Im Herbst 2020 wurde die Schweizerische Gesellschaft für Arbeitsmedizin (SGARM) von der Redaktion der ASU angefragt, ob sie bereit sei, Inhalte für eine Ausgabe der ASU mit dem Schwerpunkt „Arbeitsmedizin in der Schweiz“ zu liefern. Die SGARM vertritt einerseits in einem berufsständischen Kontext als Fachgesellschaft innerhalb der Schweizerischen Aerztevereinigung „Federatio Medicorum Helveticorum FMH“ die Belange für einen der 45 Schweizer Facharzttitel. Zum anderen aber bündelt sie auch die Interessen der Mitglieder und der Arbeitsmedizin als Fachgebiet gegenüber anderen Anspruchsgruppen in der Gesellschaft und versucht, diese wo immer sinnvoll und machbar möglichst prominent zu artikulieren. Die ASU ist auch offizielles Organ der SGARM, allerdings liest man Schweizer Beiträge hier doch eher selten. So war die Einladung der Redaktion für uns ein erfreulicher Anlass und wir können mit dieser Ausgabe die Kolleginnen und Kollegen der D-A-CH Region mit einigen Schweizer Spezialitäten bedienen, die hoffentlich die fachlich geneigten Leserinnen und Leser auch interessieren könnten.
Die Stellung der Arbeitsmedizin und ihre betriebliche Entfaltung in der Schweiz unterscheidet sich sehr stark von der in Deutschland. Den augenfälligsten Ausdruck dieser Differenz liefert schon der Vergleich der Zahlen der Titelträger: Im Jahr 2020 waren gemäß Ärztestatistik der FMH 38.502 Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz berufstätig, davon 135 oder 0,35 % mit der Gebietsbezeichnung Arbeitsmedizin. Die Vergleichszahlen für Deutschland in 2020 sind: 3715 Titelträger oder 0,91 % der 409.121 berufstätigen Ärztinnen und Ärzte1. Die Schweiz müsste also 350 beruflich aktive Titelträger mit Haupttätigkeit in der Arbeitsmedizin haben, um relativ gleich viele Fachärztinnen und -ärzte wie Deutschland aufzuweisen. Hinzu kommen in Deutschland noch 2322 Kolleginnen und Kollegen mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ im Alter unter 65 Jahren (Zahlen für 2017). Diese Ressource entfällt in der Schweiz für die betriebliche Arbeitsmedizin komplett, wir haben hier keine vergleichbare Qualifikation. Während das deutsche Arbeitssicherheitsgesetz (ASIG) und die daraus abgeleiteten Bestimmungen die Unternehmen direkt zur Mandatierung von Betriebsärzten für eine definierte Größe von „Einsatzstunden“ verpflichtet, gilt eine sinngemäß entsprechende „Beizugspflicht“ in der Schweiz nicht exklusiv für „Arbeitsärzte“ sondern für „Arbeitsärzte und andere Spezialisten der Arbeitssicherheit“ in ihrer Gesamtheit. Eine spezifische Vorgabe zur Mandatierung von „Arbeitsärzten“ in einem definierten Umfang oder für spezifische Aufgaben gibt es nicht.
Die Umsetzung der arbeitsmedizinischen Vorsorge erfolgt in der Schweiz durch eine zentrale Steuerung der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt Suva; Informationen zur Suva finden sich im Artikel von Hanspeter Rast und Anja Zyska Cherix. Anja Meyer beschreibt in ihrem Beitrag, wie das Screening zur Prävention der beruflich bedingten Lärmschwerhörigkeit komplett durch die Suva erfolgt und welche Schlüsse aus dem Paradox gezogen werden können, dass die Anmeldezahlezahlen nicht abnehmen. Bei den beruflich bedingten Hauterkrankungen kannte die Schweiz bei der Anerkennung den Zwang zur wiederholten Rückfälligkeit nicht und Erkrankungen der Haut durch UV-Strahlung waren schon lange in der Bk-Liste, auch wenn – wie bei Outdoor-Workern – die Quelle der Bestrahlung die Sonne ist. David Vernez und Claudine Backes zeigen in ihrem Text die Auswirkungen der im Rahmen des Klimawandels vermehrten Temperaturspitzen für Präventionsmaßnahmen bei Outdoor-Workern auf. Interessant für deutsche und österreichische Leser ist sicher auch der wissenschaftliche Beitrag von Brigitta Danuser et al. zur noch ungenügenden Umsetzung der Mutterschutzvorschriften in der Schweiz, der auf einer systematischen Erhebung in der französischsprachigen Schweiz beruht.
Unsere Beiträge zeigen, dass trotz aller Unterschiede im regulatorischen Umfeld für die Akteure die arbeitsmedizinischen Aufgaben und Problemstellungen so verschieden nicht sind. Aus Schweizer Perspektive gelang es jedoch in Deutschland während der letzten 20 Jahre, die betriebliche Arbeitsmedizin durch verstärkte Professionalisierung der Akteure und vor allem der beiden Verbände VDBW und DGAUM sowie durch Modernisierung der Regulation zeitgemäß aufzustellen: Arbeitsmedizin weniger als Mittel zur Risikoabwehr durch Bevormundung und Kontrolle, sondern als betrieblich basierte Unterstützungsfunktion für Arbeitnehmende und Unternehmen. Heute ist die Arbeitsmedizin in der politischen und wirtschaftlichen Landschaft Deutschlands sehr präsent und wir schauen ehrlicherweise mit etwas Neid in den „großen Kanton“.
Ihr Klaus Stadtmüller
Schweizerische Gesellschaft für Arbeitsmedizin (SGARM)