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Wechsel- und Nachtschichtarbeit

Pandemie und Kriege machen auch vor unseren Betrieben nicht Halt und stellen die Unternehmen und ihre Beschäftigten vor große Herausforderungen. Losgelöst von den tagtäglichen Hiobsbotschaften ist aber nicht zu übersehen, dass sich die Dynamik des gesellschaftlichen Umbaus, insbesondere der demografische Wandel und der damit verbundene Fachkräftemangel, keineswegs entschleunigt hat. Die Akteure im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz sind daher gefordert, demografiefeste Konzepte zu entwickeln, die die verschiedenen Dimensionen dieses Transformationsprozesses berücksichtigen. In den letzten beiden Jahren wurde dieser jedoch überblendet von der Etablierung und Umsetzung flächendeckender kontaktreduzierender Arbeitsprozesse, wie zum Beispiel dem Homeoffice. Dabei gilt es mehr denn je, sich der strukturellen Frage zu stellen, wer die (Schicht-)Arbeit von morgen machen wird und wie zukünftige Modelle der Arbeitsorganisation gestaltet sein werden.

Wechsel- und Nachtschichtarbeit sind fast so alt wie die Menschheit selbst. War sie zunächst noch beschränkt auf die nächtliche
Sicherung von Siedlungen vor Überfällen, dehnte sie sich mit den Möglichkeiten der künstlichen Beleuchtung auch auf Produktions- und Dienstleistungsprozesse aus. Dabei standen zunächst die Prozesse in der Montanindustrie im Vordergrund, die einen konti­nuierlichen 24-stündigen Schichtbetrieb, zum Beispiel in der Stahl­erzeugung, erfordern. Im Rahmen unserer 24/7-Gesellschaft hat aber in den vergangenen Jahrzehnten die Wechsel- und Nachtschichtarbeit gerade im Dienstleistungssektor deutlich zugenommen.

Welche Bedingungen muss die Schichtarbeit von morgen erfüllen? Diese Ausgabe der ASU wird eröffnet mit einem Interview von Volker Harth, das auf die im Arbeitszeitgesetz verankerte arbeitsmedizinische Vorsorge näher eingeht und zugleich die aktuellen Herausforderungen der Schichtarbeitsforschung adressiert. Die International Agency for Research on Cancer (IARC), das Krebsforschungsinstitut der Weltgesundheitsorganisation (WHO), hatte 2007 mit ihrer Entscheidung, Schichtarbeit, die mit der Störung der Zirkadianik einhergeht, als „wahrscheinlich krebserregend für den Menschen“ einzustufen, einen wesentlichen Anstoß zur Intensivierung der internationalen Forschungsbemühungen gegeben. Aktuelle Empfehlungen zur Gestaltung und Vorsorge wurden im Oktober 2020 im Rahmen der S2K-Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“ durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) veröffentlicht. Die zahlreichen aktuellen Anwendungsstudien, die neue Schichtplanmodelle partizipativ in der Belegschaft etablieren und begleitend evaluieren, zeigen eindrücklich, dass es sich um ein sehr dynamisches Forschungsgebiet handelt.

In einem interdisziplinären Ansatz nähern sich die weiteren Publikationen dieser ASU-Ausgabe dem Gesamtkomplex „Nacht- und Wechselschichtarbeit“.

Seit vielen Jahrzehnten untersucht die Chronobiologie die zirkadianen Mechanismen in Pflanzen, Tieren und Menschen, um die Steuerung von Stoffwechselprozessen besser zu verstehen. Dass die durch Zeitgeber wie dem Tag-Nacht-Rhythmus gesteuerten zirkadianen Rhythmen durch Nachtdienste, aber gerade auch durch künstliche Lichteinwirkungen in der Nacht gestört werden können, konnte in einer Vielzahl von experimentellen Studien dargestellt werden. Das Autorenteam um den Chronobiologen Thomas Kantermann widmet sich in seinem Beitrag den Grundlagen der Chronobiologie und den Auswirkungen der Störung der inneren Uhren durch die Entstrukturierung unseres Alltags. Sie kommen dabei zu dem Schluss, dass die inneren Uhren maßgeblich für einen erholsamen Schlaf und damit für das Wohlbefinden des Menschen sind.

Der Beitrag des Psychologen und Schlafforschers Hans-Günter Weeß beschreibt einen auf Grundlage seiner umfangreichen klinischen Erfahrungen entwickelten verhaltenstherapeutischen Ansatz, bei dem mittels kognitiv-emotionaler Interventionen verhaltensbezogene schlafverhindernde Fehlverhaltensweisen angesprochen und reduziert werden können.

In einem Anwendungsbeispiel der Autorengruppe Marcial Velasco et al. wird die neue Dienstzeitregelung der Hamburger Polizei vorgestellt. Nach vielen Jahrzehnten wurde dort 2015 auf ein neues Schichtplanmodell umgestellt, das durch die zeitliche Ausweitung einzelner Schichten geblockte Wochenendfreizeiten ermöglicht. Diese sind von besonders hohem Nutzwert für das Sozialleben und die persönliche Regeneration der Polizistinnen und Polizisten.

Die Ihnen vorliegende ASU-Ausgabe verdeutlicht einmal mehr, dass komplexe Fragestellungen rund um den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz in einem interdisziplinären Ansatz gelöst werden können. Bleibt abschließend zu hoffen, dass wir uns schon bald wieder vollumfänglich den langfristigen präventivmedizinischen Fragestellungen in den Betrieben widmen können und unser Leben zu den alltäglichen Herausforderungen zurückkehrt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine interessante Lektüre und bleiben Sie gesund!

Ihr
Volker Harth, Hamburg

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