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Urteil des Hessischen LSG vom 07.05.2012 – L 9 U 211/09 –

Die Meniskuserkrankung eines Müllwerkers

Der 1965 geborene Kläger war seit Juli 1993 bei einem privaten Müll-entsorgungsunternehmen als Müll-werker bzw. Mülllader beschäftigt. Anlässlich eines Verdrehtraumas im rechten Kniegelenk wurden bei ihm mit kernspin-tomographischer Untersuchung eine Innen- und Außenmeniskusläsionen festgestellt. Die nachfolgen Arthroskopie des Kniegelenks ergab den Befund einer ausgeprägten degenerativen Meniskopathie. Die Beklagte lehnte die Anerkennung einer BK 2102 ab, da es bereits an den arbeitstechnischen Vor-aussetzungen für das Entstehen dieser Be-rufserkrankung fehle. Kniebelastungen im Sinne der BK 2102 sei der Kläger im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als Mülllader nicht ausgesetzt gewesen. Seinen Widerspruch begründete der Kläger damit, dass seine Tätigkeit als Müllwerker seit 13 Jahren teilweise über 10 Stunden am Tag mit erheb-lichen Bewegungsbeanspruchungen der Knie verbunden sei in Form von häufigem Hoch- und Runterspringen vom Müllwagen, viel Laufen sowie dem Aufladen der Säcke auf den Müllwagen mit Drehbewegungen der Kniegelenke. Diese unter erheblichem Zeitdruck ausgeübte Tätigkeit sei durchaus geeignet, die Kniegelenke überdurchschnittlich zu belasten.

Keine berufskrankheitentypische Belastung?

Die Beklagte blieb auch im Widerspruchsverfahren bei ihrer Einschätzung, die Tätig-keit des Müllladers sei nicht mit den Meniskusbelastungen eines Bergmanns, Fußball-spielers oder Rangierers vergleichbar. Auch führte der technische Aufsichtsdienst der Beklagten aus, es sei statistisch nicht belegt, dass bei Beschäftigten im Müllabfuhrgewerbe eine höhere Zahl an Meniskuserkrankungen auftrete. Als gefährdend könnten lediglich die arbeitstechnischen Voraussetzungen folgender Berufe anerkannt werden:

  • Berufsfußballspieler aufgrund häufiger Knick-, Dreh- und Scherbewegungen durch das schnelle Abbremsen auf dem Rasen mit Stollenschulen, durch plötzliches Abknicken bei Richtungsänderungen und durch „Pressschläge“,
  • Handballspieler wegen häufiger Knick-, Dreh- und Scherbewegungen sowie das schnelle Abbremsen auf dem Hallenboden mit rutschfesten Schuhen verbun-den mit abrupter Laufrichtungsänderung und
  • Rangierer wegen häufiger Knick-, Dreh- und Scherbewegungen beim Abspringen von fahrenden Eisenbahnwaggons auf unebenem Schotteruntergrund.

Aufzählung im Merkblatt beispielhaft

Das Sozialgericht Darmstadt sah das anders. Die versicherte Tätigkeit des Klägers habe über einen Zeitraum von 12 Jahren – und damit mehrjährig – zu einer häufig wiederkehrenden und überdurchschnittlichen dy-namischen Belastung seiner Kniegelenke geführt und erfülle mithin die arbeitstechnischen Voraussetzungen des Tatbestandes der BK 2102. Es sei davon auszugehen, dass dessen Tätigkeit im Wesentlichen durch ständiges Aufspringen auf den Müllwagen und Herabspringen vom Müllwagen sowohl auf ebenen als auch auf unebenen Untergrund, mit oft gleichzeitiger Drehbewegung des Körpers gekennzeichnet gewesen sei. Bei einer täglichen Arbeitszeit von mindestens 8 Stunden bestünden keine Zweifel an dem Vorliegen einer häufig wiederkehrenden und überdurchschnittlichen Belastung der Kniegelenke. Nach dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK 2102 müsse bei bestimmten Berufen von einer überdurchschnittlichen Belastung der Kniegelenke ausgegangen werden, z. B. im Berg-bau unter Tage, ferner bei Ofenmaurern, Flie-sen- oder Parkettlegern, Rangierarbeitern, Berufssportlern und bei Tätigkeiten unter besonders beengten Raumverhältnissen. Hier-bei handele es lediglich um eine beispielhafte Aufzählung. Folglich stehe einer Berücksichtigung des Müllwerkers bzw. Müllladers nicht entgegen, dass er im Merkblatt bei den genannten Berufen nicht explizit aufgeführt sei. Entscheidend sei vielmehr, dass die Belastung des Klägers derjenigen eines Rangierarbeiters, teilweise auch eines Berufssportlers durchaus gleichgestellt werden könne.

