Der viel beklagte Nachwuchs- und Fachkräftemangel in den Betrieben hat zu einem Phänomen geführt, von dem alle, die Betriebe arbeitsmedizinisch beraten, aber auch Rentenversicherer und Sozialämter noch vor wenigen Jahren kaum geträumt hätten: Statt Frühverrentung und anderen oft fragwürdigen Modellen, sich von älteren und damit nach deutschem Tarifrecht eher teureren Mitarbeitern zu trennen, umwirbt die Industrie diese Zielgruppe plötzlich! Auch auf Arbeitnehmerseite zeichnet sich ein Wandel ab: Starre Ruhestandsregelungen werden hinterfragt und es gibt mehrere Gründe, dass Arbeitnehmer nicht nur in den Vorruhestand gehen, sondern teilweise auch über das Verrentungsalter hinaus weiter arbeiten möchten (oder im Einzelfall auch müssen). Dabei ist „altern“ ein dynamischer Prozess, der bei einigen schon vor dem 40. Lebensjahr zu Einschränkungen führen mag, während andere mit über 90 Jahren noch geistig voll auf der Höhe sind – Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt war ein beeindruckendes Beispiel dafür. Die Redaktion hat beschlossen, nicht diesen oft mit negativem Image belasteten Begriff zu verwenden sondern von „älterem“ Mitarbeiter zu sprechen. Darunter sollen unabhängig vom kalendarischen Lebensalter Menschen verstanden werden, die aufgrund allfälliger Leistungseinbußen, die jeden irgendwann im Laufe des Lebens betreffen, oder Personen, die ihre volle Leistungsfähigkeit weiterhin entfalten können, wenn bestimmte Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ist die Arbeitswelt einschließlich der Arbeitsmediziner wirklich darauf eingestellt, diese Menschen mit ihren zunehmend spe-zifischen Anforderungen angemessen in der Arbeitswelt zu berücksichtigen bzw. arbeits-medizinisch zu betreuen? Mancher Blick auf einschlägige Regelwerke oder ein offenes Auge bei Betriebsbegehungen lässt manchmal daran zweifeln.
Die mit höherem Alter nachlassende maximale körperliche Leistungsfähigkeit ist hinlänglich bekannt. So ist in der Sportmedizin fest etabliert, dass die individuelle Maximalkraft wie auch die maximale aerobe Ausdauerleistung um etwa 1 % pro Jahr ab dem 25. Lebensjahr nachlassen. Dieser Wert ist in der Praxis jedoch irrelevant, weil es sich um einen Mittelwert mit großer interindividueller Streuung und um die durch Training maximal erreichbare Leistung handelt. Die individuell reale körperliche Leistungsfähig-keit bei der kaum im Maximalbereich trainie-renden Bevölkerung hängt dort, wo sie im Berufsalltag vorkommt, jedoch hochgradig von den Lebensumständen wie Aktivität als leistungsförderndem Faktor einerseits und durch den Lebensstil bedingte Leistungseinschränkungen andererseits ab. So mancher „Alte“ ist wenig trainierten „Jungen“ körperlich weit überlegen! Hinzu kommt, dass die Abnahme einiger physiologischer Kenngrößen durch geschicktere Motorik und Taktik, also Erfahrung, in wesentlichem Umfang kompensiert werden kann.
Seit den 60er Jahren ist es auch arbeitsmedizinisch etabliert, dass die optimale Arbeitsreichweite der Arme nicht nur vom Gewicht der zu bewegenden Teile abhängt, sondern neben der Körpergröße auch vom Alter. Bei Betriebsbegehungen wird man jedoch in der Produktion kaum einen Arbeitsplatz finden, der dies berücksichtigt. Es ist bekannt, dass ältere Arbeitnehmer sich häufig durch eine verminderte Arbeits-geschwindigkeit, aber auch durch eine höhere Arbeitspräzision und geringere Fehlerrate auszeichnen. Dieser Kompensations-mechanismus sollte als eine der Stärken äl-terer Arbeitnehmer genutzt werden, statt sich auf die verminderte Arbeitsgeschwindig-keit zu fokussieren. Leider werden aber bei den immer kürzeren Taktungen in der modernen Fließbandproduktion wider besseren Wissens Probleme insbesondere für ältere Mitarbeiter geschaffen.
Einige Regelwerke berücksichtigen die ver-minderte körperliche Leistungsfähigkeit älterer Mitarbeiter, so bei der G 26.3-Untersuchung („Schwerer Atemschutz“). Die dor-tige Argumentation, dass die Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit durch Erfahrung bedingt kompensiert werden kann, mag für viele Bereiche in der produzierenden Industrie zutreffen. Hier würde schlicht das Arbeitstempo der Betroffenen, also die Produktivität, sinken. Aber was ist mit Feuer-wehr und Rettungsdiensten? 3 W/kg KG werden initial gefordert. Dabei wird nicht er-wähnt, dass es nur zwei wissenschaftliche Untersuchungen der körperlichen Anforde-rungen im Rettungsdienst gibt, und die be-treffen, abgesehen von der Belastung bei Wiederbelebungsmaßnahmen, mit der alpi-nen Luftrettung einen völlig anderen Bereich. Vor allem für die Rettung von Perso-nen unter sog. „umluftunabhängigen Atemschutzgeräten“ (= „schwerer Atemschutz“) liegen bislang allenfalls winzige Pilotstu-dien mit geringer Power vor. Die in der G 26 empfohlenen Mindestleistungen sind in der vorliegenden Form schlicht am berühmten „grünen Tisch“ entstanden! Auch bei der Feuerwehr gilt, dass schiere Kraft und aerobe Ausdauer in gewissen Grenzen durch Er-fahrung und Geschicklichkeit kompensiert werden können. Dies hat jedoch bei hoch be-lastenden Aufgaben seine Grenzen, und hier ergibt sich plötzlich ein Problem: Als Notarzt wüsste ich schon gerne, ob „meine“ Leute mich oder meinen Patienten im Notfall aus einer verzweifelten Situation auch retten können – und wie die Studie aus der Luftrettung zeigt, reichen hier die berühmten 3 W/kg KG gerade mal knapp! Schließlich müssen die Retter außer der eigentlichen Rettung noch sowohl 16,8 kg Zusatzgewicht durch die Atemschutzausrüstung als auch deren erhöhten Atemwegswiderstand bewältigen. Moderne, ergonomischere und leichtere Geräte werden nur bei ganz wenigen Feuerwehren vorgehalten. Somit ist gerade dies ein gutes Beispiel für den Ermessensspielraum arbeitsmedizinischer Ein-schätzung und Beratung – denn wer sonst könnte die körperliche Gesamtsituation vor dem Hintergrund anstehender Aufgaben ein-schätzen, wenn nicht ein Arbeitsmediziner mit soliden leistungsphysiologischen und ergonomischen Kenntnissen und einer men-talen Nähe – möglichst persönlichen Erfahrung – zu Atemschutz und Rettungsdienst?
