Ausgangslage
Fallbeispiel: Frau Müller leidet seit Jahren an Ängsten und schafft es trotz allem fast immer, an ihrem Arbeitsplatz in einem Großraumbüro zu erscheinen. Fast täglich kämpft sie mit ihren Ängsten und motiviert sich täglich von neuem, zur Arbeit zu gehen. Ist sie dort angekommen, macht sie ihre Sache gut und wird auch von den Kollegen geschätzt. Niemand weiß von ihren Ängsten. An manchen Tagen schafft sie es nicht, morgens aus dem Bett zu kommen, dann sind ihre Ängste zu stark. Das sind die Tage, an denen sie sich krankmelden muss.
Eines Tages spricht ihr Vorgesetzter sie auf ihre Fehlzeiten an. „Sie fehlen häufig ganze Tage, oft auch am Montag, kommen dann wieder und ich kann nicht erkennen, dass sie krank werden, und wenn sie wieder da sind, sehe ich auch nicht, dass sie wieder gesund sind.“
Diese kleine Szene beschreibt ein Problem, das sowohl der Betroffene als auch die Führungskraft und zuletzt natürlich auch die Kollegen mit dieser Art von Erkrankung haben. Sie erleben, dass ein Kollege fehlt, wieder am Arbeitsplatz erscheint und so gut wie gar nichts oder wenig von seiner Erkrankung preisgibt. Ein Mitarbeiter, der an einer psychischen Störung leidet, weiß, dass man ihm nicht unbedingt ansieht, dass er krank ist. Er wünscht sich, es wäre anders – lieber wäre ihm eine körperliche Erkrankung.
Eine psychische Störung ist oft nicht offensichtlich, die Betroffenen sehen meist nicht im klassischen Sinne krank aus. Sie haben kein Fieber, keine laufende Nase, müssen keinen Verband tragen und nicht an Krücken laufen. Eine psychische Störung ist auch nicht auf einzelne Körperteile begrenzt, sondern erfasst den ganzen Menschen: seine Wahrnehmung, das Denken, die körperlichen Empfindungen, die Erlebnisverarbeitung, die Gefühle, das Verhalten und die Beziehungen zu sich selbst und zu anderen.
Eine psychische Erkrankung ist anders als eine somatische
Dementsprechend sind auch ihre Auswirkungen anders als bei somatischen Erkrankungen. Es kommt z. B. im Arbeitsverhalten zu Beeinträchtigungen der Konzentration, des Leistungsvermögens, der Belastbarkeit, der Ausdauer und des Durchhaltevermögens, des Sozialverhaltens und vor allem des Selbstvertrauens.
Stigmatisierung
Ein weiteres Problem, das einen unkomplizierten Umgang mit Krankheit erschwert, ist: Eine psychische Störung ist immer noch stigmatisiert, wenn auch nicht mehr so gravierend, wie noch vor 10 Jahren
Obwohl inzwischen immer mehr Menschen sich in Behandlung begeben und therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, ist von diesem neuen Umgang mit psychischen Erkrankungen in den Betrieben wenig angekommen. Laut einer Untersuchung der DAK bestehen bei den Betroffenen immer noch große Ängste, offen über ihre Erkrankung zu sprechen und zu ihr zu stehen – aus Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und vor Ablehnung von Kollegen und Vorgesetzten. Die Angst vor Stigmatisierung behindert häufig eine rasche Behandlung, weil neben den langen Wartezeiten auch der Gang zum Psychiater bzw. zum Psychotherapeuten durch die Stigmatisierung beeinträchtigt wird. „Ich bin doch nicht …“ Wir gehen mit vielen Beschwerden zum Facharzt, nur unserer Seele verweigern wir eine fachgerechte Behandlung.
