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Psychotherapeutenverfahren | Versorgungsstrukturen bei traumatischen Ereignissen am Arbeitsplatz

Versorgungsstrukturen bei traumatischen Ereignissen am Arbeitsplatz

Einleitung

Berufsgenossenschaften und Unfallkassen als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (UV-Träger) stellen auch bei psychischen Folgen von Arbeits- und Wegeunfällen eine geeignete Behandlung und Rehabilitation sicher. Grundlage ist das 2012 eingeführte Psychotherapeutenverfahren. Aktuell nehmen bundesweit 667 Psychotherapeuten am Netzwerk Psychotherapie der DGUV teil. Im Jahr 2016 wurde in über 6800 Fällen eine psychotherapeutische (Mit-)Versorgung von Versicherten mit psychischen Folgen nach Arbeitsunfällen sichergestellt. Voraussetzung für die erfolgreiche Rehabilitation ist es, dass Versicherte mit psychischen Belastungen identifiziert werden und die psychotherapeutische Frühintervention zügig beginnt. Im Falle eines traumatisierenden Erlebnisses am Arbeitsplatz oder auf dem Weg zur Arbeit kann die Wiedereingliederung besondere Rahmenbedingungen erfordern. Für die Tertiärprävention von der Einleitung professioneller psychotherapeutischer Unterstützung bis zur Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit sind die UV-Träger verantwortlich ( Abb. 1). Die Betreuung von Betroffenen muss aber bereits unmittelbar nach dem traumatischen Ereignis einsetzen. In dieser Phase der Sekundärprävention sind die betrieblichen Akteure gefragt: Führungskräfte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Sicherheitsbeauftragte sowie die Mitarbeitervertretungen, gegebenenfalls auch spezielle betriebliche Einrichtungen und Beauftragte. Betriebsärzte sind wichtige Ansprechpartner und beraten bei der Prävention und Rehabilitation.

Psychische Unfallfolgen im beruflichen Kontext

Die rechtlichen Anforderungen an einen Arbeits- bzw. Wegeunfall mit psychischen Folgen (§ 8 SGB VII) unterscheiden sich wesentlich von den Diagnosekriterien der Krankheits-Klassifikationssysteme nach ICD-10 oder DSM-5. Psychische Unfallfolgen erfordern insbesondere kein belastendes Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß im Sinne der posttraumatischen Belastungsstörung.

Im beruflichen Kontext können sehr unterschiedliche Konstellationen von Arbeits- und Wegeunfällen psychische Folgen nach sich ziehen. Beispielsweise gibt es bei einem Maschinenunfall mit gravierenden körperlichen Verletzungen oder nach einem schweren Verkehrsunfall mit lebensbedrohlichem Polytrauma immer auch eine Extrembelastung, aus der sich eine psychische Störung entwickeln kann. Beschäftigte können zudem von belastenden Ereignissen am Arbeitsplatz mittelbar betroffen sein, ohne selbst körperliche Schäden davon zu tragen, wenn sie als Ersthelfer bei einem schweren Unfall tätig oder Zeuge eines solchen werden, etwa bei einem Brandunglück.

In einigen Berufen und Branchen sind Gewalt und Aggression zu einer allgegenwärtigen Gesundheitsgefahr und psychischen Belastung geworden. Bei Bedrohungs- und Gewaltereignissen und insbesondere bei wiederholt erlebten Übergriffen am Arbeitsplatz ist deshalb mit einem erhöhten Risiko für psychische Gesundheitsfolgen zu rechnen. Besonders gefährdet sind Zugbegleiter, Verkaufspersonal, Krankenschwestern und Pfleger, Taxifahrer, Rettungskräfte, Wach- und Sicherheitsleute sowie weitere Beschäftigtengruppen mit intensivem Kontakt zu Kunden, Patienten, betreuten Personen oder Klienten.

Weiterhin sind Großschadensereignisse zu nennen, bei denen fast regelmäßig auch versicherte Beschäftigte betroffen sind. Besonderes mediales Interesse haben das Zugunglück von Bad Aibling am 09. 02. 2016 erfahren, mit zahlreichen Opfern unter den Berufspendlern, sowie der Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am 19. 12. 2016, bei dem Beschäftigte der Verkaufsstände Opfer wurden. Auch für die involvierten Rettungskräfte können hierbei psychisch außergewöhnliche Einsatzerfahrungen bestehen.

