Konzentration auf zwei Branchen
Zeitarbeit bzw. Arbeitnehmerüberlassung ist durch ein Dreiecksverhältnis zwischen Zeitarbeitsunternehmen, Zeitarbeitnehmer und Einsatzunternehmen gekennzeichnet, dabei wird Zeitarbeit definiert als betriebliche Überlassung von Beschäftigten an Dritte zum Zweck der Arbeitsleistung in sämtlichen Branchen außer dem Bauhauptgewerbe. Im Juni 2016 waren 1,006 Millionen Zeitarbeitnehmer in Deutschland entweder sozialversicherungspflichtig oder geringfügig beschäftigt (Bundesagentur für Arbeit 2017; s. „Weitere Infos“). Im Vergleich zum Vorjahr nahm ihre Zahl damit um 45 000 zu, der Anteil der Zeitarbeitnehmer an der Gesamtbeschäftigtenzahl (36,5 Millionen) beträgt somit etwas weniger als 3 %. Die Arbeitnehmerüberlassung reagiert frühzeitig auf Änderungen der konjunkturellen Rahmenbedingungen und ist daher ein Frühindikator für die Entwicklung am Arbeitsmarkt.
Insgesamt ist die Zeitarbeit eine kontinuierlich wachsende Branche, 1985 waren lediglich 42 000 Personen in der Zeitarbeit beschäftigt. Zeitarbeit wird in der Wirtschaft eingesetzt, um konjunkturbedingte Schwankungen auszugleichen und aktuellen Mehrbedarf an Arbeitskräften zu decken. In einigen Branchen beträgt der Anteil der eingesetzten Zeitarbeitnehmer bis zu 30 %. Etwa ein Drittel der Zeitarbeitnehmer sind im Bereich Verkehr und Logistik, ein weiteres Drittel im Bereich Metall und Elektro eingesetzt. Das Spektrum der Einsatzbereiche von Zeitarbeitnehmern zeigt Abb. 1.
Zeitarbeitnehmer arbeiten häufiger in Tätigkeiten, die mit einem niedrigen Qualifizierungsniveau verbunden sind. Mehr als jeder Zweite übt eine Helfertätigkeit aus, bei allen Beschäftigten ist dies nur jeder Fünfte. Die Mehrzahl der Zeitarbeitnehmer ist männlich und jung. Personen ohne Berufsabschluss sind anteilig deutlich häufiger vertreten als bei den Beschäftigten insgesamt, auch ist der Ausländeranteil in der Zeitarbeit höher. Die Zeitarbeitsbranche ist von großer Dynamik geprägt: Im ersten Halbjahr 2016 wurden 678 000 Beschäftigungsverhältnisse neu abgeschlossen und 616 000 beendet. Knapp drei von zehn Leiharbeitsverhältnissen enden nach weniger als einem Monat, etwa 15 % nach mehr als 18 Monaten (Bundesagentur für Arbeit 2017; s. „Weitere Infos“).
Entsprechend dem Tätigkeits- und Risikoprofil in der Zeitarbeit ergibt sich ein erhöhtes Unfallrisiko. 2015 betrug die Anzahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle 40 160, die der meldepflichtigen Wegeunfälle 7612. Damit nahm die Branche den Spitzenplatz bei der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherungsträger (VBG) ein (VBG 2016). In der Statistik der Berufskrankheiten liegen in der Zeitarbeit die Erkrankungen der Haut (BK-Nr. 5101) und Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) auf Platz eins und zwei und spiegeln damit die Gefährdungen im Helferbereich wider. Es konnte gezeigt werden, dass bei Zeitarbeitnehmern insbesondere im Bereich Hautschutz erhebliche Defizite bestehen und die Verfügbarkeit geeigneter Persönlicher Schutzausrüstung und Hautschutzmittel, aber auch angemessener betriebsärztlicher Beratung durch häufige Einsatzwechsel eingeschränkt ist (Sander 2008).
Hohe Belastungen in der Zeitarbeit
Aus arbeitsmedizinischer Sicht bestehen in der Zeitarbeit besondere Anforderungen und Rahmenbedingungen mit direkten Auswirkungen auf das Belastungs- und Gefährdungsprofil der Beschäftigten:
- häufig kurze Einsatzdauer,
- häufiger Wechsel von Aufgaben, Tätigkeiten und Umgebungsbedingungen,
- fehlende Arbeitsroutinen,
- schwere körperliche Arbeit,
- ungünstige klimatische Belastungen,
- Umgang mit Gefahrstoffen, Hautbelastung,
- hohe Anforderungen an zeitliche, fachliche und soziale Flexibilität,
- erschwerte Kommunikation und Interaktion im Einsatzunternehmen,
- fehlende Ansprechpartner im Einsatzunternehmen.
