Einleitung
Die Digitalisierung der Gesellschaft und Wirtschaft hat auch die Medizin erreicht. Die zunehmende Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt verändert den Beruf des Arztes. Vielfältige moderne digitale Techniken werden heute in der medizinischen Praxis und Forschung genutzt. Soziale Netzwerke sind für Patienten und Angehörige zu einem wichtigen Kommunikationstool geworden. Durch Personalisierung, Robotik und Digitalisierung erschließen sich neue Wege in Diagnostik und Therapie. Es ist zu erwarten, dass die Telemedizin in den nächsten Jahren weiter expandieren wird und so einen wichtigen Lösungsweg bietet, um die Versorgung strukturschwacher Regionen zu gewährleisten. Mit der Verabschiedung des E-Health-Gesetzes zur sicheren digitalen Kommunikation und deren Anwendung im Gesundheitswesen im Dezember 2015 wurde der Einführung einer digitalen Infrastruktur und geschützten digitalen Arzt-Patienten-Kommunikation der weitere Weg geebnet. Aktuell wird geprüft, inwieweit mobile Endgeräte dazu beitragen können, eine besseren Kommunikation im Gesundheitswesen zu etablieren, fehlende Kommunikation und Informationen zu ersetzen sowie individuelles Gesundheitsverhalten und Krankheitsmanagement bei chronischen Erkrankungen zu fördern. Zeitgleich nutzen bereits ca. 45 % aller Deutschen ihre Smartphones für Fitness- oder Gesundheitsanwendungen, bei denen ihre Daten zentral durch kommerzielle Unternehmen verwaltet werden. Die Apps und Wearables bilden die Schnittstelle zwischen Freizeit- und Gesundheitsangeboten und stellen derzeit den Wachstumsmotor im e-Health-Markt dar. Dies beinhaltet Chancen und Risiken für die Gesundheitsversorgung des Einzelnen, aber auch für eine vernetzte, globale Anwendung. Über diese neuen Technologien bietet sich die Chance, Patienten zu wissenschaftlichen Studien zu rekrutierten, Präventionsprogramme durchzuführen und Patientengruppen einzubeziehen, die auf anderen Wegen nur schwer zu erreichen sind. Hierbei sind drei Ebenen gut abgrenzbar: die Konsumenten-Ebene (Apps), die professionelle Ebene (z. B. Experten-Fernüberwachung) und die Makro-Ebene (Big Data).
Die Integration digitaler Kompetenzen in die Medizinerausbildung ist von großer Bedeutung
Man nimmt erwartungsgemäß an, dass die heutigen Studierenden, aufgewachsen als erste Generation der „Digital Natives“, in Symbiose mit technischen Neuerungen und Dienstleistungen leben. Allein das Aufwachsen mit digitalen Medien und deren Nutzung auf der „Consumer-Ebene“ reicht jedoch nicht, um sich bedeutende digitale berufsspezifische Handlungskompetenzen anzueignen. Das wird deutlich in einer 2016 veröffentlichten Studie des Hochschulforums Digitalisierung, die das Lernen mit digitalen Medien aus der Studierendenperspektive betrachtet (Persike u. Friedrich 2016, s. „Weitere Infos“). Unter den 27 000 Studierenden schnitten aber nur 21 % dabei als „digitale Allrounder“ ab. Knapp ein Viertel hingegen, darunter auch die Hälfte der befragten Medizinstudenten, kann als „E-Prüfling“ bezeichnet werden. E-Prüflinge sammeln ihre Erfahrungen mit digitalem Lernen vor allem durch das Absolvieren von Online-Prüfungen in einer passiven, konsumierenden Rolle und nehmen keinen aktiven Einfluss auf ihre digitale Umwelt.
Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen über den Arztberuf mit einer Neudefinition des professionellen Rollenverständnisses, der Kompetenzorientierung sowie des interdisziplinären und multiprofessionellen Arbeitens, ist die Integration digitaler Kompetenzen in die Medizinerausbildung von großer Bedeutung. Die Art und Weise, wie sich Ärzte informieren, kommunizieren und zusammenarbeiten, hat sich durch die Digitalisierung grundlegend verändert. Es ist essentiell, dem veränderten Qualifikationsprofil der angehenden Ärzte Rechnung zu tragen und entsprechende Lehrinhalte zentral im Curriculum zu verankern (Kuhn 2016, s. „Weitere Infos“).