Diagnosen bei psychischen Unfallfolgen

Im Falle eines Extremereignisses am Arbeitsplatz, wie dem Miterleben eines Brandunglücks, erleiden keineswegs alle Beschäftigten des Unternehmens einen Arbeitsunfall, auch wenn sie vorübergehend psychisch belastet sind. Bei der Mehrzahl der Betroffenen treten keine dauernden gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf. Nur bei einer kleineren Gruppe kommt es zu behandlungsbedürftigen psychischen Unfallfolgen.

Wenn behandlungsbedürftige psychische Unfallfolgen auftreten, ist das Spektrum der Störungen so breit wie die Fälle verschieden sind. Zu nennen sind die akute Belastungsreaktion, Anpassungsstörungen, spezifische Phobien, posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen und depressive Episoden sowie anhaltende Schmerzstörungen in Verbindung von körperlichen und psychischen Faktoren ( Abb. 2). Dabei ist die posttraumatische Belastungsstörung keineswegs die häufigste psychische Unfallfolge. Nach den Diagnosekriterien der ICD-10 und des DSM-5 kann diese zudem nicht unmittelbar nach dem belastenden Ereignis festgestellt werden. Insoweit muss dem verbreiteten Missverständnis entgegengetreten werden, die UV-Träger würden nur bei Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung Leistungen erbringen. Die professionelle psychotherapeutische Versorgung kann bereits bei unspezifischen psychopathologischen Auffälligkeiten, bei Verdacht auf klinisch relevante Unfallfolgebeschwerden oder bei besonderen Risikofaktoren im Rahmen von fünf so genannten probatorischen Sitzungen eingeleitet werden.

Probleme der frühzeitigen Meldung

Für die psychotherapeutische Frühintervention bei betroffenen Versicherten ist entscheidend, dass die oben beschriebenen Fälle dem UV-Träger zeitnah gemeldet werden. Der Unternehmer ist zu einer Meldung von Arbeitsunfällen verpflichtet, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen führen (§ 193 SGB VII). Ob tatsächlich ein Arbeitsunfall im Sinne des Gesetzes vorliegt, ist im Einzelfall immer vom UV-Träger für den individuellen Versicherten und Sachverhalt zu prüfen.

In der Praxis treten Probleme bei der Meldung derjenigen Fälle auf, bei denen die Meldepflicht mangels eines körperlichen Schadens nicht offenkundig ist und unmittelbar nach dem Unfallereignis keine Arbeitsunfähigkeit besteht. Bei einer (isolierten) psychischen Belastung durch ein extremes Unfallereignis (z. B. tödliche Brandverletzungen eines Kollegen) bedenken die Verantwortlichen im Unternehmen häufig nicht, dass ein Arbeitsunfall auch für die als direkte Beobachter involvierten Mitarbeiter, bei denen psychische Beeinträchtigungen auftreten, vorliegen könnte. Aus diesen Gründen unterbleibt eine Unfallmeldung an den UV-Träger.

Hinzu kommt, dass es bei einem Extremereignis am Arbeitsplatz möglicherweise erst mit einer zeitlichen Verzögerung zu behandlungsbedürftigen psychischen Unfallfolgen kommt. Insbesondere sekundär traumatisierte Personen im Unternehmen, zum Beispiel Ersthelfer und Brandschutzhelfer, können aus dem Blick geraten. Wenn diese erst mit zeitlicher Verzögerung psychische Symptome entwickeln, wird häufig keine Meldung erstattet. Die UV-Träger empfehlen in diesen Fällen, möglichst alle Betroffenen zu erfassen und vorsorglich zu melden, um gemeinsam mit den betrieblichen Akteuren die Versicherten zu identifizieren, die einer psychotherapeutischen Unterstützung bedürfen.

Bei Gewalt und Aggression, die als berufstypische Belastungen häufig noch bagatellisiert und tabuisiert werden, gehen die UV-Träger ebenfalls von einer hohen Dunkelziffer fehlender Meldungen aus. Dies gilt nicht nur für körperliche Übergriffe, sondern auch für Bedrohungen, Beleidigungen, Anpöbeleien, für das Anspucken und andere Formen von verbaler Gewalt am Arbeitsplatz durch z. B. Kunden, Patienten, betreute Personen oder Klienten sowie sonstige außenstehende Personen. Viele Betroffene zeigen erst später psychische Auffälligkeiten und konsultieren ihren Hausarzt, ohne dass der UV-Träger hiervon erfährt. Die UV-Träger empfehlen deshalb eine Meldung von Gewaltereignissen selbst dann, wenn keine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen vorliegt. Auch vermeintliche Bagatellunfälle durch Gewalt und Aggression sollten betriebsintern im Verbandsbuch oder in einer anderen geeigneten Form dokumentiert werden. Dann kann ein Gewaltereignis gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt an den UV-Träger gemeldet und die genauen Umstände können nachvollzogen werden.