Die generelle Eignung des Berufes eines Müllwerkers zur Verursachung von Meniskusschäden iSd BK 2102 durch eine mehr-jährig andauernde, häufig wiederkehrende, überdurchschnittliche Belastung der Knie-gelenke wurde auch vom 9. Senat des Hessischen Landessozialgerichtes in seinem Urteil vom 07. 05. 2012 – L 9 U 211/09 bestätigt.

Arbeitstechnische Voraussetzungen der BK 2102

Entgegen der Ansicht der Beklagten mangele es nicht an den arbeitstechnischen Voraussetzungen. Denn der Kläger sei im Rahmen der gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGBVII bei der Beklagten versicherten 12 jährigen Tätigkeit als Müllwerker in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung einer Belastungen der Kniegelenke ausgesetzt ge-wesen (vgl. § 9 Abs. 1 SGBVII). Diese Belastung war geeignet, Meniskusschäden zu verursachen.

Eine solche überdurchschnittliche Belastung der Kniegelenke ist nach dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK 2102 (Bek. des BMA, BArbBl. 2/1999 S. 135) biomechanisch gebunden an eine

  • Dauerzwangshaltung, insbesondere bei Belastungen durch Hocken oder Knien bei gleichzeitiger Kraftaufwendung oder
  • häufig wiederkehrende erhebliche Bewegungsbeanspruchung, vor allem Laufen oder Springen mit häufigen Knick-, Scher- oder Drehbewegungen auf grob unebener Unterlage.

Unter diesen Umständen werden die halbmondförmigen, auf den Schienbeinkopfgelenkflächen nur wenig verschiebbaren Knorpelscheiben, insbesondere der Innenmeniskus, in verstärktem Maße belastet. Da-durch können allmählich Deformierungen, Ernährungsstörungen des bradytrophen Gewebes sowie degenerative Veränderungen mit Einbuße an Elastizität und Gleitfähigkeit der Menisken entstehen. Die berufsbedingte chronische Meniskopathie tritt da-durch früher auf als in der beruflich nicht belasteten Bevölkerung.

Als kniebelastende Tätigkeiten im Sinne der vorstehend unter b) genannten Variante zählen dabei häufig wiederkehrende erheb-liche Bewegungsbeanspruchungen im Hoch-leistungssport oder bei sportähnlichen Tätigkeiten mit reflektorisch unkoordinierten Bewegungsabläufen, wie sie z. B. von Fußball-, Handball- oder Basketballspielern, Sport- und Skilehrern oder Bergführern aus-geführt werden (Schönberger / Mehrtens / Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Nr. 8.10.5.5.2.1, S. 634 f.). Bei den Berufsgruppen der Rangierer und Profifußballspieler seien die maßgeblichen Faktoren die dort auftretenden Dreh- und Scherkräfte auf das Meniskusgewebe sowie ein axialer Stoß der kinetischen Energie bei der Findung des Körpergleichgewichts auf unsicherem Untergrund.

Kniebelastende Tätigkeiten des Müllladers

Nach den Feststellungen des Senates ist die Tätigkeit des Müllladers mit einer vergleichbaren Belastungssituation für die Kniegelenke verbunden. Diese beinhaltet sowohl Elemente der spezifischen Kniebelastung der genannten Profi- bzw. Hochleistungssportler, als auch Elemente der spezifischen Kniebelastung eines Rangierers.