Das Hochschulforum Digitalisierung hat diese Forderung folgerichtig in einer Kernaussage in der Publikation „The digital Turn – Hochschulbildung im digitalen Zeitalter“ formuliert: „Dieser Kompetenzaufbau darf nicht als Nebenprodukt einer fachlichen Wissensvermittlung erwartet werden, sondern braucht die gezielte und systematische Verankerung in Curricula. Mit der zunehmenden Digitalisierung von Arbeitswelt und Alltag sind der Umgang mit neuen Medien und Technologien, die Offenheit für ihre Möglichkeiten sowie die Reflexion ihrer Risiken eine zusätzliche wichtige Kompetenz“ (s. „Weitere Infos“).
Seit Oktober 2016 erfolgt an der Universitätsmedizin Mainz, basierend auf der evidenzbasierten Systematik nach Kern, eine Konzeption des Curriculums „Medizin im digitalen Zeitalter“ in sechs Schritten.
Problemidentifikation
Die Medizin befindet sich in einem Wandlungsprozess. Die Art und Weise, wie Ärzte und Patienten sich informieren, kommunizieren und zusammenarbeiten, hat sich durch die Digitalisierung fundamental verändert und wird sich auch zukünftig weiterentwickeln. Die Studierenden durchlaufen aktuell jedoch eine Hochschulausbildung nach traditionellem Verständnis und beschäftigen sich entsprechend diesem Curriculums wenig bis gar nicht mit der stark vorangeschrittenen Digitalisierung der Medizin. Bisher existiert in Deutschland keine strukturierte curriculare Implementierung dieser Lehrinhalte. Auch der 2015 verabschiedete Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin (Medizinischer Fakultätentag 2015, s. „Weitere Infos“) berücksichtigt diesen Wandel nicht ausreichend bei der Formulierung der Lernziele.
Bedarfsanalyse
Zur Curriculumsentwicklung anhand der Bedürfnisse der Zielgruppe erfolgte ein Vergleich der klinischen Versorgungsrealität mit dem derzeit unterrichteten Curriculum. An der Universitätsmedizin Mainz existiert eine Vielzahl etablierter oder in Erprobung befindlicher Digitalisierungsprojekte. Diese umfassen u. a. telemedizinische Sprechstunden, Teleradiologie, Arzt-Patienten-Kommunikation in sozialen Netzwerken, Smartphone-Konsultationen, Pacing-Programme mittels Smart Device und eMental-Health-Applikationen. Eine Analyse der Pflicht-/Wahlpflichtlehre des Medizinstudiums zeigt allerdings, dass diese innovativen klinischen digitalen Anwendungen nicht abgebildet werden. Somit verbleibt eine Diskrepanz zwischen der medizinischen Versorgungsrealität und dem unterrichteten Curriculum, die eine gezielte, systematisch und curricular verankerte Vermittlung dieser Kompetenzen erforderlich macht.
Lernziele
Zum Erreichen einer Ausbildungsexzellenz müssen sowohl die kognitive und affektive Ausbildungsebene als auch die Ebene der praktischen Fertigkeiten einbezogen werden. Das vorgeschlagene Ausbildungskonzept „Medizin im digitalen Zeitalter“ hat sich hierzu folgendes übergeordnetes Lernziel gesetzt: Nach Absolvieren des Curriculums „Medizin im digitalen Zeitalter“ sollen die Studierenden in der Lage sein, effektiv Wissen, Fertigkeiten und Haltungen bezüglich der digitalen Medizin einzusetzen.