Eine intensive Informations- und Aufklärungspolitik der UV-Träger zu Gewalt und Aggression am Arbeitsplatz trägt sicher dazu bei, dass eine stärkere Sensibilisierung für die Meldung von Bedrohungs-, Übergriffs- und Gewaltereignissen erreicht wird. Zudem ist zu erwarten, dass die öffentliche Diskussion über Angriffe auf Rettungskräfte, Feuerwehrleute und Polizisten sowie die am 30.05.2017 in Kraft getretenen Strafverschärfungen bei tätlichen Angriffen auf diesen Personenkreis zu höheren Meldezahlen auch bei anderen Beschäftigtengruppen führen werden.

DGUV-Psychotherapeutenverfahren

Das Psychotherapeutenverfahren der Deutschen Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) wurde zum 01.07.2012 eingeführt und ist inzwischen in § 1 Abs. 2 des mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung abgeschlossenen Vertrags Ärzte/Unfallversicherungsträger verankert. Ziel ist es, für Versicherte mit psychischen Auffälligkeiten bzw. Störungen frühzeitig professionelle Hilfe sicherzustellen. Das Psychotherapeutenverfahren soll die ambulante Versorgung von der Akutintervention bis zur beruflichen Reintegration gewährleisten. Die Einleitung des Verfahrens obliegt sowohl den UV-Trägern als auch den Durchgangsärzten, die als „Lotsen“ im Rehabilitationsprozess fungieren.

Im Psychotherapeutenverfahren werden ärztliche und psychologische Psychotherapeuten als Leistungserbringer beteiligt, wenn sie über Fachkenntnisse in der leitliniengerechten Diagnostik und Behandlung von typischen Störungen nach Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten verfügen, vertiefende praktische Erfahrungen in der Behandlung entsprechender Belastungs- und Folgestörungen sowie definierte traumabezogene Fortbildungen nachweisen können. Eine Kassenzulassung durch die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht erforderlich. Vorausgesetzt wird die Anwendung von evidenzbasierten Behandlungsverfahren, die sich an den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) orientieren, insbesondere an der AWMF-Leitlinie „Akute Folgen psychischer Traumatisierung – Diagnostik und Behandlung“, die sich derzeit in Revision befindet.

Darüber hinaus haben die Therapeuten besondere Pflichten im Rahmen des SGB-VII-Versorgungsauftrags. Sie müssen Versicherten der UV-Träger innerhalb einer Woche einen ersten Behandlungstermin gewährleisten. Sitzungen sollen in der Regel im Abstand von ein bis maximal zwei Wochen stattfinden, wobei die Sitzungsfrequenz individuell festzulegen ist. Die beteiligten Psychotherapeuten haben den UV-Trägern formgebunden und kontinuierlich über den Behandlungsverlauf zu berichten. Sie müssen das Reha-Management der UV-Träger unterstützen und den Fokus auf eine rasche berufliche Reintegration richten. Das DGUV-Psychotherapeutenverfahren hat ein eigenständiges Gebührenverzeichnis. Sitzungen im Rahmen der Probatorik und der Psychotherapie werden derzeit mit 110 € (pro Sitzung à 50 Minuten) vergütet. Hinzukommen Berichtsgebühren und Honorare für Sonderleistungen, etwa die Begleitung von Fahrtrainings nach Wegeunfällen oder andere Konfrontationsübungen außerhalb der psychotherapeutischen Praxis.

Die Kontaktdaten der am DGUV-Psychotherapeutenverfahren beteiligten Leistungserbringer können in einer Datenbank der Landesverbände der DGUV recherchiert werden. Adressen qualifizierte Psychotherapeuten in Wohnortnähe können zudem bei allen UV-Trägern oder bei den Landesverbänden der DGUV erfragt werden.