Die betriebsärztliche Betreuung und Beratung in der Zeitarbeit muss zusätzlich zu diesen Faktoren die erschwerte Erreichbarkeit der Beschäftigten und die eingeschränkte Kenntnis der Arbeitsplätze und vorgesehener Tätigkeiten berücksichtigen. In der Arbeitsmedizinischen Empfehlung (AME) Zeitarbeit sind deshalb wichtige Handlungsfelder für die arbeitsmedizinische Prävention genannt (BMAS 2014; s. „Weitete Infos“):
- Arbeitsschutzvereinbarung: Ein strukturierter Informationsfluss ist die Basis einer guten Arbeitnehmerüberlassung. Durch eine schriftliche Arbeitsschutzvereinbarung wird dieser Informationsfluss gewährleistet, in ihr werden detaillierte Regelungen zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz für die Zeitarbeitsbeschäftigten getroffen.
- Gefährdungsbeurteilung: Sie ist die Basis eines guten Gesundheitsschutzes und eine Pflicht nach dem Arbeitsschutzgesetz. Die Betriebsärzte unterstützen bei der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung. Die Gefährdungsbeurteilung durch das Zeitarbeitsunternehmen bezieht sich auf die Situation im Zeitarbeitsunternehmen, die des Einsatzbetriebes auf die konkrete Situation dort.
- Arbeitsplatzbegehung: Begehungen sind Grundaufgaben von Betriebsärzten nach dem Arbeitssicherheitsgesetz und bilden eine wichtige Grundlage arbeitsmedizinischer Prävention. Sie sind Voraussetzung für die Gefährdungsbeurteilung. Diese wiederum ergibt Anhaltspunkte zur arbeitsmedizinischen Vorsorge.
- Unterweisung: Das Arbeitsschutzgesetz sieht bei entsprechender Exposition und Gefährdung eine Unterweisung vor. Sie dient dem Ziel der Aufklärung über Gesundheitsgefahren und der Umsetzung von Schutzmaßnahmen. Die allgemeine arbeitsmedizinische Beratung im Rahmen der Unterweisung, z. B. bei Umgang mit Gefahrstoffen, ist ein wichtiger Bestandteil von gesetzlichen Vorgaben.
- Persönliche Schutzausrüstung (PSA): Sie schützt vor Risiken, die die Sicherheit oder die Gesundheit von Beschäftigten gefährden. Ziel ist ein Schutz ohne eigene Gefährdung. Die PSA ist arbeitsplatzspezifisch, individuelle Auswahl und Anpassung erfolgen in der arbeitsmedizinischen Vorsorge.
- Arbeitsmedizinische Vorsorge und Eignung: Vorsorge kann im Rahmen von Zeitarbeit erforderlich sein, entsprechende Gefährdungen sind abzuleiten aus der Gefährdungsbeurteilung. Die Erforderlichkeit von Eignungsfeststellungen kann aus gesetzlichen Vorgaben und einer Beurteilung der Gefährdung von Dritten abgeleitet werden.
- Betriebliche Gesundheitsförderung: Sie hat für die Stammbelegschaft und für Beschäftigte in Zeitarbeit positive Effekte und ist ein zentrales Instrument der arbeitsmedizinischen Prävention. Ziel ist unter anderem Aufbau und Stärkung der Gesundheitskompetenz von Beschäftigten.
Für die betriebliche Praxis bestehen bereits heute Lösungsansätze für eine geeignete betriebsärztliche Betreuung. Sie umfassen den Austausch von Informationen der betreuenden Betriebsärzte von Zeitarbeits- und Einsatzunternehmen über Tätigkeitsprofile, Expositionen, Schutzausrüstung, Schichtsysteme oder auch regelmäßige Einbindung von Betriebsärzten in innerbetriebliche Entscheidungsprozesse zu Arbeit und Gesundheit sowie Präsenz im Arbeitssicherheitsausschuss. Allerdings wird die Betreuung häufig auf die Durchführung von arbeitsmedizinischer Vorsorge beschränkt. Zugangsmöglichkeiten zu bedarfsgerechter, niedrigschwelliger betriebsärztlicher Beratung bei aktuellen Problemen und Fragen zum Gesundheitsschutz bleiben auch aufgrund der räumlichen Trennung der Zeitarbeitnehmer eingeschränkt. Insofern besteht der Bedarf einer verbesserten Betreuung mit alternativen Zugangswegen für Beschäftigte und Betriebsärzte, bei der die Telemedizin einen Beitrag leisten könnte.
