Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die Me-dien über die Auswirkungen einer vier-ten industriellen Revolution – Industrie 4.0 – berichten. Das „Internet der Dinge“, die Vernetzung von Betriebsmitteln untereinander und die dadurch entstehenden neuen Kommunikations- und Interaktions-formen zwischen Mensch und Maschine erwecken Hoffnungen auf ingenieurgetriebene Produktivitätszuwächse, aber auch Befürchtungen und Ängste bei Mitarbeitern. Produktions- und Logistiksysteme agieren dezentral und selbstoptimierend, die zentrale Produktionssteuerung – ein Kernthema der letzten 40 oder 50 Jahre – verliert an Bedeutung. Ohne Zweifel werden dadurch die Märkte neu strukturiert, die Wettbewerbssituation der Unternehmen – national wie international – ändert sich gravierend.
Wenn man gleichermaßen in der industriellen Arbeitswelt und im Bereich personenbezogener Dienstleistungen unter-wegs ist und die Arbeitsbedingungen in bei-den Welten oft vergleicht, stellt sich jetzt natürlich die Frage nach ebenso gravierenden, evolutionären oder gar revolutionären Prozessen im Krankenhaus und in Pflege-einrichtungen – plakativ gesprochen, die Frage nach Pflege 4.0. Gibt es durchgreifende, ja dramatische Veränderungen, die die Tätig-keitsstrukturen der Beschäftigten und die Be-triebsorganisationen umfassend und nachhaltig verändern und eine neue Aufstellung der Krankenhäuser, der Leistungsträger, der Interessenvertretungen und nicht zuletzt der betroffenen Patienten und Mitarbeiter notwendig machen?
Diese Frage muss man mit einem klaren Nein beantworten. Natürlich gibt es die Fortschritte in den Behandlungstechniken, in Operationen und der Medikation. Natürlich ändern sich Finanzierungsformen oder die Beteiligungsstrukturen der großen Kranken-hausgesellschaften. Ebenso stark ist der Ein-fluss gesetzgeberischer Maßnahmen auf Kranken- und Pflegeversicherung, auf In-vestitionen, Baumaßnahmen, Behandlungsschwerpunkte und vieles andere mehr, aber dramatische Auswirkungen durch eine tech-nische Revolution auf den Alltag von Pflege-kräften, Ärzten und Patienten gibt es nicht. Nach wie vor gelten in den Dienstleistungen am Menschen andere Gesetze, ein Höchstmaß an Verantwortung, ein Mehr an körperlichem und seelischen Einsatz als wir es aus der Industriearbeit kennen.
Unverändert spielen insbesondere bei Pflegekräften Erkrankungen des Mus-kel-Skelett-Systems und der Psyche eine große Rolle. Ausbrennen, vielfältige psychosomatische Beschwerden oder auch De-personalitätsstörungen kennen wir im ärzt-lichen wie im pflegerischen Bereich. Pflege-kräfte führen seit Jahren viele Fehlzeiten-Statistiken an. Übermäßige Dokumenta-tionspflichten und bürokratische Routinen mindern die Zeiten, die für Patienten zur Verfügung steht. Hohe emotionale Belastun-gen und Schuldgefühle können die Folge sein. Obwohl seit Jahrzehnten gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu beanspruchungssenkenden Schicht- und Pausenorganisationen vorliegen, werden diese in der Mehrzahl der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen immer noch negiert oder nur nachrangig berücksichtigt.
Man könnte diese Aufzählung noch wei-ter fortsetzen. Sie war Anlass, die Belastung bei personenbezogener Dienstleistung, insbesondere bei Pflegetätigkeiten, zu dem Schwerpunktthema dieses Heftes zu machen. Dazu haben wir eine ganze Reihe von Praxisbeiträgen und wissenschaftlichen Aufsätzen zusammengestellt:
Das Autorenteam der BGW um Maren Kersten stellt praxiserprobte Instrumente der BGW zur Erfassung psychischer Belastungen vor: Mitarbeiterbefragungen und Analyseworkshops.
Gesa Horst-Schaper gibt arbeitsmedizinische Empfehlungen für die Schichtplangestaltung in der Krankenpflege. Aufgabe der Betriebsärzte ist insbesondere die Kommunikation von Eckpunkten zur Primärprävention gegen Gesundheitsstörungen durch Schichtdienst sowie die Beratung der betroffenen Beschäf-tigten.
Der empirische Forschungsstand zu den psychischen Belastungen und Beanspru-chungen professioneller Pflegekräfte wird von Andreas Zimber zusammengefasst. Dabei sollte die Leser eine Aussage im Beitrag besonders zum Nachdenken anregen: „So viel wurde schon über die prekäre Situation in den Pflegeberufen geschrieben und gesprochen – tatsächlich geändert hat sich seither wenig.“
Heike Ulatowski berichtet aus ihrer Tätigkeit im Pflegeconsulting über betriebliches Gesundheitsmanagement in der ambulanten Pflege anhand konkreter Maßnahmen. Klei-nere und mittlere Unternehmen suchen oft nach einfachen Wegen, um die mittlerweile auch vom Arbeitsschutzgesetz geforderte Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung zu meistern.
Moderierte Gruppenverfahren werden von Carola Brennert empfohlen.
Martina Michaelis von der Freiburger Forschungsstelle Arbeits- und Sozialmedizin (FFAS) und ihre Co-Autoren widmen sich der Frage: Welchen Stellenwert hat die systematisch gestaltete Gesundheitsprävention bei körperlich belastenden Tätigkeiten in der Alten- sowie in der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung?
Udo Eickmann und sein Autorenteam gehen der Frage der Prävention chemischer Risiken beim Umgang mit Desinfektionsmitteln im Gesundheitswesen nach. Jeder Arbeitgeber muss sich vor dem Einsatz von chemischen Produkte einer Gefährdungs-beurteilung unterziehen.
Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Bei-trags von Matthias Jäger und seinen Kollegen steht die Ableitung biomechanisch begründeter Handlungsanleitungen für rückengerechtes Bewegen von Patienten in der Kranken- und Altenpflege.
Last but not least: Die Oktoberausgabe der ASU enthält Grußworte der Organpartner DGAUM und ÖGA anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der ASU.
Prof. Dr.-Ing. Kurt Landau
Millstatt