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Das “Sorge-Vorsorge-Modell“ oder: Wie der “gute Männerweg“ aussehen kann

Männergesundheit

Essen gegen die Trauer

Ein Mann in der Sprechstunde. Er hat Über-gewicht, leidet an Bluthochdruck und seine Gelenke schmerzen. Er isst zu viel. Das Ge-spräch ergibt folgendes Bild: Vor zehn Jahren ist die Frau des Mannes gestorben und hat ihn mit dem Sohn, einem sechsmonatigen Säugling, allein gelassen.

Eine Nachbarin hilft ihm bei der Pflege des Kindes. Erst übernimmt sie die Rolle der Mutter, dann die der verstorbenen Ehefrau. Der Mann spricht mit niemandem über das, was ihm widerfahren ist. Nicht über den Tod seiner Frau, die er geliebt hat, nicht über die Bürde der Verantwortung, die als Vater auf ihm lastet, nicht über sein Verhältnis zu der Nachbarin, die er als „Lebensabschnittspartnerin“ bezeichnet und ohne deren Hilfe er den Alltag mit dem kleinen Kind kaum bewältigt hätte.

Statt zu sprechen isst er. Er isst an gegen die Trauer um seine Frau, gegen die Sorgen um seinen Sohn, gegen das schlechte Ge-wissen der Nachbarin gegenüber. Bald wiegt er 130 kg. Sein Übergewicht gründet nicht in einem Mangel an Disziplin beim Essen – diese Vermutung taucht oft auf, wenn es um Fettleibigkeit geht, ist aber meist nicht zutreffend. Dem Patienten fehlt der Blick zurück auf den Wendepunkt in seinem Leben, auf den Schicksalsschlag, den er nie aufgearbeitet und dadurch nie verkraftet hat.

Der Mann im „Rollen-Ich“

Dabei hat der Mann die letzten Jahre funktioniert, wie die Gesellschaft es von ihm erwartet hat. Oder besser: Er ist in eine Rolle geschlüpft, von der er annahm, dass er sie erfüllen müsse. Nach Regelung aller Formalitäten, ist sein „Rollen-Ich“ zur Arbeit gegangen als wäre nichts geschehen. Sein „Rollen-Ich“ hat Einkäufe erledigt und den Müll runter gebracht. Es hat Fußball geschaut, und es hat gegessen. Und es hat den Mann daran gehindert, auch nur ein einziges Mal über sich selbst nachzudenken und seine neue Lebenssituation zu reflektieren. Dieser Mann und sein „Rollen-Ich“ haben dem Verhalten vieler Männer entsprochen: Sie machen sich nicht bewusst, wo sie im Leben stehen.

Während sich viele Frauen in Folge der Frauenbewegung mit ihrem Rollenverständ-nis, dem Ausbruch aus Klischees und dem Kampf um Gleichberechtigung auseinander gesetzt haben und immer noch auseinan-der setzen, haben die Männer in den letzten Jahrzehnten keine solche starke soziale Bewegung mitgemacht. Fragen emanzipatorischer Art wie: „Wer bin ich?“, „Was will ich?“ oder „Was steht mir zu?“ stellen sie sich eher weniger. Und das, obwohl sich die Aufgaben des Mannes zu Hause und bei der Arbeit – beide Bereiche prägen Männer mehr als ihr Freizeitverhalten – in den letz-ten Jahrzehnten verändert haben. Nur wenige Männer scheinen diese Entwicklung überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, in ihr Rollenbild zu integrieren (Lehner 2004).

Auch die Perspektive von außen verschiebt sich nur langsam: die Partnerin, die Familie, der Arbeitgeber, die Kollegen – die Umgebung eines Mannes hängt mehrheitlich noch einem alten Rollenmodell an, in dem derjenige als unmännlich gilt, der einen Salat statt einem Schnitzel bestellt (Bader 2006). Dieses von der Gesellschaft gesetzte Rollenverhalten ist mit schuld daran, dass Männer stärker als Frauen in ihrem „Rollen-Ich“ aufgehen und nur selten ihr „Selbstbild-Ich“ finden. Das gilt v. a. für jüngere Männer und Männer in mittleren Jahren, also dann, wenn eine gesunde Lebensweise am wirkungsvollsten ansetzen würde.