Angst trifft Unsicherheit
In dem Fallbeispiel von Frau Müller ergibt sich folgende Situation: Sie ist nun doch einmal länger ausgefallen. Die Personalabteilung hat festgestellt, dass der Betrieb ihr aufgrund ihrer Fehlzeiten ein BEM anbieten muss und Frau Müller erhält ein Schreiben mit einer Einladung. Die Betroffenen fragen sich oft: „Was wollen die von mir?“ und der Anspannungspegel steigt blitzartig an, verbunden mit der Angst um den Arbeitsplatz, auch wenn diese Sorgen völlig unbegründet erscheinen. In vielen Köpfen steckt noch die Erfahrung: Wer länger krank ist, wird entlassen. Hier wird noch einmal deutlich, wie wichtig eine gründliche Information über die Einführung eines BEM ist. Nur wenn alle Beteiligten und auch die Betroffenen BEM als einen Paradigmenwechsel im Umgang mit kranken Mitarbeitern verstehen, kann ein BEM-Verfahren begonnen werden.
Im Betrieb herrscht oft Unsicherheit bei den BEM-Verantwortlichen, den Vorgesetzten und auch bei den Beschäftigten. Wie sollen die Verantwortlichen mit Frau Müller nach ihrer Rückkehr in den Betrieb umgehen? Was dürfen alle Beteiligten von der Erkrankung von Frau Müller wissen? Soll die Kollegin geschont werden, wie kann sie angesprochen werden?
Die Unsicherheiten von Seiten des BEM-Teams sollten nicht dazu führen, das BEM nicht durchzuführen. Im Grunde genommen bietet diese Unsicherheit auf allen Seiten eine gute Möglichkeit für einen gemeinsamen, offenen Suchprozess.
Das BEM-Gespräch
Bei keinem BEM geht es so sehr um die persönliche Auseinandersetzung mit sich selbst als im BEM von Mitarbeitern mit psychischen Störungen. Es beginnt bei der Haltung und Einstellung der beteiligten Personen und wird in jedem weiteren Schritt des BEM-Prozesses deutlich werden.
Ein BEM kann gelingen, wenn der Erstkontakt positiv gestaltet wird und dem Betroffenen erste Ängste genommen werden. Das gelingt am besten, wenn die Mitglieder des BEM-Teams sich neugierig und ohne Vorbehalte sowie Bewertungen auf ein BEM einlassen und in der Haltung wohlwollend, respektvoll, klar und authentisch gegenüber dem BEM-Berechtigten auftreten.
Der BEM-Berechtigte hat eine Krise erlebt und wird nach der Krise nicht mehr derselbe sein. Er muss sich nun ganz neu mit seiner Arbeitssituation auseinandersetzen. Dem BEM-Team sollte ein wichtiger Punkt präsent sein: Schon im ersten Gespräch geht es für den BEM-Berechtigten um Vertrauen: um das Vertrauen zu den Beteiligten, das Vertrauen in den Prozess und um den Gewinn von Selbstvertrauen und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten.
In vielen BEM-Betriebsvereinbarungen ist geregelt, dass der BEM-Berechtigte für das Erstgespräch ein Mitglied aus dem BEM-Team oder aber auch einen anderen Beschäftigten seines Vertrauens wählen kann. Gut wäre auch, wenn eine Betriebsvereinbarung möglich macht, dass der BEM-Berechtigte eine Person seines Vertrauens mitbringen kann, die ihn unterstützt und ihm Sicherheit vermittelt.
Das BEM-Team sollte sich vor Beginn des BEM mit seiner Haltung zum Thema „psychische Störung“ auseinandersetzen: Wie ist die Einstellung zu psychischen Störungen? Wie ist meine persönliche Haltung zum BEM-Berechtigten? Jedes Teammitglied wird im Laufe der Gespräche auch einmal mit leidvollen Themen konfrontiert werden, wenn der BEM-Berechtigte Vertrauen fasst, sich öffnet und seine Situation schildert. Derartige Schilderungen haben schon in BEM-Teams Ratlosigkeit erzeugt. Da bedarf es Empathie, Feingefühl und der Fähigkeit, sich innerlich zu distanzieren und zu den sachlichen Fragen im BEM zurückzukehren. Der Wechsel zur Sachebene kann für den Betroffenen durchaus eine Entspannung und Erleichterung bedeuten. Leitfragen im BEM können eine Hilfestellung sein (s. Infokasten).