Verbesserung der Versorgung
Telemedizin ist als ein Sammelbegriff verschiedenartiger Versorgungskonzepte etabliert und als Teilgebiet von eHealth einzuordnen. Dieser Begriff umfasst auch noch die Bereiche eAdministration, eLearning, eResearch und ePrevention. Die Bundesärztekammer definiert Telemedizin als „Sammelbegriff für verschiedenartige ärztliche Versorgungskonzepte, die als Gemeinsamkeit den prinzipiellen Ansatz aufweisen, dass medizinische Leistungen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen oder zeitlichen Versatz hinweg erbracht werden. Hierbei werden Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt“ (BÄK 2015, s. „Weitere Infos“). Ziel ist eine „hochwertige Patientenversorgung“; die Methoden sollten additiv zur konventionellen Patientenversorgung eingesetzt werden. Insgesamt werden sieben mögliche Versorgungsmodelle vorgeschlagen, die in Tabelle 1 zusammengestellt sind.
Aus diesen für die allgemeine Patientenversorgung definierten Modellen hat der Berufsverband der deutschen Betriebs- und Werksärzte (VDBW) zwei Vorgehensweisen identifiziert, die möglicherweise auch für die Arbeitsmedizin und die betriebsärztliche Versorgung von Beschäftigten eingesetzt werden können.
Modelle für die Arbeitsmedizin
Bei Modell zwei (Telediagnostik Arzt – Patient) handelt es sich um die Befundung von erhobenen Untersuchungsergebnissen in räumlicher Trennung vom Untersuchungsort. Die Verantwortung für den Befund liegt bei dem zuständigen Arzt. Mögliche Anwendungen wären hier die Durchführungen von Funktionsdiagnostik wie Seh- oder Lungenfunktionstests. Das Modell sieben (Telekonsultation Patient – Arzt) könnte einerseits die betriebsärztliche Beratung zu individuellen Risiken durch die Tätigkeit oder allgemeine gesundheitliche Beratung umfassen, andererseits auch konkrete Diagnosestellungen und Therapieempfehlungen beinhalten und dabei die Arbeitsbedingungen berücksichtigen.
Weitere Einsatzmöglichkeiten telemedizinischer Anwendungen sind die zeitnahe Beratung des Arbeitgebers auch bei speziellen oder dringlichen Fragestellungen, die virtuelle Teilnahme an Themensitzungen zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) oder Sitzungen im Arbeitsschutzausschuss (ASA) und die Begehung nach erfolgter Erstbegehung. Telemedizin kann jedoch nicht eine umfassende Erstbegehung eines Arbeitsplatzes oder eine komplexe arbeitsmedizinische Vorsorge inklusive ärztlicher Untersuchung ersetzen. Dabei kann die telemedizinische Beratung „selbstverständlich die Beteiligung des Arbeitsmediziners bei der Begehung und der Gefährdungsbeurteilung vor Ort nicht ersetzen, jedoch sicherlich die Beratung …. des Arbeitgebers ressourcensparend ergänzen. Bei der telemedizinischen Beratung darf es nicht darum gehen, konventionelle Beratungsmethoden und Verfahren eins zu eins digital abzubilden“ (Letzel 2016).
Fazit
Es bleibt festzuhalten, dass Telemedizin auch in der Zeitarbeit in den als wichtig identifizierten Bereichen Gefährdungsbeurteilung, Arbeitsplatzbegehung, arbeitsmedizinische Vorsorge und bei der Beratung von Arbeitgebern und Beschäftigten eine unterstützende Rolle spielen und derzeit bestehende Defizite aufgrund der besonderen Situation in der Zeitarbeit teilweise ausgleichen kann. Voraussetzung ist allerdings die konsequente Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorgaben und eine entsprechende technische Ausstattung.
Literatur
Bundesagentur für Arbeit: Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung, Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt, Aktuelle Entwicklungen der Zeitarbeit. Nürnberg: 2017.
Letzel S, Schöne K, Nesseler T, Rose DM: Telemedizin – eine zukunftsorientierte Methode für die Arbeitsmedizin. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2016; 51: 268–275.
Sander M, Stange-Bopp R, Petersen J: Hauterkrankungen in der Zeitarbeit und in Bildungseinrichtungen. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2007; 42: 222–227.
Verwaltungs-Berufsgenossenschaft: Statistik und Datenbereitstellung, Statistische Eckdaten Zeitarbeit. Hamburg: 2016.
Weitere Infos
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Ausschuss Arbeitsmedizin, Arbeitsmedizinische Empfehlung Zeitarbeit, 2014
Verband deutscher Betriebs- und Werksärzte, Leitfaden Telemedizin
Bundesärztekammer: Telemedizinische Methoden in der Patientenversorgung – Begriffliche Verortung. Erarbeitet von der AG Telemedizin und beschlossen vom Vorstand der Bundesärztekammer am 20.03.2015.
www.bundesaerztekammer.de/aerzte/telematiktelemedizin/telemedizin/
Autor
Dr. med. Jens Petersen
Facharzt für Arbeitsmedizin, Innere Medizin
Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG)
Referat Arbeitsmedizin
Massaquoipassage 1
22305 Hamburg