Die Entwicklung der Alterspyramide hat auch dazu geführt, dass es heute völlig normal ist, beispielsweise einen 58-jährigen Ingenieur mit Hypertonie und Diabetes nach Nigeria zum Ölbohren zu entsenden – vor wenigen Jahren noch ein „No go“. Hier wer-den Gesundheitsrisiken in eine völlig andere Umgebung und eine geringe Infrastruktur ex-portiert, eine Herausforderung für die arbeitsmedizinische Betreuung international operierender Firmen, die weit über die oft schon wenig bekannten Wechselwirkungen der Malariaprophylaxe mit zahlreichen herz-wirksamen Medikamenten oder Impfungen hinausgeht.
Sowohl bei der Beratung im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge als auch bei Pflichtuntersuchungen dürfte ein Arbeits-mediziner damit konfrontiert werden, dass mit zunehmendem Alter des Mitarbeiters Funktionswerte oder klinische Parameter grenzwertig überschritten werden, obgleich eine Plausibilitätsprüfung eine positive Gesamtbeurteilung zugunsten des Verbleibs am Arbeitsplatz möglich erscheinen lässt. Damit stellt sich die Frage, welchen Ermessens- bzw. Entscheidungsspielraum dem be-urteilenden Arbeitsmediziner zur Verfügung steht. Aus Angst vor den rechtlichen Konse-quenzen einer Fehlentscheidung einen Men-schen von seiner Tätigkeit auszuschließen, dürfte ethisch nicht vertretbar sein, genau so wenig wie eine Gefälligkeitsentscheidung oder gar eine durch Drohung herbeigeführte Entscheidung.
Im Vorfeld wurde zum Thema der Aus-nahmeentscheidungen argumentiert, man würde damit eine Büchse der Pandora öffnen. Obgleich erfahrene Arbeitsmediziner gerade bei älteren Arbeitnehmern immer wieder im Einzelfall gut begründete Ausnahmeentscheidungen bezüglich Regelwerke, Leitlinien usw. treffen, wurde dieses Thema im Schrifttum kaum behandelt. Die Büchse der Pandora ist also schon längst offen, nur nicht öffentlich. Sieht man mit dem Argu-ment dieser „Büchse“ die Gefahr des Missbrauchs oder stellt dieses Argument eine Misstrauenserklärung gegen die Kompetenz von Arbeitsmedizinern dar?
Die Erfahrung des zu beurteilenden älte-ren Arbeitnehmers stellt zweifellos ein wichtiges, qualitatives Argument für die Ge-samtbeurteilung dar. Dafür bedarf es aber auch der Erfahrung des Beurteilers. Auch hier sind Kompensationsmechanismen denk-bar und diese sollten angesichts der zunehmenden Problematik der alternden Arbeitnehmer diskutiert werden.
So greift die nun vorliegende Ausgabe der ASU ein breites Spektrum an Themen auf, die den älteren Mitarbeiter betref-fen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Hin-weisen, die die betriebsärztliche Entscheidungsfindung zu Ausnahmen bei individuel-len Risikokonstellationen erleichtern. Neben rechtlichen Faktoren aus dem Beitrag von Frau Andres Hellmann beschäftigt sich Dr. med. Alexander Kuhlmann mit dem kardialen Risikopatienten, also einer weit verbreiteten Konstellation nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch der Belegschaften. Professor Dr. med. Bern Hartmann und Dr. med. Heidrun Hartmann diskutieren Voraussetzungen sowie grundsätzliche Abläufe bei der Beurteilung gerade „kritischer“ Fälle und Prof. Dr. med. Hans-Volkhart Ulmer widmet sich den Fragen zu ärztlich begründeten Ab-weichungen von Regelwerken. Der Autor die-ses Editorials betrachtet schließlich vor dem Hintergrund internationaler Literatur den äl-teren Arbeitnehmer in Schichtsystemen.
Es gibt also viel zu tun, um die Betreuung älterer Arbeitnehmer, die nach meiner festen Überzeugung ein echtes Zukunftspotenzial darstellen, weiterhin zu verbessern. Insbesondere sollten die Arbeitsmediziner auch dazu beizutragen, dass generationsübergreifend im Kollegium gearbeitet wer-den kann. In diesem Sinne stellt die aktuelle ASU einen wesentlichen Schritt in die richtige Richtung dar.
Prof. Dr. med. Thomas Küpper,
Aachen