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Coaching bei Erschöpfung und Überarbeitungsgefühlen

L.P. Werk

B. Muschalla

(eingegangen am 28.06.2022, angenommen am 11.08.2022)

Coaching for exhaustion and feelings of overload

Introduction: Symptoms of exhaustion can be part of a mental disorder, but can also arise in mentally healthy people as a reaction to work overload. Work-related coaching sessions were undertaken with employees in various sectors, and the coaching topics and processes for mentally healthy and ill participants were compared.

Methods: A total of 110 coaching courses of three sessions were conducted by a behaviour therapist experienced in rehabilitation and social medicine. 64 participants reported exhaustion without pre-existing or accom­panying mental disorders, while 46 participants had lifelong mental disorders. Coaching topics were categorized using a taxonomy of work-related stressors, and two case studies of prototypical coaching processes for mentally healthy and ill participants are qualitatively contrasted.

Results: Mentally healthy participants most frequently desired help with social interaction problems (31 %), work overload (25 %), and role stress (13 %). Mentally ill participants reported problems with social inter­action (39 %), work overload (13 %), careers (13 %), and working conditions (13%). In the coaching processes, healthy participants often focused on coping with workload by improving their own work structuring, whereas
participants with mental disorders in many cases needed treatment coordination.

Conclusions: Work-related coaching can be used as an intervention for exhaustion and feelings of overload, but requires different topics and techniques for mentally healthy and mentally ill participants. Expertise in mental disorders and different types of work-related exhaustion is needed to ensure adequacy of diagnosis, coaching aims and content.

Keynotes: coaching – work overload – mental health at work

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2022; 57: 578 –582

doi:10.17147/asu-1-217703

Coaching bei Erschöpfung und Überarbeitungsgefühlen

Einleitung: Erschöpfungssymptome können Teil einer psychischen Erkrankung sein, aber auch bei psychisch gesunden Menschen als Reaktion auf Arbeitsüberlastung vorkommen. Es wurde ein arbeitsbezogenes Kurzcoaching mit Beschäftigten verschiedener Branchen durchgeführt und die Coaching-Themen und -Verläufe von psychisch gesunden und erkrankten Teilnehmern verglichen.

Methode: Es wurden 110 Coachings mit jeweils drei Sitzungen von einer Verhaltenstherapeutin mit rehabilitations- und sozialmedizinischer Erfahrung durchgeführt. 64 Teilnehmende berichteten Erschöpfung ohne psychische Vor- oder Begleiterkrankungen, 46 Teilnehmenden hatten psychische Erkrankungen über die Lebensspanne. Die Coaching-Themen wurden anhand einer Taxonomie arbeitsbezogener Stressoren kategorisiert. Zwei Falldarstellungen prototypischer Coaching-Verläufe von psychisch gesunden und erkrankten Teilnehmerinnen werden zur Illustration berichtet.

Ergebnisse: Psychisch gesunde Teilnehmende schilderten am häufigsten Themen der sozialen Interaktion (31 %), Arbeitsmenge (25 %) und Rollenstress (13 %). Psychisch erkrankte Teilnehmende beschrieben Probleme mit sozialen Interaktionen (39 %), Arbeitsmenge (13 %), Berufslaufbahn (13 %) und Arbeitsbedingungen (13 %). In den Coaching-Verläufen stand bei gesunden Teilnehmenden häufig die Bewältigung der Arbeitsmenge durch Verbesserung der eigenen Strukturierung im Fokus, wohingegen bei vielen Teilnehmenden mit psychischen Erkrankungen eine Versorgungskoordination vordergründig war.

Schlussfolgerungen: Arbeitsbezogene Coachings können als Kurzinterven­tion bei Erschöpfung und Überlastungsgefühlen im Sinne einer inhaltlichen Impulsgebung und Weichenstellung eingesetzt werden, benötigen für psychisch gesunde und erkrankte Teilnehmende aber verschiedene thematische Ausrichtungen und Techniken. Fachwissen über den Zusammenhang von arbeitsbezogener Erschöpfung und psychischen Erkrankungen wird benötigt, um eine hinreichende Diagnostik und eine zielorientierte Coaching-Durchführung zu gewährleisten.

