„Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit“ ist ein etwas sperriger und abstrakter Begriff. Häufig wird gleich an einen aktiven Eingriff in die Leistungsfähigkeit von Mitarbeitenden oder gar an Gutachten, Eignungsfeststellungen und Abgleich von Anforderungs- und Fähigkeitsprofilen für Arbeitsplätze gedacht. Diese Maßnahmen sind aber viel zu kurz gegriffen und erfassen bei Weitem nicht die Wertigkeit arbeitsmedizinischer Tätigkeit in Unternehmen zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit ihrer Beschäftigten.
Die Arbeitsmedizin hat in den letzten 50 Jahren einen erheblichen Wandel erfahren. Von der Umsetzung gesetzlicher Regelungen wie dem Arbeitssicherheitsgesetz, der Etablierung der arbeitsmedizinischen Vorsorge und der Feststellung arbeitsbedingter Gesundheitsstörungen und Erkrankungen hat sich das Tätigkeitsfeld von Arbeitsmedizinerinnen und -medizinern immer mehr in Richtung Prävention, Gesunderhaltung bis hin zur Förderung der Gesundheit entwickelt. Anfang dieses Jahrtausends war die Gruppe der über 60-jährigen Beschäftigten in vielen Unternehmen noch überschaubar. Mit Verlängerung der Lebensarbeitszeit und einem immer späteren Renteneintritt ist die Erhaltung der Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit über ein langes Arbeitsleben hinweg in den Vordergrund getreten. Muskel-Skelett- und psychische Erkrankungen sind neben den Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie und Adipositas die Regel in der arbeitsmedizinischen Sprechstunde. Langzeiterkrankungen mit Arbeitsausfällen von mehr als sechs Wochen machen den größten Anteil der Arbeitsausfalltage in Unternehmen aus.
Dabei liegen die psychischen Gesundheitsstörungen, gemessen an der Dauer der Arbeitsunfähigkeit, an erster Stelle. Gerade in Zeiten einer zunehmenden Leistungsanforderung bei der Arbeit und erwünschter Effizienz sind subjektiv empfundene Stressbelastung und Arbeitsverdichtung Risikofaktoren für zunächst akute Beeinträchtigungen der Gesundheit, die sich im Verlauf oft chronifizieren und schließlich zu einer dauerhaften Reduktion der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit führen können.
Im Beitrag von Michael Eglins und Lars Hilgers wird die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit durch eine strukturierte Rehabilitation im Betrieb beschrieben. Das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist ein wirksamer Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) geworden, bei dem Betriebsärztinnen und -ärzte eine Schlüsselrolle als Beratende der Beschäftigten ausfüllen. Quasi sektorenübergreifend sichten Betriebsärztinnen und -ärzte zusammen mit den Mitarbeitenden externe Befunde und planen die Wiederaufnahme der Arbeit nach längerer Erkrankung. Dabei sind ihre detaillierten Kenntnisse der Arbeitsplätze und der organisatorischen Strukturen im Betrieb von großem Vorteil.
In Ergänzung dazu zeigen Bärbel Holzwarth et al. im wissenschaftlichen Teil eine Auswertung der stufenweisen Wiedereingliederungen in einem Großunternehmen der chemischen Industrie aus den Jahren 2016 bis 2021. Diese Daten bestätigen die hohen Ausfallzeiten, bedingt durch Erkrankungen des Bewegungsapparats und psychische Störungen.
Eine für uns neue Situation ist nach der nun fast drei Jahre währenden Corona-Pandemie entstanden: Langzeit-Arbeitsunfähigkeit beginnend nach einer Infektion mit dem Corona-Virus. Bianca Marchewka und Tobias Bachhausen stellen einen erweiterten Ansatz der beruflichen Rehabilitation für an COVID-19 erkrankte Menschen vor.
Anja Liebrich et al. aus dem Institut für Arbeitsfähigkeit in Mainz setzen zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit auf eine wirksame Verhaltens- und Verhältnisprävention mit dem Instrument wertschätzender Dialoge nach dem finnischen Arbeitsfähigkeitskonzept. Diesem liegt das „Haus der Arbeitsfähigkeit“ (nach Ilmarinen) zugrunde. Sowohl Beschäftigte als auch Führungskräfte müssen entscheiden, was sie selbst und was das Unternehmen tun kann, um Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und weiter zu fördern. Dabei spielen kontinuierliche und wertschätzende Dialogformate eine zentrale Rolle, um Mitarbeitende und Führungskräfte zusammenzubringen und Interventionen im Betrieb damit wirksam umzusetzen.
Christoph Oberlinner und Stefan Webendörfer setzen in ihrem Beitrag auf ein ganzheitliches BGM im Unternehmen. Auch hier wird die Vernetzung von Sektoren aus der Arbeits-, Akut- und Rehabilitationsmedizin favorisiert. Die Nutzung der teilweise gesetzlich vorgeschriebenen arbeitsmedizinischen Vorsorge zusammen mit dem optionalen Angebot präventiver Gesundheits-Checks wird zur Früherkennung von Risikofaktoren oder bereits bestehenden chronischen Erkrankungen genutzt. Dieses Vorgehen entspricht der Zielsetzung des Präventionsgesetzes, nach der die „Lebenswelt Arbeitsplatz“ für Angebote der Gesundheitsprävention genutzt wird. Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner fungieren als Lotsen und empfehlen eine mögliche weitere Diagnostik und/oder Therapie durch niedergelassene Haus- und Fachärztinnen und -ärzte.
Um dieses Präventionsmodell wirksam umzusetzen, hat die
BASF SE mit dem Bau eines Medical Centers begonnen, um die Arbeits- und Betriebsmedizin des Unternehmens wirksam mit Akteuren des öffentlichen Gesundheitswesens eng unter einem Dach zu verbinden.
Thomas Liebermann beschreibt die Positionierung der Beschäftigungsfähigkeit und der Teilhabe am Arbeitsleben vor dem Hintergrund gesetzlicher Regelungen und Verordnungen in Deutschland, die das BGM im Betrieb beeinflussen beziehungsweise einen Rahmen vorgeben. Auch hier wird die Funktion der Betriebsärztinnen und -ärzte als Vermittelnden zwischen den Beschäftigten und dem Arbeitgeber genannt.
Zum Abschluss der Schwerpunktthemen schildert Nora Dittko in einem Interview, welche vorwiegend primär präventiven Maßnahmen ein großes Unternehmen zur Sicherung und Förderung der Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeitenden umgesetzt hat. Hier werden Beschäftigte und Führungskräfte gleichermaßen adressiert und in verschiedenen Formaten geschult beziehungsweise trainiert mit dem Ziel, ein gesundes Miteinander und gesunde Führung effektiv umzusetzen und damit die Belegschaft möglichst lange gesund zu erhalten.
Ich wünsche den Leserinnen und Lesern eine interessante Lektüre bei diesem spannenden Thema!
Ihr Stefan Webendörfer
Corporate Health Management, BASF SE, Ludwigshafen
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