Stufenweise Wiedereingliederung
Die stufenweise Wiedereingliederung ist wohl eines der am meisten verwendeten Verfahren im Rahmen des BEM und sollte bei Mitarbeitern mit psychischen Störungen grundsätzlich durchgeführt werden. Bei BEM-Berechtigten mit psychischen Beeinträchtigungen ist die stufenweise Wiedereingliederung ein Bestandteil des Genesungsprozesses und dient der beruflichen Rehabilitation. Sie ist sozusagen eine betriebliche Rehabilitationsmaßnahme mit einem intensiven Training und einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Arbeitsverhalten, den Leistungsansprüchen und der Arbeitseinstellung. Es geht dabei immer um die Erprobung und Steigerung der Belastbarkeit sowie die Steigerung von Konzentrations- und Durchhaltevermögen. Ganz bedeutsam ist, die fachlichen Anforderungen so zu gestalten und an vorhandene Fähigkeiten anknüpfen, dass Erfolgserlebnisse möglich sind, die das Selbstvertrauen und die Selbstsicherheit stärken.
Ein weiteres Ziel während der stufenweisen Wiedereingliederung ist das Training neuer Verhaltensweisen wie beispielsweise, eigene Grenzen zu erkennen und Grenzen zu setzen, Kollegen um Hilfe bitten, Pausen einzuhalten, neue Arbeitsstrukturen zu entwickeln und vieles mehr. Auch die Begegnung mit den Kollegen und der Führungskraft muss neu definiert und gestaltet werden. Die Ziele und die Ausgestaltung der stufenweisen Wiedereingliederung sind sehr individuell und dienen alle dem Ziel, wieder einen dauerhaften Einsatz am Arbeitsplatz zu erreichen. Es hat sich gezeigt, dass die Erfolgsquote umso höher ist, je individueller die Planung des Arbeitseinsatzes erfolgt.
Erstellung des Stufenplans: inhaltlich, zeitlich, sozial
Grundlage der weiteren Planungen sind ein Fähigkeits- und Anforderungsprofil und – soweit vorhanden – die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen für den Arbeitsplatz.
Für die Bewertung der Passung von Anforderungs- und Fähigkeitsprofil sollte der Betriebsarzt miteinbezogen werden. Das hat viele Vorteile. Der Betriebsarzt kennt die Arbeitsplätze und kann, wenn eine Schweigepflichtsentbindung vorliegt, mit der Reha-Klinik oder den behandelnden Ärzten kooperieren und mit seinen arbeitsmedizinischen Kenntnissen und Erfahrungen ganz wesentlich zur Gestaltung der Wiedereingliederung beitragen.
Für die zeitliche Planung ist eine individuelle, auf die Bedürfnisse des BEM-Berechtigten zugeschnittene Planung notwendig nach der Devise: Alles ist möglich – immer in Absprache mit dem behandelnden Arzt, dem Betrieb und der Krankenkasse. Sinnvoll ist es, mit einer geringen Stundenzahl zu beginnen und die Belastbarkeit langsam zu steigern.
Die inhaltlichen Anforderungen sollten so gestaltet werden, dass positive Ergebnisse zu erwarten sind. Für eine stufenweise Wiedereingliederung mit kleinen Schritten sollte die Zeit bis zum Ablauf des Krankengeldes beachtet werden.
Der sozialen Wiedereingliederung sollte besondere Beachtung geschenkt und mit dem BEM-Berechtigten besprochen werden. Gab es Konflikte, die vor Beginn der stufenweisen Wiedereingliederung geklärt werden müssen? Wer darf was wissen? Will der BEM-Berechtigte etwas über seine Erkrankung preisgeben? Es muss auf keinen Fall die Diagnose sein, es hat sich aber gezeigt, dass viele Betroffene sich entschieden haben, sich gegenüber den Kollegen und Kolleginnen über ihre noch vorhandenen Beeinträchtigungen zu äußern. Den Kollegen fällt es dann oft leichter, den BEM-Berechtigten bei seiner Wiedereingliederung zu unterstützen.