Social Media und digitale Arzt-Patienten-Kommunikation
Die allgemeinen Kommunikationsgewohnheiten der Bevölkerung haben sich verändert und Patienten wollen per Mail, Social Media oder anderen digitalen Techniken auch mit ihrem Arzt in Kontakt treten. Patienten nutzen soziale Netzwerke, um die Erreichbarkeit des Arztes abzuschätzen. Sie wollen Termine vereinbaren, sich an Termine, Rezepte oder Verordnungen erinnern lassen und suchen nach Empfehlungen zu Spezialisten. Patienten können sich auf sozialen Netzwerkseiten Darstellungen von Arztpraxen ansehen. Dies erlaubt ihnen, die Praxis zu beurteilen, bevor sie dort einen Termin vereinbaren. Auch wenn die Motivation sich in Patientengruppen unterscheidet bzw. die Schwerpunkte nicht immer gleich gelagert sind, so suchen sie doch in der Mehrheit nach Beratungsangeboten, Informationen oder gezieltem Informationsaustausch mit Betroffenen. Erfahrungsaustausch und soziale Unterstützung ist häufig ein starkes Motiv nicht nur für erkrankte Personen, sondern auch für ihre Angehörigen. Gerade jüngere Patienten suchen die Kommunikation und den Informationsaustausch mit Gleichaltrigen. Gruppenübergreifend heben die Nutzer die schnelle Erreichbarkeit, leichte Bedienung und die vorzufindende große Meinungsvielfalt hervor. Einige Gruppen und Nutzer schätzen für ihre Erkrankungen oder Informationsbedürfnisse den Schutz durch die Anonymität in sozialen Netzwerken und dass sie somit keine Verurteilungen und Vorurteile fürchten müssen.
Lernziele: Sie beherrschen die Kriterien zur digitalen Arzt-Patienten-Kommunikation und sind fähig, sich sicher in sozialen Netzwerken verhalten zu können. Sie können spezifische Anforderungen, Herausforderungen, Chancen und Grenzen der Arzt-Patient-Beziehung durch neue technologische Verfahren erläutern und bei ihrem Handeln berücksichtigen.
Smart Devices
Etwa 45 % aller Deutschen benutzen ihre Smartphones für Fitness- oder Gesundheitsanwendungen. Smartphone und Smartwatch bilden die neue Infrastruktur für digitale Freizeit- und Gesundheitsangeboten. Dies beinhaltet Chancen und Risiken für die Gesundheitsversorgung des Einzelnen, aber auch für eine vernetzte, globale Anwendung. Über diese neuen Technologien bietet sich die Chance, ein Gesundheitsbewusstsein zu schulen, Präventionsprogramme durchzuführen und Patienten in Längsschnittstudien einzubinden. In der Ausbildung der Ärzte fehlt es allerdings am praktischen Umgang mit Smart Devices. Die Schnittstellen zwischen primärem und sekundärem Gesundheitsmarkt sind aktuell an vielen Stellen noch in der Entwicklung, jedoch sind die Vorteile einer sinnvollen Nutzung von Smart Devices bereits in einer Reihe von klinischen Studien bewiesen.
Lernziele: Sie beherrschen den Umgang mit Smartphone und -watch im gesundheitsspezifischen Kontext und können die Einsatzmöglichkeiten reflektieren.
Medizinische Apps
Es erscheinen zunehmend medizinische Apps auf den Markt, die als Medizinprodukt entwickelt wurden und einen entsprechenden Zulassungsprozess, teilweise mit FDA-Approval, durchlaufen. Beispiele hierfür sind die Epiwatch-App der John Hopkins University oder die mPower-App der University of Rochester. EpiWatch hilft Patienten und Ärzten, Epilepsie besser zu verstehen, indem sie Anfälle und mögliche Auslöser, Medikamenteneinnahme und Nebenwirkungen verfolgt. mPower überwacht über den Gyrosensor und andere Sensoren bei an Morbus Parkinson erkrankten Patienten, Geschicklichkeit, Gleichgewicht, Gang und Gedächtnis. Für diese Patienten bieten die Apps neue Möglichkeiten des Informationszugewinns über die persönliche Verfassung. Aber auch für den behandelnden Arzt ist eine dauerhafte, durch den Patienten selbst übernommene Überwachung der krankheitsspezifischen Symptome, Vitalwerte, Medikamenteneinnahme u. a. ein enormer Fortschritt. Die durchgängige Datenaufzeichnung bei der Behandlung chronischer Erkrankungen kann weitaus aufschlussreicher sein als einzelne zum Zeitpunkt des Sprechstundenbesuchs erhobene Daten. Diese Apps haben zusätzlich das Potenzial, einen relevanten Teil präventiver Medizin darzustellen. Durch die Integration der Daten von zehntausenden von Patienten eröffnet sich ein immenser Horizont für die klinische Forschung. Die Nachfrage nach medizinischen Apps auf Seiten der Patienten ist groß und stellt derzeit einen der wesentlichen Treiber der Digitalisierung im Gesundheitssystem dar. Voraussichtlich werden medizinische Apps für Ärzte zukünftig einen festen Bestandteil der Arbeitswelt darstellen.