Schlüsselwörter: Coaching – Arbeitsüberlastung – psychische Gesundheit am Arbeitsplatz

Einleitung

Erschöpfungszustände kennt jeder. Man kann wohlig erschöpft sein nach einer langen Wanderung, ausgelaugt erschöpft nach einem ganzen Tag Bildschirmarbeit, oder krankheitsbedingt erschöpft, infolge körperlicher oder psychischer Erkrankungen. Erschöpfungszustände und Überforderungsgefühle am Arbeitsplatz können im Sinne eines „gesunden Leidens“ (Gensichen u. Linden 2013) ebenfalls vielfältige Ursachen haben, sei es selbstverschuldeter Schlafmangel oder Arbeitsbedingungen wie Schichtarbeit oder lange Arbeitszeiten (Caldwell et al. 2019). Auch Arbeitsunzufriedenheit mit zynischem Affekt, Entfremdung vom Arbeitsplatz und reduzierte Leistungsfähigkeit und -willigkeit kann zu dem Gefühl führen, dass einem alles zu viel ist, was als Burnout-Syndrom beschrieben wurde (Maslach u. Jackson 198; von Känel 2008).

Von diesen gesunden Erschöpfungsvarianten sind Erschöpfungszustände im Kontext psychischer oder körperlicher Erkrankungen abzugrenzen (Klingebiel 2018). Psychisch erkrankte Beschäftigte haben die längsten Arbeitsunfähigkeitszeiten (Nielsen et al. 2011), regelhaft Defizite in der Erfüllung von Arbeitsanforderungen und häufig lebenslang Probleme am Arbeitsplatz (Muschalla et al. 2012; Stansfeld et al. 2008). Es handelt sich also um eine Personengruppe, die besonderer Unterstützung und Förderung bedarf, was auch zunehmend öffentlich und in den Unternehmen erkannt wird (Riedel-Heller et al. 2012; DGPPN 2013; Kuhn 2010). Ziel muss sein, im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung arbeitsbezogene Fähigkeiten zu verbessern und zu lernen, mit Beschwerden wie Erschöpfung und Überarbeitungsgefühlen umzugehen (Muschalla 2021; Proper u. van Oostrom 2019; Robertson et al. 2015).

Aus betrieblicher Sicht benötigen Menschen mit gesunder wie krankhafter Erschöpfung Unterstützung. Dazu sind einerseits Angebote der (psychischen) Gesundheitsförderung zu Präventionszwecken, sowie andererseits Angebote zur Unterstützung in der Bewältigung psychischer Beschwerden am Arbeitsplatz einzusetzen (Joyce et al. 2016). Im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements und der Gesundheitsförderung gibt es eine Reihe von Angeboten für Beschäftigte mit Überforderungserleben. Diese ermöglichen einen niederschwelligen Zugang und werden auch vom Arbeitgeber unterstützt und beworben. Daher werden Personen mit unterschiedlichen Anliegen und Problemlagen angesprochen. Es kommen Menschen, die ihre Leistungsfähigkeit optimieren wollen, oder bestimmte Qualifikations- oder Veränderungsziele angehen wollen, aber auch Menschen, die krankheitsbedingt am Arbeitsplatz massive oder langandauernde Probleme haben. Leitklage ist regelhaft „Erschöpfung“.

Im Folgenden wird über ein Coaching für Beschäftigte mit Arbeitsüberlastung berichtet, an dem sowohl psychisch gesunde Beschäftigte, wie auch solche mit psychischen Erkrankungen teilgenommen haben. Es wurde untersucht, wie häufig welche Themen in den Coachings bearbeitet wurden, und inwiefern die beiden Gruppen sich hinsichtlich der Coachingthemen voneinander unterscheiden.

