie personelle Kapazität und passende Ausstattung für die Aufgabe der „Psychischen Ersten Hilfe“ sind vorhanden
- betriebliche Akteure sind gut geschult und erhalten regelmäßig Fortbildung/Auffrischung
Experten hinzuziehen:
- Kooperationspartner mit notfallpsychologischem Know-how
- Ideal: Betroffene können unbürokratisch und schnell eine Fachberatung aufsuchen
Für die Autorinnen
Beate Köhler
Arbeitspsychologin
ias Aktiengesellschaft
Wendenstraße 8–1220097 Hamburg