Lernziele: Sie beherrschen den Umgang mit medizinischen Apps und können die Einsatzmöglichkeiten mit Chancen und Risiken auf Patienten-, Arzt- und Forschungsebene erläutern.
Telemedizin/-radiologie
Die Studie der Bertelsmann-Stiftung „Video Sprechstunde“ ergab, dass 45 % der Patienten ein solches Angebot zumindest gelegentlich nutzen würde. Demgegenüber lehnen rund 2/3 aller Ärzte eine Videosprechstunde ab und würden diese nicht oder nur bei gesetzlicher Verpflichtung verwenden (Bertelsmann Stiftung 2016, s. „Weitere Infos“). Eine Expertenbefragung ergab, dass die Ursachen insbesondere im Bereich von mangelndem Technikverständnis, rechtlichen Unklarheiten und einer fehlenden spezifischen Vergütung liegen. Zukünftig braucht es mehr Akzeptanz bei Ärzten. Das setzt voraus, dass entsprechende Kompetenzen erworben werden, die einen sicheren und zielgerichteten Einsatz dieser modernen Kommunikationsarten erlauben.
Lernziele: Sie beherrschen und reflektieren den Umgang mit medizinischen Informationstechnologien. Sie können Lösungen der Telemedizin patientenorientiert einsetzen und Rahmenbedingungen der Gesundheitsthematik erläutern.
On-demand-Information/Künstliche Intelligenz
Kognitive Systeme wie z. B. IBM Watson verändern die Art und Weise, wie komplexe Analyseprozesse ablaufen. Diese Systeme sind in der Lage, mit Ärzten zu interagieren und evidenzbasierte Informationen kontextspezifisch zur Verfügung zu stellen. So können künstliche Intelligenzsysteme (KI) zur Unterstützung bei der Diagnosefindung sowie der Therapieentscheidung zum Einsatz kommen. KI kombiniert Informationen der klinischen und apparativen Diagnostik und analysiert diverse verfügbare Datenquellen, wie z. B. elektronische Krankenakten, Behandlungsrichtlinien und Publikationen. Durch den rasanten Zugewinn an medizinischem Wissen wird der Einsatz von On-demand-Assistenzsystemen für die Medizin immer relevanter, um dem behandelnden Arzt, die relevanten Informationen kontextspezifisch zur Verfügung zu stellen: „Get the right information to the right doctor at the right time“.
Lernziele: Sie nutzen die neuen Informationstechnologien zur Beschaffung und Transferierung von Informationen und Behandlungsprozessen.
Rechtliche, ethische und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen
Neben den Chancen und neuen Möglichkeiten der technologischen Innovationen bestehen jedoch auch Risiken und Grenzen der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Eine Reihe der digitalen Gesundheits-Apps fällt unter die Zulassungs- und Nutzungsbestimmungen für Medizinprodukte, die den gesetzlichen Rahmen definieren. Die Analyse großer Datenmengen mit statistischen Methoden und maschinellem Lernen im Sinne von Big-Data-Anwendungen ermöglicht neue Strategien in der Epidemiologie, Diagnostik und Therapie. Insbesondere die Aspekte des Datenschutzes dominieren die öffentliche Debatte und sind für zukünftige Ärzte von Relevanz.
Lernziele: Sie können die rechtlichen, ethischen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der digitalen Medizin erläutern und diese durch einen sicheren Umgang demonstrieren.
Lehrstrategien
In dem Curriculum „Medizin im digitalen Zeitalter“ werden die Lehrinhalte im klinischen Abschnitt des Medizinstudiums vermittelt. Innovative Studien- und Lernformen im Rahmen eines Blended-Learning-Konzepts unterstützen divers und Lernenden-orientiert den klassischen Präsenzunterricht. Neben der Implementierung des longitudinalen Curriculums wird zur besonderen Förderung praktischer Kompetenzen der digitalen Medizin ein Wahlpflichtfach angeboten.
Longitudinales Curriculum im klinischen Studienabschnitt (5.–10. Fachsemester)
Das longitudinale Curriculum wird als Blended-Learning-Curriculum in die existierende Vorlesungs-/Praktikums- und Seminarstruktur fächerübergreifend integriert. Ein eLearning-Kurs unterstützt durch Vor- und Nachbereitungsaufgaben den Kompetenzerwerb während der Präsenzphasen und ist auf die jeweilige Unterrichtseinheit der verschiedenen Fächer abgestimmt. Ziel eines solchen begleitenden eLearning-Kurses ist es, für die Studierenden in den unterschiedlichen Fachsemestern die vielfältigen Formen digitaler Medizin sichtbar zu machen.