Methode

Die verhaltensorientierten arbeitsbezogenen Coachings wurden in Präsenz durchgeführt und umfassten jeweils drei einstündige Sitzungen. Sie fanden im Einzelkontakt mit einer Verhaltenstherapeutin mit berufs- und sozialmedizinischer Expertise statt. Das Angebot richtete sich an die Mitarbeitenden einer Universität wie auch an Beschäftigte anderer Unternehmen. Anhand einer Situations- und Verhaltensanalyse nach dem SORKC-Schema (Linden u. Hautzinger 2022) wurden die Problem- und Verhaltensbereiche für das Coaching ausgewählt und ein verhaltensbezogenes oder kognitives Trainingsziel als Coachinggegenstand ausgewählt. Zwischen der zweiten und dritten Coachingstunde bearbeiteten die Teilnehmenden in der Regel eine Hausaufgabe. Coachingtechniken wurden je nach Thema auf den individuellen Teilnehmer ausgerichtet und angepasst (Linden u. Hautzinger 2022). Es wurden alternative Verhaltensweisen für ausgewählte Arbeitssituationen erarbeitet, erprobt und reflektiert.

Teilgenommen haben 110 Beschäftigte, von denen 64 psychisch gesund waren und 46 aktuell oder anamnestisch von psychischen Erkrankungen berichteten. 29 Teilnehmende waren zum Zeitpunkt des Coachings nach eigener Angabe in einer akuten Erkrankungsphase, 33 befanden sich in therapeutischer Behandlung (Psychiatrie, Psychotherapie, Hausärztin/-arzt). 21 Beschäftigte der Stichprobe waren in den letzten 12 Monaten langzeitarbeitsunfähig (➥ Tabelle 1).

Die arbeitsbezogenen Themen der Coachingteilnehmenden wurden anhand der Taxonomie von Arbeitsstressoren nach Rosen et al. (2010) kategorisiert. Die Kategorie Rollenstress enthält Themen, die mit der Erfüllung bestimmter Rollenerwartungen und der Übernahme von Führungsverantwortung einhergehen (Jackson u. Schuler 1985). Arbeitsmenge betrifft sowohl qualitative als auch quantitative Überforderung mit der Arbeitslast und dem Umgang mit dieser (Spector u. Jex 1998). Unter Situative Beschränkungen gruppieren sich Themen der organisationalen Rahmenbedingungen, wie bürokratische Regeln oder Informationsstrukturen (Peters u. O’Connor 1980). Themen einer mangelnden Passung zwischen Handlungsspielraum und Arbeitsanforderungen im Sinne des Job-Demand-Job-Control Modells werden in der Kategorie Handlungsspielraum abgebildet (Spector u. Jex 1998). Soziale Interaktion umfasst sämtliche zwischenmenschliche Konflikte am Arbeitsplatz (Jex 1998; NIOSH 1999). Karrierebezogenes beinhaltet Themen der Arbeitsplatzunsicherheit, Underemployment, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten und Bewerbungsprozesse (Niosh 1999). Unter Arbeitsbedingungen fallen Themen, die mit der Arbeitsumgebung und -strukturen zu tun haben (physische Arbeitsbelastung, Arbeitszeitmodelle; Jex 1998). Die Kategorie der Akutstressoren umfasst episodische Ausnahmesituationen auf der Arbeit (Jex 1998; NIOSH 1999), beispielsweise traumatische Erlebnisse im Rettungsdienst (LeBlanc et al. 2007).