Ablauf im Behandlungsfall

Psychotherapeuten werden in der Praxis von den UV-Trägern und den Durchgangsärzten eingeschaltet, wenn sich – auch unspezifische – psychische Auffälligkeiten (z. B. erhöhte Reizbarkeit, Schlafstörungen, Ängstlichkeit, Niedergeschlagenheit) zeigen oder sich eine psychische Störung bereits manifestiert hat. Die UV-Träger werden dabei ganz unabhängig von einem Antrag der Versicherten aktiv und zudem immer dann, wenn Betroffene sich (formlos) melden, um professionelle Hilfe zu bekommen. Auch wenn Probleme bei der psychischen Anpassung an körperliche Unfallfolgen auftreten (z. B. anhaltende Schmerzen, Brandnarben, Amputationsverletzung, Lähmungen), wird das Psychotherapeutenverfahren angewendet. Eine Indikation kann auch bei Symptomen unterhalb des Vollbilds einer psychischen Störung (z. B. isolierte Ängste im Straßenverkehr nach einem Wegeunfall) gegeben sein, um die vollständige Leistungsfähigkeit wiedererlangen zu können. Schließlich können Psychotherapeuten bei allen anderen rehabilitativen Maßnahmen zur Reintegration in das Erwerbsleben eingebunden werden, etwa wenn eine Arbeitsplatzbegleitung bei der stufenweisen Wiedereingliederung notwendig erscheint.

Am Anfang der Konsultation eines Psychotherapeuten steht die Abklärung, ob eine professionelle Intervention und Behandlung in Form probatorischer Sitzungen bzw. einer Psychotherapie indiziert ist. Versicherte erhalten unbürokratisch bis zu fünf probatorische Sitzungen, ohne dass eine Genehmigung des UV-Trägers benötigt wird ( Abb. 3). Im Interesse der Frühintervention und zur Vermeidung von Chronifizierungen wird die an sich notwendige Beurteilung, ob die psychischen Störungen unfallbedingt sind, zunächst zurückgestellt. Weitere Sitzungen im Anschluss an die Probatorik müssen dann von dem Psychotherapeuten beantragt und von dem UV-Träger genehmigt werden. Die Genehmigung erfolgt regelmäßig für zunächst maximal zehn Sitzungen. Um die Behandlungskontinuität sicherzustellen, sind die Anträge auf Weiterbehandlung rechtzeitig zu stellen und vom UV-Träger zügig zu entscheiden.

Soweit sich im Behandlungsverlauf Hinweise darauf ergeben, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt unfallunabhängige Faktoren, etwa aufgrund von psychischen Vorerkrankungen, in den Vordergrund treten, kann die Zuständigkeit anderer Sozialleistungsträger gegeben sein. Dann ist es Aufgabe des UV-Trägers, in Abstimmung mit dem behandelnden Psychotherapeuten eine Überleitung zu erreichen, um die ambulante Psychotherapie nahtlos fortsetzen zu können (§§ 10, 12 SGB IX – Koordinierungspflicht und Zusammenarbeit). Im Hinblick auf den in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsatz der Ablösung der Unternehmerhaftung kann auch eine Begutachtung erforderlich werden, um die Leistungspflicht des UV-Trägers zu klären. Die Kausalität ist insbesondere bei anhaltenden psychischen Beschwerden, die sich nicht durch die psychotherapeutische Behandlung beeinflussen lassen, bei einer Ausweitung des Beschwerdebilds oder bei Hinweisen auf konkurrierende Ursachen für die Entstehung oder Unterhaltung der psychischen Beschwerden (sog. Verschiebung der Wesensgrundlage) zu prüfen.

Statistische Zahlen

Am Psychotherapeutenverfahren der DGUV sind aktuell 667 Netzwerkpartner beteiligt, von denen etwa 80 % psychologische und 20 % ärztliche Psychotherapeuten sind. Im Jahr 2016 wurden 6858 Behandlungsfälle von insgesamt 611 Psychotherapeuten statistisch erfasst. Damit entfielen auf jeden Therapeuten durchschnittlich 12 Behandlungsfälle. Die UV-Träger greifen zudem im Bedarfsfall auf eigene Therapeutenlisten bzw. nicht im Psychotherapeutenverfahren der DGUV beteiligte Therapeuten zurück, insbesondere in unterversorgten ländlichen Gebieten.