Wahlpflichtkurs (7.–9. Fachsemester)
Im Rahmen des Wahlpflichtfachs werden die Inhalte unter Einsatz innovativer Studien- und Lernformen praxisnah vermittelt. Hierzu zählen:
- problembasiertes kollaboratives Lernen,
- Simulation,
- Teilnahme an telemedizinischen Sprechstunden,
- Selbsterfahrung.
Das Wahlpflichtfach „Medizin im digitalen Zeitalter“ setzt sich aus fünf Lernmodulen zusammen, die jeweils aus einer eLearning-Einheit und einer 3-stündigen Präsenzunterrichtseinheit bestehen. Der Präsenzunterricht wird in Kleingruppen mit Unterstützung verschiedener Fachdisziplinen (Unfallchirurgie, Orthopädie, Anästhesie, Radiologie, Medizinethik, Psychologie, Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik) durchgeführt. Hierbei wird eine Reihe innovativer Unterrichtsmethoden (u.a. eLearning, Simulationspatienten) etabliert. Zum Erwerb digitaler Kompetenzen gehört die Informationsverarbeitung und damit die aktive Auseinandersetzung mit Online-Ressourcen. Das „Blended-Learning“-Curriculum „Medizin im digitalen Zeitalter“ zielt daher bewusst auf eine Mischform zwischen Präsenzunterricht und digitalen Lehr- und Lernformen ab. Neben dem Unterricht vor Ort werden die Studierenden in einer virtuellen Lernumgebung betreut. Dort finden sie zusätzliches Informationsmaterial und vertiefende Online-Lerneinheiten, die der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts dienen. Vorteile hierbei sind vor allem die flexible Nutzung der Lernmaterialien durch die zeitliche und örtliche Unabhängigkeit der Online-Umgebung. Die Studierenden erhalten zusätzlich die Möglichkeit, digitale Kommunikations- und Kollaborationsformen auszuprobieren. Ziel des Blended-Learning-Curriculum ist es, die Studierenden zu aktivem und eigeninitiativem Lernen anzuregen.
Koproduktion von Unterrichtsmaterialien
Unter Koproduktion versteht man im Lernkontext zunächst die „Herstellung eines gemeinsamen Verständnisses“, das durch intensive Zusammenarbeit mehrerer Beteiligten entsteht. Dabei liegt der Fokus auf dem Produkt, welches das Ergebnis eben dieser Zusammenarbeit ist. Die Studierenden sind an jedem Unterrichtstag für die Mitproduktion von Unterrichtsmaterialien verantwortlich (z. B. Lerntagebücher, Videoaufzeichnungen, Selbstversuche). Die intensive Beschäftigung der Gruppe mit einer bestimmten Thematik, aber mit offener Ergebnisvorstellung, erschließt neue Bildungszusammenhänge. Die Lehrperson nimmt eher eine moderierende als vermittelnde Rolle ein.
Grundlage ist der lerntheoretische Ansatz des Konstruktivismus, der besagt, dass Lernen immer und nur in sozialen Kontexten entstehen kann. Die Unterstützung der Didaktik durch den Einsatz von Technik und digitalen Medien breitet diesen, für das Lernen so wichtigen sozialen Rahmen über die Grenzen des Seminarraums hinaus aus. So ist ein stetiger Austausch aller Teilnehmenden über die gesamte Kursdauer erwünscht.
Durch das gemeinsame Erarbeiten der Unterrichtsmaterialien gelingt eine intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Kursthema. Die Studierenden lernen im kollaborativen Setting, die Themen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Durch gemeinsame Reflexionen der Unterrichtseinheiten können die Studierenden das Gelernte festigen und nachhaltig anwenden. Die produzierten Unterrichtsmaterialien spiegeln dabei die bisherigen und neu erworbenen Erfahrungen der Kursteilnehmenden wider.