Das „Sorge-Vorsorge-Modell“

Ein Mann, der den Erwartungen an sein „Rol-len-Ich“ und seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden möchte, steht unter Druck. Da ist nicht nur der Druck von außen, sondern vor allem der Druck, den er sich selbst macht, indem er sein „Rollen-Ich“ immer wieder auf ein optimales Männlichkeitsverhalten hin überprüft und gegebenenfalls auch anpasst (Pleck 2001). Wo Druck entsteht, braucht es den Ausgleich, braucht es ein Ventil. In der Regel funktioniert diese Kompensation über das individuelle Gesundheitsverhalten eines Mannes.

Einige wenige wählen den sichernden, eher „weiblichen“ Weg der Vorsorge. Die anderen, die große Mehrheit, schlägt den „Sorgeweg“ ein, der „männlicher“ konnotiert ist (Faltermaier 2004). Etliche Männer verschaffen sich einen Ausgleich, ohne viele Worte zu machen. Sie externalisieren ihre Probleme, verlagern sie nach außen (Neumann u. Süfke 2004). Sie agieren häufig ohne ihr Handeln zu reflektieren und kompensieren in einer Weise, die auf den Sorgeweg führt. Die Befriedigung von zentralen Grundbedürfnissen rückt in den Fokus: Der Mensch muss essen, schlafen sowie Körper, Geist und Seele pflegen ( Abb. 1).

„Eat … sleep … go fishing“

Der Homo sapiens braucht nur wenig zum Überleben. Überspitzt ausgedrückt, lassen sich die zentralen Grundbedürfnisse eines Männerlebens auf den Werbespruch eines Angelsport-Herstellers reduzieren. „Eat … sleep … go fishing“ verspricht Zufriedenheit, wenn man isst, schläft und Angeln geht. Mit Blick auf das Thema der Männergesundheit könnte man daraus auch die Aufforderung „Rauslassen, Ausgleichen, Aufnehmen“ generieren.

Die drei Grundbedürfnisse eines Mannes versprechen also von sich aus Gesundheit. Voraussetzung ist, dass sie einen gewissen Raum im Leben eines Mannes einnehmen und dieser sie nicht maßlos, sondern kontrolliert befriedigt. An dieser Stelle bricht die männliche Realität manchmal aus dem Idealmodell aus: Männer gehen Extremsport-arten nach, neigen zu Süchten und führen regelmäßig die Statistiken zur Gewaltkrimi-nalität an (Döge 2013). „Rauslassen, Ausgleichen, Aufnehmen“ – im besten Fall schaf-fen Männer es, auf dem Vorsorgeweg Stress abzubauen. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse entwickelt hier eine sichernde Kraft: Bewegung und Sport, Freundschaften, feste Partner, genügend Schlaf, Hobbies, Essen und Trinken halten gesund.

Im schlechten Falle, leider geschieht das zu oft, landen Männer über diese Art der Kompensation auf dem Sorgeweg; hier ent-faltet das gefährdende Potenzial der Bedürfnis-Befriedigung seine Wirkung. Extremsport, risiko- und gewaltbereites Verhalten, der Mangel an Schlaf und an sozialen Kontakten, Internet-, Spiel- und Arbeitssucht, maßloses Essen, zu viel Alkohol und Drogen machen krank (Faltermaier 2004).

Krank versus gesund

Gefährdendes Gesundheitsverhalten muss nicht sofort zu Problemen führen. Bei manchen Männern geht es über Jahre gut. Aber auch wenn die Wegstrecke individuell verläuft, mündet das Ende des Sorgeweges fast immer in einer Krankheit.

Viele Männer wagen erst wenn sie schon krank sind den Blick auf sich selbst. Oft hat ein Erlebnis – eine Kündigung, Mobbing, der Tod eines Angehörigen – einen Zusammenbruch ausgelöst und die Fassade bröckeln lassen, hinter der die Krankheit zum Vorschein kam. Endlich setzen sich Männer mit sich selbst und ihrer Rolle auseinander, nicht wenige orientieren sich neu. Ein Prozess der Selbstfindung setzt ein. Betroffene achten auf sich, gehen „vorsorglicher“ mit sich um, akzeptieren ihre Grenzen. Die späte Selbstfindung erleben viele als wohltuend und legen sie, man staune, als „männlich“ aus. Im Verlauf einer Krankheit finden Män-ner häufig den Schlüssel zu ihrem Ich und geben ihr „Rollen-Ich“ auf (Stiehler 2013).