Ergebnisse

Die Verteilung der Coachingthemen von psychisch gesunden und erkrankten Teilnehmenden ist in ➥ Tabelle 2 dargestellt. In beiden Gruppen stammten die meisten Coachingthemen aus der Kategorie soziale Interaktion, wobei Teilnehmende mit psychischen Erkrankungen diese Themen prozentual häufiger schilderten (39 %) als psychisch gesunde Personen (31 %). Bei den psychisch gesunden Teilnehmenden folgten Arbeitsmenge (25 %) und Rollenstress (13 %) als häufig genannte Themen. Teilnehmende mit psychischen Erkrankungen schilderten Karrierebezogenes (13 %) und Arbeitsbedingungen (13 %) gleichermaßen häufig. Die Arbeitsmenge (13 %) wurde bei Teilnehmenden mit psychischen Erkrankungen nur halb so oft genannt wie bei den psychisch Gesunden.

Im Coaching wurde jeweils nach der Themenexploration mittels Verhaltensanalyse ein individuelles Coachingkonzept für jede Teilnehmerin/jeden Teilnehmer entwickelt. Während Problemstellungen der Arbeitsmenge und sozialen Interaktion durch eine Verbesserung der Selbststrukturierung (z. B. Wochenpläne, Prioritätensetzung anhand konkreter Arbeitsproben aus dem Arbeitsalltag der Coachees) und dem Ausprobieren alternativer Verhaltensoptionen im Rollenspiel begegnet werden konnte, rückte insbesondere bei psychisch erkrankten Teilnehmenden mit chronischen Krankheitsverläufen und Akutsymptomatik die Behandlungskoordination und Gesprächsplanung zur Wiedereingliederung oder Begutachtung durch Behandelnde in den Fokus. An zwei Falldarstellungen können prototypische Problemstellungen und Coaching-Verläufe psychisch gesunder und psychisch erkrankter Teilnehmer illustriert werden.

Tabelle 2:  Coachingthemen bei psychisch gesunden und erkrankten CoachingteilnehmendenTable 2: Coaching topics of mental healthy and ill coaching participants

Tabelle 2: Coachingthemen bei psychisch gesunden und erkrankten Coachingteilnehmenden
Table 2: Coaching topics of mental healthy and ill coaching participants

Falldarstellungen

Erschöpfung am Arbeitsplatz im Sinne gesunden Leidens: Revision der Arbeitsmenge

Eine 32-jährige Sportwissenschaftlerin arbeitet als Koordinatorin für betriebliche Gesundheitsförderung einer öffentlichen Einrichtung in Vollzeit und übt daneben freiberufliche Nebentätigkeiten als Trainerin im Fitnessstudio aus. Sie berichtet im Coaching Erschöpfung durch Arbeitsüberlastung. Seit sieben Jahren sei sie für das Gesundheitsangebot in der Einrichtung verantwortlich. Vor zwei Jahren habe sie zusätzlich die Betreuung von Auszubildenden übernommen, um sich in neuen Bereichen weiterzuentwickeln. Sie habe seitdem eine deutlich mehr Arbeit. Ihre Erschöpfungssymptomatik merke sie seit etwa einem Jahr. Sie habe lange Arbeitstage und fühle sich zunehmend müde und ausgelaugt. An ihren Fitnessstudiotagen komme sie erst gegen 23:00 Uhr nach Hause und habe werktags regelmäßig nur noch fünf Stunden Schlaf. Ihr Konzentrationsvermögen sinke im Laufe des Arbeitstages, die halbstündige Mittagspause sei manchmal wegen vieler Termine nicht einhaltbar. Durch das hohe Arbeitspensum erlebe sie auch im privaten Alltag wenig Entspannung und Ausgleich zur Arbeit. Lediglich bei den eigenen Stretching-Einheiten am Abend könne sie sich erholen. Sie wolle mittelfristig wieder zu ihrem alten Lebensrhythmus zurückfinden. Obwohl sie sich aktuell dauergestresst erlebe, bekomme sie viele positive Rückmeldungen zu ihrer Arbeit und habe weiterhin Freude daran. Psychische Erkrankungen seien nicht bekannt.