Die in der Pilotwoche produzierten Materialien tragen nachhaltig zur Implementierung des Curriculums bei. Das Curriculum „Medizin im digitalen Zeitalter“ setzt den Fokus auf einen starken Einbezug der Studierenden in die Lehrgestaltung. So sollen die jeweils entstandenen Koproduktionen den folgenden Kursen zur Verfügung stehen. Diese Arbeitsweise generiert nicht nur einen sehr sichtbaren Lernerfolg, sondern auch einen enormen Mehrwert für die kommenden Lehrveranstaltungen.
Implementierung
Das Curriculum „Medizin im digitalen Zeitalter“ wird von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe entwickelt und implementiert. Zudem findet eine Beteiligung der Studierenden bereits im Rahmen der Curriculums-Etablierung statt. Die Pilotierung des Wahlpflichtkurses wird im Sommersemester 2017 durchgeführt. Der Beginn der schrittweisen Implementierung des longitudinalen Curriculums ist zum Wintersemester 2017/18 geplant.
Evaluation und Feedback
Für eine umfangreiche Evaluation soll ein multimethodales Vorgehen erfolgen und umfasst als Zielgruppe neben den Studierenden auch die Dozenten. Hierzu werden die folgenden Parameter gemessen und dokumentiert:
- Erreichen der Lernziele,
- Effektivität bei der Curriculums–Einführung,
- Akzeptanz des Curriculums bei den Studierenden und Dozenten,
- Kompetenzentwicklung bei den Studierenden.
Hierbei werden folgende Arbeitsinstrumente eingesetzt:
- standardisierte Evaluationsfragebögen,
- Evaluation im Dialog,
- Stärken-Schwächen–Analyse,
- Portfolio.
Zusammenfassung und Perspektive
Das Curriculum „Medizin im digitalen Zeitalter“ richtet sich in der jetzigen Konzeption an Studierende der Humanmedizin an der Universitätsmedizin Mainz. Als Zukunftsperspektive wird eine Ausdehnung auf weitere Standorte angestrebt. Die Digitalisierung ist ein fortwährender Prozess, der die Versorgungsstrukturen auf allen Ebenen verändert. Diese Entwicklung beeinflusst wesentlich Lern- und Arbeitsprozesse, die eine begleitende Ausbildung erfordert. Der notwendige Kompetenzerwerb geht hierbei weit über eine isolierte Schulung zu spezifischen Aspekten hinaus und fordert eine grundlegende Auseinandersetzung zu den Kernthemen der Digitalisierung. Die Entwicklung einer Digitalisierungsstrategie und deren didaktische Vermittlung ist somit ein relevanter Bestandteil der Zukunftsplanung der curricularen Weiterentwicklung des Medizinstudiums und darüber hinaus aller medizinischen Institutionen.
Förderung: Das Projekt „Medizin im digitalen Zeitalter“ wird im Rahmen des Förderprogramms Curriculum 4.0 vom Stifterverband und der Carl-Zeiss-Stiftung gefördert.
Koautoren
Koautoren des vorliegenden Beitrags sind:
Susanne Michel, Elisa Kirchgässner, Kim Deutsch und Anke Hollinderbäumer
Weitere Infos
Video-Sprechstunden – Sinnvolles Instrument in der ambulanten Versorgung – Akzeptanz in der Ärzteschaft zentraler Hebel für die Etablierung, Bertelsmann Stiftung, 2016
The Digital Turn – Hochschulbildung im digitalen Zeitalter. Arbeitspapier Nr. 27. Berlin: Hochschulforum Digitalisierung, 2016
https://hochschulforumdigita lisierung.de/sites/default/files/dateien/Abschlussbericht.pdf
Kuhn S: Medizin im digitalen Zeitalter: Ein Plädoyer für Innovation und Kompetenzorientierung, 2016
https://hochschulforumdigi talisierung.de/de/blog/medizin-digitalen-zeitalter-plaedoyer-innovation-kompetenzorientierung
Medizinischer Fakultätentag: Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin (NKLM), 2015
www.nklm.de/files/nklm_final_2015-07-03.pdf
Persike M, Friedrich JD: Lernen mit digitalen Medien aus Studierendenperspektive. Sonderauswertung aus dem CHE Hochschulranking für die deutschen Hochschulen. 2016
https://hochschulforumdigita lisierung.de/sites/default/files/dateien/HFD_AP_Nr_17_Lernen_mit_digitalen_Medien_aus_Studierendenperspektive.pdf
Für die Autoren
Priv.-Doz. Dr. med. Sebastian Kuhn, MME
Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Langenbeckstr. 1 – 55131 Mainz