Auf dem Vorsorgeweg entsteht Gesundheit durch Selbstmanagement. Wer Sport macht, einen Arbeitsplatz und Freunde hat und gern Gemüse isst, kann dosiert Druck ablassen und so zu seiner Gesundheit beitragen. Wer diesen Weg geht, der geht ihn bewusst und steuert sein Alltags-Verhalten – was vielen Männern „weiblich“ und „über-gesundheitlich“ vorkommt, zumal sie ihre Laster als Teil ihres Männlichkeitsempfindens oft nicht aufgeben wollen.

Der gute Männerweg

Wo die Grundbedürfnis-Befriedigung von Männern in der überwiegenden Zahl der Fälle gefährdend wirkt, ist das Ziel von Ge-sundheitsförderung und Prävention klar: Es geht darum, die Männer auf den sicheren Vorsorgeweg zu führen. Der Verzicht auf Alkohol, kontrolliertes Essen oder das Aufhören mit dem Rauchen – solche Maßnahmen stufen manche Männer als „weibliche“ Selbstkasteiung ein und schließen sie für sich aus. Man kann bestimmte Verhaltens-weisen nicht verbieten. Männergesundheits-arbeit sollte auch nicht primär die Gesund-heit eines Mannes in den Blick nehmen, son-dern die Selbstfürsorge oder Selbst„vor“-sorge in ihm wecken und ihm damit einen guten Mittelweg, den „guten Männerweg“ ebnen ( Abb. 2).

Man kann lieb gewonnene Gewohnhei-ten nicht einfach streichen, ohne Mechanis-men zur Kompensation aufzuzeigen. Der Begriff „flexible Kontrolle“ funktioniert hier-bei als eine Art Zauberwort (Pudel 2003).

Wenn der Mann, der den Tod seiner Frau nie verarbeitet hat und darüber adipös ge-worden ist, an einem Tag in der Woche essen kann, was er will, dann unterliegt das der „flexiblen Kontrolle“. Das schlechte Ge-wissen, das leicht zu kompensatorischem Essverhalten führt, bleibt selbst dann aus, wenn der Mann seiner Lust auf zwei Tüten Paprika-Chips nachgibt. Die Möglichkeit der „flexiblen Kontrolle“ hilft ihm, den Abnehmkurs zu Ende zu bringen und im Zweifelsfalle nicht aufzugeben.

Ein Mann, der auf sich vertraut und der sich selbst gut tut, dem geht es auch gut. Und uns Männern soll es doch gut gehen! 

Literatur

Bader S: Adipositasprävention bei der Zielgruppe männlicher Erwachsener im mittleren Lebensalter. München: Grin Verlag, 2006, S. 27.

Döge P: Männer – die ewigen Gewalttäter? 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS, 2013, S. 30.

Faltermaier T: Männliche Identität und Gesundheit. In: Altgeld T (Hrsg.): Männergesundheit. Neue Herausforderungen für Gesundheitsförderung und Prävention. Weinheim, München: Juventa, 2004, S. 17f.

Kölln P: Männer im Betrieb(s)Zustand – Der Praxis-ratgeber zur Männergesundheit. Wiesbaden: Uni-versum, 2015.

Lehner E: Männer stellen Arbeit über die Gesundheit. In: Altgeld T (Hrsg.): Männergesundheit. Neue Herausforderungen für Gesundheitsförderung und Prävention. Weinheim, München: Juventa, 2004, S. 49f.

Neumann W, Süfke B: Den Mann zur Sprache brin-gen, Psychotherapie mit Männern. 2. Aufl. Tübingen: dgvt-Verlag, 2004, S. 34.

Pleck: Die männliche Geschlechterrolle. In: Bau-SteineMänner (Hrsg.): Kritische Männerforschung. Neue Ansätze in der Geschlechtertheorie. Hamburg: Argument Verlag, 2001, S. 34.

Pudel V: Adipositas, Fortschritte der Psychotherapie. Göttingen: Hogref, 2003, S. 41.

Stiehler M: Aussagen aus einem Interview für das Buch „Männer im Betrieb(s)Zustand“ vom 26. 3. 2013, Dresden.

    Autor

    Dr. med. Peter Kölln

    Facharzt für Arbeitsmedizin

    BGM-Berater

    Colmarer Straße 37a

    28211 Bremen

    pk@peterkoelln.com

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