Der technische Aufsichtsdienst der Be-klagten habe die Angaben des Kläger bestätigt, dass dessen Tätigkeit mit dem Abspringen vom Tritt des noch fahrenden Müllwagens, dem Laufen vom und zum Müllwagen sowie dem Laden von Säcken mit einer Dreh-bewegung verbunden sei. Mit dem Beruf des Rangierers ist derjenige des Müllladers folglich insoweit vergleichbar, als auch hier häufige Sprungbewegungen auf bzw. von dem Trittbrett des Fahrzeugs zu verzeichnen sind. Dabei könne nach den Ausführungen des technischen Aufsichtsdienstes davon ausgegangen werden, dass die Sprunghöhe bei Rangierern regelmäßig höher und der Untergrund stärker von Unebenheiten geprägt ist, als dies bei der Bedienung der Müll-fahrzeuge durch die Mülllader der Fall ist. Auch der Straßen- bzw. Gehwegbelag sei aber oftmals nicht frei von Unebenheiten, wobei hier neben häufig anzutreffenden Straßenschäden auch der Randstreifen, die Bordsteinkante sowie Straßenschachtabdeckungen als weitere mögliche „Stolper-fallen“ zu berücksichtigen seien.

Darüber hinaus bestehe für den Senat kein Zweifel daran, dass bei Müllladern die Sprungbewegungen im Zusammenhang mit der Bedienung der Müllfahrzeuge insgesamt in weitaus höherer Frequenz vorkommen, als dies bei der Vergleichsgruppe der Rangierer der Fall ist. Aufgrund der im Regelfall sehr kurzen Fahrtstrecken der Müllfahrzeuge zwischen den einzelnen Beladevorgängen komme es hier zweifelsfrei zu sehr viel häu-figeren Auf- und Absprungbewegungen vom bzw. zum Trittbrett, als dies im üblichen Berufsalltag von Rangierern der Fall ist. Im Ge-gensatz zur Belastungssituation von Rangierern sei die Tätigkeit der Müllwerker bzw. Mülllader zusätzlich noch von schnellen, unregelmäßigen Lauf- und Drehbewegungen beim Verbringen der Mülltonnen oder -säcke zum bzw. vom Müllfahrzeug sowie beim Aufnehmen von Sperrmüll geprägt, die durchaus mit den Bewegungsabläufen der im Merkblatt zur BK 2102 genannten Sportler vergleichbar sind. Aus eigener Anschauung sei dem Senat bekannt, dass sich diese Bewegungen oft in großer Eile hinter dem vorausfahrenden Müllwagen vollziehen.

Unter Berücksichtigung der täglichen Arbeitszeiten von Müllwerkern, welche die üblichen Trainingszeiten der vorstehend ge-nannten Profisportler bei weitem überschrei-ten, sowie der Zeitdauer der Beschäftigung des Klägers bis zum Auftreten der Menisko-pathie, welche die übliche Lebensarbeitszeit von Profisportlern ebenfalls deutlich übersteige, erkenne der Senat auch im Vergleich zu dieser Berufsgruppe keine signifikant ge-ringere Belastungssituation im Hinblick auf die Beanspruchung der Kniegelenke.

Berufskrankheitentypisches Krankheitsbild

Mit der Sicherung einer primären Menisko-pathie seien die medizinischen Voraussetzungen einer BK 2102 erfüllt. Zwar gäbe es kein belastungsspezifisches Schadensbild mit dem eine beruflich erworbene primären Meniskopathie von anderen Ursachen abgrenzbar sei, jedoch bestünden insgesamt auch auf medizinischem Gebiet keine Zwei-fel, dass die Meniskuserkrankung des Klägers wesentlich auf dessen Belastung als Mülllader zurückzuführen sei (haftungsbegründende Kausalität). Dies folge aus dem Fehlen von Hinweisen für konkurrierende außerberufliche Ursachen sowie der vorliegenden deutlichen zeitlichen Links-verschiebung von kontinuierlich und invasiv behandlungsbedürftigen Meniskussymptomen vor dem 50. Lebensjahr. 

    Autor

    Reinhard Holtstraeter

    Rechtsanwalt

    Lorichsstraße 17

    22307 Hamburg

    mail@ra-holtstraeter.de

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