SL: Die Covid-19-Pandemie hat zu einer verstärkten Wahrnehmung der Arbeitsmedizin und zur Veränderung von arbeitsmedizinischen Prozessen in Unternehmen geführt. Was wird davon auch in Zukunft Bestand haben, was wird wieder in Vergessenheit geraten?
Dr. med. Martin Kern: Die seit nunmehr zwei Jahren andauernde Covid-19-Situation hat die Rolle der Arbeitsmedizin im betrieblichen Umfeld gestärkt. Intensive Beratungen mit den Unternehmensleitungen, den Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern, den Mitarbeitenden und den betrieblich Verantwortlichen zur Umsetzung der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel, der Corona-Arbeitsschutzverordnung einerseits und den Nahtstellen zum Infektionsschutzgesetz andererseits haben sicherlich einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, größere Infektionsketten in den Unternehmen zu verhindern und somit die Aufrechterhaltung der Geschäftsprozesse sicherzustellen.
Wichtige Bausteine des arbeitsmedizinischen Wirkens wie die Beratung besonders schutzbedürftiger Personengruppen, das betriebliche Eingliederungsmanagement und das Thema Hygiene haben in dieser Zeit an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig haben die neuen SARS-CoV-2-Regeln auch zu Prozessumstellungen in den betriebsärztlichen Einrichtungen geführt: Beispielsweise wurden und werden die Mitarbeitenden verstärkt über telefonische Beratung oder die Telearbeitsmedizin erreicht, außerdem wurden durch die Umsetzung der AHA+L-Regeln auch die Prozesse für die notwendigen Präsenzvorsorgen und -untersuchungen optimiert, angefangen bei der Terminkoordination bis hin zu einem schnelleren Durchlauf durch die betriebsärztlichen Praxen.
Auch das Thema der Gefährdungsbeurteilung zur Umsetzung der Vorgaben aus der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel und der Corona-Arbeitsschutzverordnung hat den Stellenwert der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte deutlich erhöht. Besonders zu erwähnen ist zudem das hohe Engagement der Arbeitsmedizin beim Thema der COVID-19-Schutzimpfung. Hier haben viele Tausend Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ihre jahrelange Vorerfahrung aus anderen großen Impfaktionen einbringen können und einen wichtigen Beitrag beim Thema „Impfen der Beschäftigten“ leisten können.
Wenn wir uns heute im Frühjahr 2022 fragen, was davon auch in Zukunft Bestand haben kann und was wieder in Vergessenheit geraten wird, so denke ich, dass wir das überwiegend selbst in der Hand haben. Das in den vergangenen zwei Jahren nochmals gestärkte Vertrauen in die Arbeitsmedizin in den Unternehmen gilt es jetzt zu bekräftigen, indem wir wichtige Themen der betrieblichen Gesundheit auch nach einer pandemischen Lage in den Unternehmen adressieren und basierend auf den Bausteinen des betrieblichen Gesundheitsmanagements einen Beitrag zur Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeitenden vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der verlängerten Lebensarbeitszeit leisten dürfen.
Das Interview wurden von Herrn Professor Stephan Letzel anlässlich des 60jährigen Jubiläums der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) geführt und in der ASU-Ausgabe 04/2022 erstmals veröffentlicht.