Mit der Teilnehmerin werden im Coaching ihre unterschiedlichen Arbeitsbereiche und Aufgaben in einer Übersicht gesammelt. Währenddessen erkennt sie, dass insbesondere durch die Übernahme der Auszubildenden-Betreuung vor zwei Jahren zahlreiche Aufgaben hinzugekommen sind. Die Übersicht wird um eine Forschungstätigkeit ergänzt, die formal abgeschlossen wurde, aber noch Nachbereitung erfordert. Der geschätzte Zeitaufwand der einzelnen Aufgaben wird von der Teilnehmerin in einer Wochenübersicht dargestellt. Sie schätzt ihre Arbeitsmenge deutlich höher ein als vor zwei Jahren, als noch keine Erschöpfungssymptomatik vorlag. Der Wochenplan zeigt auf, dass die Bearbeitung aller Aufgaben ohne Überstunden zeitlich kaum zu bewältigen ist. Die Fitnesskurse erfordern pro Woche zusätzliche sieben Stunden (inklusive Anfahrtszeiten) sowie halbjährlich die konzeptuelle Erarbeitung neuer Choreografien. Eine Optimierung der eigenen Arbeitsorganisation und Delegation von Aufgaben werden diskutiert. Die Teilnehmerin kann sich vorstellen, die Nachbereitung der Forschungstätigkeit in den nächsten Monaten abzuschließen und einige Auszubildende in die Betreuung eines Kollegen zu übergeben. Ihre zwei Fitnesskurse will sie zunächst beibehalten, da sie diese für das nächste Halbjahr bereits zugesagt hatte. Anhand eines neuen Wochenplans übt die Teilnehmerin, täglich mehrere Pausenzeiten einzuplanen und die einzelnen Aufgaben weniger eng in den Arbeitstag einzutakten. Die Teilnehmerin legt ein hohes Reflexionsvermögen und soziale Kompetenz an den Tag und kann zwischen den Coachingsitzungen bereits Veränderungen anregen, indem sie Überstunden am Donnerstag und Freitag reduziert und zwei Auszubildende an ihren Kollegen übergibt.

Erschöpfung am Arbeitsplatz bei psychischen Erkrankungen: Vorbereitung einer betrieblichen Eingliederung

Die 49-jährige Teilnehmerin ist seit zwanzig Jahren als Einzelhandelskauffrau in einer Supermarktfiliale tätig. Mit 37 Jahren sei sie erstmals an einer Depression erkrankt. Vor eineinhalb Jahren beginnt ihre derzeitige depressive Episode. Sie sei deshalb in hausärztlicher sowie psychotherapeutischer Behandlung und medikamentös eingestellt. Zudem leide sie unter mehreren körperlichen Erkrankungen, unter anderem Asthma, Arthrose und Weichteilrheuma, weshalb sie einen Schwerbehinderungsgrad von 50 habe. Aufgrund dessen sei sie im Vorjahr zehn Wochen arbeitsunfähig gewesen und habe danach ihre Vollzeitstelle auf 25 Wochenstunden reduziert. Die Teilnehmerin könne mehrere Aufgaben am Arbeitsplatz nicht mehr ausreichend bewältigen, z. B. das Einräumen von Regalen, und bekomme deshalb zunehmend Konflikte mit dem Vorgesetzten und dem Kollegenteam. Im Backshop und an der Kasse könne sie weiterhin problemlos arbeiten. Aufgrund von wöchentlichen Infusionen und festen Einnahmezeiten für Medikamente habe sie angemerkt, keine Spätschichten mehr übernehmen zu wollen und auch nicht spontan für andere Kollegen einzuspringen. Das stoße bei Kollegen auf wenig Verständnis, sie bekomme nur neugierige Fragen zu ihrem Gesundheitszustand gestellt. Der Vorgesetzte nehme ihre Beschwerden nicht ernst und teile sie immer wieder für Spätschichten ein. Sie sei in Kontakt mit dem Integrationsamt, das sie unterstütze, ihre Forderungen am Arbeitsplatz durchzusetzen. Eine stationäre Rehabilitation sei beantragt. Im Coaching wolle sie besprechen, wie sie mit den feindseligen Aussagen von Kolleginnen und Kollegen umgehen kann und ein Klärungsgespräch zur Schonung am Arbeitsplatz mit ihrem Vorgesetzten initiieren.