Für die Dauer der Wiedereingliederung sollten regelmäßige Termine zur Reflektion des Verlaufs eingeplant werden, um eine Anpassung vornehmen zu können.
Häufig wird bei der stufenweisen Wiedereingliederung ein großer Fehler begangen, der diese auch leicht zum Scheitern bringen kann: Der Beschäftigte wird während seiner Wiedereingliederung wie ein Teilzeitmitarbeiter betrachtet und auch in seiner Leistungsfähigkeit bewertet. Richtig ist vielmehr: Der BEM-Berechtigte erhält keinen Lohn und der Arbeitgeber hat keinen Anspruch auf eine Arbeitsleistung.
Abschied, Umorientierung und Neubeginn
Das BEM von Mitarbeitern mit einer psychischen Störung erfordert für alle Beteiligten auch die Auseinandersetzung mit anderen existenziellen Fragen. Nicht alle Krankheitsverläufe sind so, dass sie nahtlos in eine erfolgreiche Stufenweise Wiedereingliederung einmünden.
Manch einer muss auch Abschied nehmen von Arbeiten, die er aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen nicht mehr ausüben kann. Beispielsweise ist eine Tätigkeit im Umgang mit Kunden oder eine Tätigkeit in der Pflege mit Patienten oft nicht mehr möglich. Dann tauchen neue Fragen im Verlauf auf: Ist eine berufliche Neuorientierung möglich? Gibt es einen anderen Arbeitsplatz im Unternehmen? Ist für einen neuen Arbeitsplatz eine Qualifizierung nötig? Oder muss der BEM-Berechtigte sich mit einer Umschulung auseinandersetzen und sich am Ende vielleicht sogar einen neuen Arbeitsplatz suchen?
Hilfreich für all diese Fragen ist ein BEM-Team, das sich auskennt mit den Möglichkeiten, die die Sozialversicherungsträger gemäß SGB finanzieren können. Oder aber es zeigt sich während der stufenweisen Wiedereingliederung, dass die Belastbarkeit sich nicht mehr bis zu einer Vollzeittätigkeit steigern lässt und derzeit eher an eine Teilzeitstelle gedacht werden muss. Kann für die restliche Zeit zur finanziellen Absicherung eine Teilerwerbsminderungsrente beantragt werden?
Bei ungünstigem Krankheitsverlauf ist manchmal nicht abzusehen, wie lange es dauern wird, bis die Erwerbsfähigkeit wieder erreicht wird. In diesen Fällen sollte ein BEM-Team auch an die finanzielle Absicherung denken und zu einem Antrag auf Erwerbsminderung raten.
Alle Möglichkeiten der Förderung und Finanzierung sind im SGB IX geregelt.
Fallbeispiel
Wie geht es mit Frau Müller weiter?
Frau Müller hat die Einladung zum BEM bekommen und weiß nicht, was der Betrieb von ihr will. Sie hat Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Eine Betriebsrätin meldet sich bei ihr und erklärt ihr genau das ganze Verfahren. Sie erläutert die Ziele des BEM und erklärt, dass zwar der Arbeitgeber verpflichtet sei, das BEM anzubieten, Frau Müller aber als BEM-Berechtigte der „Souverän“ des Verfahrens sei. Ihre Teilnahme sei freiwillig und der Datenschutz ein hohes Gut im BEM. Nachdem Frau Müller gehört hat, dass es um ihre Gesundheit und den Erhalt des Arbeitsplatzes geht, willigt sie ein. Sie ist immer noch verunsichert, denn es hat sie noch nie jemand gefragt, ob denn ihre Probleme etwas mit der Arbeit zu tun hätten und was der Betrieb tun könnte, um sie zu unterstützen. Das waren für Frau Müller ganz neue Töne. Sie war, wenn es um Arbeit und Leistung ging, gewohnt, dass andere ihr sagen, was sie zu tun hat. Nun ging es plötzlich um sie.