Die statistischen Daten des DGUV-Psychotherapeutenverfahren weisen auch die Behandlungsdauer aus. Zu berücksichtigen ist, dass seit dem Erfassungsjahr 2015 nur abgeschlossene Behandlungsfälle dokumentiert werden, so dass die Daten in der Zeit von 2013–2016 keine konsistente Grundlage haben und Fälle mit langer Behandlungsdauer unterrepräsentiert sind. 2016 wurde bei den insgesamt 6858 Fällen ein Behandlungsabschluss in 50 % (n = 3432) nach fünf probatorischen Sitzungen und in 25 % (n = 1725) nach weiteren zehn Sitzungen erreicht ( Abb. 4). Bei etwa 25 % (n = 1701) war ein Behandlungsabschluss erst nach mehr als 15 Sitzungen möglich.

Im Verhältnis zu den ca. 1,06 Millionen meldepflichtigen Arbeitsunfällen 2016 ist die Anzahl der im DGUV-Psychotherapeutenverfahren erfassten Behandlungsfälle klein. Gerade bei diesen Fällen treten aber häufig Verzögerungen im Heilverfahren auf, die eine besondere Steuerung im Reha-Management erforderlich machen.

Auf die einzelnen UV-Träger entfallen sehr unterschiedliche Fallzahlen von Versicherten im DGUV-Psychotherapeutenverfahren. Die UV-Träger mit einer hohen Gefährdung durch Gewalt und Aggression am Arbeitsplatz, die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG), die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), die Berufsgenossenschaft für Handel und Warendistribution (BGHW), und die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand (UVöD) sind besonders betroffen ( Abb. 5).

Rolle der Betriebs- und Werksärzte

Betriebs- und Werksärzten kommt bei der Prävention und Rehabilitation von bzw. nach traumatischen Ereignissen eine wichtige Rolle zu. Bei Gewalt und Aggression am Arbeitsplatz und anderen gehäuft im Unternehmen auftretenden (potenziell) traumatischen Ereignissen beraten sie bei der Gefährdungsbeurteilung sowie bei der Planung und Umsetzung von Präventions- und Notfallkonzepten. Betriebsärztliche Dienste unterstützen zudem bei der Erstbetreuung und koordinieren Meldewege zum Durchgangsarzt bzw. zum UV-Träger, um im Bedarfsfall das Psychotherapeutenverfahren für einzelne Betroffene einzuleiten. Auf Basis eines Betreuungskonzepts und in Abstimmung mit dem zuständigen UV-Träger können Betriebs- und Werksärzte Versicherte nach Gewaltereignissen auch direkt – ohne Einschaltung des Durchgangsarztes – bei einem Psychotherapeuten vorstellen, wie dies bei großen Verkehrsbetrieben mit häufigen Gewaltereignissen bereits praktiziert wird. In einem umfassenden Betreuungskonzept für traumatische Ereignisse ist insbesondere Vorsorge für die Personengruppen zu treffen, die sekundär traumatisiert sein können (Ersthelfer, Brandschutzhelfer) oder bei denen eine psychische Belastung erst mit zeitlicher Verzögerung erkennbar wird. Die Beobachtung und Identifikation von potenziellen Betroffenen im Sinne einer systematischen und aufmerksamen Verlaufsbeobachtung (englisch: „watchful waiting“) können in idealer Weise betriebsärztliche Dienste übernehmen.

Wenn bei Versicherten mit psychischen Unfallfolgen im Behandlungsverlauf bzw. während der Rehabilitation Fragen auftreten, können Betriebs- und Werksärzte bei Vorlage einer Schweigepflichtentbindung Auskünfte vom UV-Träger erhalten, etwa zur Kostenübernahme der Psychotherapie. Reha-Managerinnen und Reha-Manager der UV-Träger, die die medizinische Rehabilitation sowie Teilhabeleistungen koordinieren und steuern, stehen regelmäßig auch mit dem jeweiligen Unternehmen, den betrieblichen Akteuren sowie den Betriebs- und Werksärzten in Kontakt.

Schließlich sind Betriebs- und Werksärzte ganz wesentliche Ansprechpartner bei der Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Insbesondere nach Gewaltereignissen und Übergriffen am Arbeitsplatz ist die Wiederaufnahme der Arbeit für die Betroffenen oft mit großen Ängsten verbunden. Betriebs- und Werksärzte können hier Hilfestellung bei der stufenweisen Wiedereingliederung geben und dem Reha-Management der UV-Träger, aber auch den behandelnden Psychotherapeuten bei der Planung und Umsetzung des Wiedereinstiegs beratend zur Seite stehen.