Nach einer ausführlichen Exploration der komplexen Gesamtsituation geht es zunächst einmal darum, der Patientin Verständnis entgegenzubringen. Gleichzeitig wird sie dazu angeregt, sich mit Hilfe eines Perspektivwechsels in die Rolle ihrer Kolleginnen und Kollegen hineinzuversetzen, die wegen der Teilnehmerin mehr Spätschichten und weitere Aufgaben übernehmen müssen. Die Teilnehmerin kann nach einigen Anläufen etwas Verständnis für ihre Kolleginnen und Kollegen aufbringen. Gemeinsam wird überlegt, wo sie sich am Arbeitsplatz im Rahmen ihrer Möglichkeiten besonders einsetzen könnte, um dem Kollegenteam etwas Gutes zu tun und eigene Unterstützungsbereitschaft zu signalisieren. Sie schlägt vor, dass sie den Kolleginnen und Kollegen einige unliebsame Aufgaben in der Büroarbeit abnehmen könnte, wenn diese dafür die Regale an ihrer Stelle einräumen.

Anschließend wird mit der Teilnehmerin ein Gespräch mit dem Vorgesetzten und der Vertreterin des Integrationsamts vorbereitet, in dem gemeinsam überlegt werden sollte, wie in der Filiale mit den Leistungsdefiziten der Teilnehmerin und ihren Forderungen umgegangen werden kann. Die Teilnehmerin kann erkennen, dass sie durch eine zu fordernde Haltung im Gespräch nicht zu ihrem Ziel gelangen würde und deshalb freundlich und kompromissbereit auftreten sollte. Ein Ausschnitt des Gesprächs wird mit der Teilnehmerin im Rollenspiel geprobt. Bis zum Abschluss des Coachings konnte noch kein Gesprächstermin stattfinden, doch die Teilnehmerin sieht diesem positiv entgegen. Ihre stationäre Rehabilitation wird bewilligt, so dass sie diese in wenigen Monaten wahrnehmen werde.

Diskussion

Beim Vergleich der Coachingverläufe von psychisch gesunden und erkrankten Teilnehmenden mit Erschöpfungssymptomatik wurde deutlich, dass unterschiedliche Ausrichtungen auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden im Coaching notwendig waren. Je nach gesundheitlicher Voraussetzung brachten die Teilnehmenden verschiedene Themen mit ins Coaching.

Themen der sozialen Interaktion wurden in beiden Gruppen am häufigsten geschildert. Bereits Jex (1998) und Niosh (1999) nannten soziale Konflikte als Hauptstressor am Arbeitsplatz. Da psychische Erkrankungen mit Einschränkungen in Fähigkeiten der sozialen Interaktion einhergehen können (Almerie et al. 2015; Beidel et al. 2014; Segrin 2000), kommen die Themen möglicherweise bei psychisch erkrankten Teilnehmenden etwas häufiger vor. Arbeitsbiografiebezogene Probleme wurde von psychisch erkrankten Teilnehmenden häufiger genannt („Das Problem kenne ich schon von früher“), was mit vermehrten Arbeitsplatzverlusten und -wechseln in Zusammenhang stehen könnte (Nelson u. Kim 2011). Problemstellungen mit Arbeitsbedingungen zeigten sich bei psychisch Erkrankten häufiger als bei psychisch Gesunden. Durch Defizite in arbeitsbezogenen Fähigkeiten ist es bei psychisch erkrankten Beschäftigten oftmals notwendig, auch eine Anpassung des Arbeitsumfelds vorzunehmen (Muschalla u. Rothermund 2020). Die Bewältigung der Arbeitsmenge wurde von psychisch gesunden Teilnehmenden (25 %) doppelt so häufig geschildert wie von psychisch erkrankten Teilnehmenden (13 %). Möglicherweise sind diese Themen bei psychisch erkrankten Beschäftigten anderen, noch vorrangigeren Problemen untergeordnet.