Erstes BEM-Gespräch: Im ersten BEM-Gespräch sind als Fallmanagerin und Vertreterin des Arbeitgebers eine Mitarbeiterin aus der Personalabteilung und die Betriebsrätin dabei. Kaffee und Tee stehen auf dem Tisch und Frau Müller wird freundlich empfangen. Sie fragen nach, wie es Frau Müller geht und langsam kommt ein Gespräch in Gang und Frau Müller fasst Vertrauen. Sie erzählt von ihren Ängsten und ihren Problemen. Sie berichtet auch, dass die Bemerkung ihres Vorgesetzten sie sehr gekränkt habe, denn der wisse ja gar nicht, wie sehr sie sich anstrengen muss, um zur Arbeit zu kommen und die Arbeit auch zu schaffen. Sie ermutigen Frau Müller, das Gespräch mit dem Vorgesetzten zu suchen. Frau Müller zögert. Als die beiden vorschlagen, ihn zu nächsten BEM-Gespräch einzuladen, willigt sie ein. Frau Müller berichtet, dass es in den letzten Jahren eine Arbeitsverdichtung gegeben habe und die Arbeit insgesamt komplexer geworden sei. Sie beschreibt, dass ihre Ängste zugenommen haben, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Sie habe einen hohen Leistungsanspruch an sich selbst und möchte ihre Arbeit möglichst perfekt abliefern. Sie berichtet auch von den Ängsten, die am Morgen manchmal so stark seien, dass sie nicht aus dem Haus komme.
Wie könnte es für Frau Müller gut weitergehen und wie könnte der Betrieb sie unterstützen? Frau Müller wünscht sich eine ganz langsame Wiedereingliederung, in der sie Zeit bekommt, zunächst alles während ihrer Krankheit Liegengebliebene in Ruhe ohne das Tagesgeschäft aufarbeiten zu können. Schrittweise sollten dann die anderen Aufgaben wieder hinzukommen. Dabei sollte ein genaues Augenmerk auf die Arbeitsmenge gelegt werden, die Frau Müller gut schaffen kann. Für Vertretungssituationen brauche sie klare Absprachen über das, was wirklich vertreten werden muss. Für die Überwindung der morgendlichen Ängste wünsche sie sich einen späteren Arbeitsbeginn, um die Fehltage zu reduzieren.
Die Fallmanagerin und die Betriebsrätin legen ihr ans Herz, offener mit ihren Beeinträchtigungen durch die Erkrankung umzugehen. Die Betriebsrätin schlägt zusätzlich ein Gespräch mit der Schwerbehindertenvertrauensfrau vor.
Nach dem ersten Gespräch trennen sich die drei und vereinbaren ein weiteres Gespräch mit dem Vorgesetzten. Mit ihm gemeinsam wollen sie dann die stufenweise Eingliederung planen.
Folgegespräch: Zuerst kommt es zu einer Aussprache zwischen Frau Müller und ihrem Chef. Der Chef ist sehr betroffen, als er von den Ängsten erfährt und ermutigt sie, auch gegenüber den Kollegen etwas offener zu sein. Gleichzeitig drückt er ihr gegenüber seine Wertschätzung aus, er habe in ihr eine zuverlässige Mitarbeiterin, die gute Arbeit leiste.
Nun machen die vier sich gemeinsam an die inhaltliche Gestaltung der stufenweisen Wiedereingliederung. Den zeitlichen Ablauf und die Stufen wird Frau Müller mit ihrem Arzt besprechen. Ob und was Frau Müller ihren Kollegen im Großraumbüro von sich preisgibt, muss sie sich noch überlegen.