Fazit

Das DGUV-Psychotherapeutenverfahren ist bei den UV-Trägern inzwischen fest etabliert. Eine erfolgreiche Rehabilitation nach traumatischen Ereignissen erfordert jedoch weit mehr: ein gut funktionierendes Netzwerk zwischen den betrieblichen Akteuren, Betriebs- und Werksärzten, den UV-Trägern und den Psychotherapeuten als Leistungserbringern. Insoweit kann es bei Unternehmen mit einer hohen Gefährdungslage für (potenziell) traumatische Ereignisse sinnvoll sein, in einen regelmäßigen Dialog mit regionalen Psychotherapeuten, die im DGUV-Psychotherapeutenverfahren beteiligt sind, einzutreten. Betriebs- und Werksärzte können hier eine ideale Nahtstelle bilden.

Literatur

Angenendt J, Riering A, Röhrich B, Südkamp N, Berger M: Freiburger Arbeitsunfallstudie-II (FAUST-II). Trauma Berufskrankheit 2012; 14 [Suppl 3]: 299–306.

Angenendt J: Psychische Störungen nach Gewalterleben und Bedrohung – Einführung aus medizinisch-psychologischer Sicht. MedSach 2012; 108: 106–110.

Drechsel-Schlund C, Scholtysik D: Zwischenbilanz – Drei Jahre Psychotherapeutenverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung. DGUV Forum 2015; 10: 18–23.

Flatten G et al.: S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung. Trauma & Gewalt 2011; 3: 202–210.

Ullmann U: Handlungsmöglichkeiten des Psychotherapeuten. In: Windemuth D, Jung D, Petermann O (Hrsg.): Psychische Erkrankungen im Betrieb – Eine Orientierungshilfe für die Praxis. 1. Aufl. Wiesbaden: Universum Verlag, 2014, S. 249-271.

Widder B, Foerster K: Psychoreaktive Störungen. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg.): Neurowissenschaftliche Begutachtung, 3. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2017.

Interessenkonflikt: Alle Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

    Info

    DGUV-Psychotherapeutenverfahren

    Das Psychotherapeutenverfahren dient der zügigen psychologisch-therapeutischen Intervention nach Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten. Damit soll einer Entstehung und Chronifizierung von psychischen Gesundheitsschäden frühzeitig entgegengewirkt werden.

    Nur ärztliche und psychologische Psychotherapeuten, die über spezielle fachliche Befähigungen verfügen und zur Übernahme bestimmter Pflichten bereit sind, können am Psychotherapeutenverfahren beteiligt werden. Diese Therapie wird vom Unfallversicherungsträger oder D-Arzt eingeleitet.

    Weitere Informationen zum Psychotherapeutenverfahren sind in der Handlungsanleitung enthalten. Ansprechpartner für nähere Informationen zum Psychotherapeutenverfahren ist der regional zuständige Landesverband.

    (Quelle: DGUV)

    Weitere Infos

    Leitfaden für Betriebsärzte zu psychischen Belastungen und den Folgen in der Arbeitswelt (DGUV)

    www.dguv.de/medien/inhalt/praevention/bes_praevgr/arbeitsmedizin/documents/leitfaden_psyche_netz_100310.pdf

    DGUV Grundsatz 306-001: Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabiliation

    publikationen.dguv.de/dguv/pdf/10002/306-001.pdf

    DGUV Information 206-017: Gut vorbereitet für den Ernstfall! Mit traumatischen Ereignissen im Betrieb umgehen

    publikationen.dguv.de/dguv/pdf/10002/206-017.pdf

    DGUV-Forum Ausgabe 7/8 2013: Gewalt am Arbeitsplatz

    www.dguv-forum.de/files/594/13-36-021_DGUV_Forum_7_8_2013_SCREEN.pdf

    Handlungsleitfaden zur Prävention von Übergriffen in öffentlichen Einrichtungen (Unfallkasse Baden-Württemberg)

    www.ukbw.de/fileadmin/media/dokumente/Sicherheit___Gesundheit/bgm/literatur/UKBW_Uebergriffe_2015_kompr2.pdf

    Gewalt und Aggression gegen Beschäftigte in Betreuungsberufen (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege)

    https://www.bgw-online.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medientypen/BGW%20Broschueren/BGW08-00-070_Gewalt-und-Aggression-in-Betreuungsberufen_Download.pdf

    Für die Autoren

    Claudia Drechsel-Schlund

    Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege

    Geschäftsführerin Bezirksverwaltung Würzburg

    Röntgenring 2

    97070 Würzburg

    claudia.drechsel-schlund@bgw-online.de