Durch die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse von gesunden und psychisch erkrankten Teilnehmenden haben Coaches die Aufgabe, Coachinginhalte und -Techniken individuell an die Teilnehmenden anzupassen. Eine klare Trennung von Coaching und Psychotherapie sollte an die Teilnehmenden kommuniziert und die Zielorientierung des Coachings dementsprechend angepasst werden (Aboujaoude 2020; Linden 2016). Beim Vorliegen psychischer Erkrankungen im Coaching ist die Einschätzung klinischer Störungsrelevanz durch Fachpersonal erforderlich, um keine Vermischung der Behandlung psychischer Erkrankungen und der Bearbeitung arbeitsbezogener Problemstellungen und daraus resultierender Beschwerden zu riskieren (Möller 2018) oder gar Nebenwirkungen wie Irritation der Erkrankten zu verursachen. Letzteres wäre etwa der Fall, wenn in einer laufenden Psychotherapie bei generalisierter Angst der formale Umgang mit Sorgengedanken geübt wird (erkennen, dass es sich um Sorgen handelt, denen man nicht auf der Handlungsebene nachkommen muss, Aushalten von Ungewissheit), während ein parallel dazu laufendes Coaching versucht, weitere „Problemlösestrategien“ zu vermitteln.

Bei Missverstehen eines Coachings als eine Art Miniatur-Psychotherapie, Ursachensuchen oder Problemattribuieren besteht die Gefahr, psychische Probleme erst anzustoßen oder bestehende zu verschlimmern (Schermuly 2014). In den hier durchgeführten Coachings hat sich in den Fällen, in denen psychische Erkrankungen vorlagen, eine Fokussierung auf die Versorgungskoordination als sinnvoll erwiesen. Dies geschah im Sinne unterstützender Gesprächsvorbereitung oder Weitervermittlung an Behandelnden oder Kontaktanbahnung mit betriebsärztlichen Diensten für die Gruppe der psychisch erkrankten Teilnehmenden.

Schlussfolgerungen

Obwohl die Studienlage für Coachings im Arbeitskontext durch unterschiedliche Konzepte noch recht gering ist (Hill et al. 2015), zeigen systematische Untersuchungen positive Effekte auf die Arbeitsleistung, berufliche Fähigkeiten, das Wohlbefinden und die Einstellung zur Arbeit (Theeboom et al. 2014). Die Ausrichtung auf individuelle Problemstellungen, Aspekte der Arbeitsbedingungen und persönliche Entwicklungsziele im Einzelkontext wird empfohlen (Losch et al. 2016). Eine parallele Versorgung durch Coaching im Arbeitskontext und Psychotherapie zur Behandlung der psychischen Erkrankung und damit einhergehender Erschöpfungssymptomatik schließen sich nicht aus (Jordan u. Livingstone 2013; Stein et al. 2017), sofern beide unterschiedliche und umschriebene Ziele verfolgen (Möller 2018). Bei der Durchführung der Coachings ist eine psychologische Diagnostik durch geschultes Fachpersonal unablässig, um hinter den Arbeitsproblemen liegende psychische Erkrankungen in der Beratung zu berücksichtigen (Greif 2014). Coaches ohne psychotherapeutische Ausbildung sollten von Supervision Gebrauch machen (Crow 2017).

Interessenkonflikte: Die Autorinnen geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

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Kontakt

Prof. Dr. Beate Muschalla

Klinische Psychologie, Psychotherapie und Diagnostik
Technische Universität Braunschweig
Humboldtstr. 33
38106 Braunschweig
b.muschalla@tu-bs.de

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