Wie ist es mit Frau Müller ausgegangen? Sie hat mit ihrem Arzt einen Stufenplan ausgearbeitet, der mit 2 Stunden täglich begonnen hat und sich mit den Steigerungen auf insgesamt 3 Monate erstreckte. Es fanden regelmäßige Feedbackrunden statt, so dass sie die Arbeitsmenge gut steuern konnte. Nach einem Gespräch mit der Schwerbehindertenvertretung überlegt Frau Müller, ob sie einen Antrag auf Schwerbehinderung stellen möchte oder lieber doch nicht.
Frau Müller hat mit ihren Kollegen im Großraum über ihre Ängste gesprochen. Einige hatten für sie Verständnis, andere eher jüngere Kollegen nicht.
Sie arbeitet inzwischen wieder Vollzeit. Immer wieder muss sie sich vor Überforderung und Überlastung schützen. Sie muss lernen, Arbeiten abzulehnen und an den eigenen Leistungsansprüchen zu arbeiten.
Nicht alle BEM-Verfahren verlaufen so positiv wie in dem beschriebenen Fall. In Riechert u. Habib (2017sind anhand zahlreicher Fallbeispiele viele Möglichkeiten aufgezeigt, die ein kreatives BEM bieten kann.
Die Anforderungen an ein BEM-Team bei der Wiedereingliederung nach psychischen Krisen und Erkrankungen sind vielfältig und komplex: eine positive und wohlwollende Grundhaltung gegenüber den BEM-Berechtigten, Empathie und die Fähigkeit, sich zu distanzieren, eine klare, authentische und respektvolle Kommunikation sowie eine sorgfältige Planung von Maßnahmen, die auch die finanzielle Absicherung im Blick behält, Mut und Kreativität in der Entwicklung von Maßnahmen sowie die Kenntnis der Förderungsmöglichkeiten, die das SGB IX bietet. Wichtig in der Beratung ist zudem eine gute Vernetzung innerhalb des regionalen Versorgungssystems und, um dies zu erreichen, eine personelle Kontinuität innerhalb des Teams. Das BEM von Beschäftigten mit psychischen Beeinträchtigungen stellt an den Einzelnen hohe Anforderungen. Für die Teams sind regelmäßige Schulungen, Fortbildungen und Supervision unerlässlich.
Literatur
Habib E: BEM-Wiedereingliederung in kleinen und mittleren Betrieben. 2. Aufl. Frankfurt: Bund-Verlag, 2017.
Riechert I: Psychische Störungen bei Mitarbeitern. 2. Aufl. Berlin: Springer, 2015.
Riechert I, Habib E: Betriebliches Eingliederungsmanagement bei Mitarbeitern mit psychischen Störungen. Berlin: Springer, 2017.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Info
Leitfragen zum BEM
- Steht die Erkrankung in Zusammenhang mit der Arbeit (Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit)?
- Welche Auswirkungen hat die Erkrankung auf die Arbeit?
- Was könnte Ihnen helfen?
- Wie kann der Betrieb Sie unterstützen?
- Welche Vorstellungen und Wünsche haben Sie?
- Welche Befürchtungen haben Sie?
- Wie lange bekommen Sie noch Krankengeld? Diese letzte Frage ist zentral und trägt dazu bei, die finanzielle Absicherung des BEM-Berechtigten im Blick zu behalten.
Info
Leitfragen zur Planung von Maßnahmen
Wenn es um die praktische Planung und Umsetzung von Maßnahmen geht, dann sind folgende Fragen von Belang:
- Welche Einschränkungen liegen bei welchen Tätigkeiten vor?
- Welche Fähigkeiten, Kenntnisse und Stärken hat der Mitarbeiter?
- Welche Vorstellungen und Ziele hat der Mitarbeiter?
- Wie und wo sollte der künftige Einsatzort sein?
Wichtig ist bei der Planung von Maßnahmen, dass klare Vereinbarungen getroffen werden, die eingehalten werden.
Autorin
Diplompsychologin, Psychologische Psychotherapeutin, CDMP
Falkenried 72
20251 Hamburg