SL: Seit einigen Jahren beobachten wir starke Veränderungen von Managementprozessen in den Unternehmen. Was bedeutet das für die Beschäftigten und welche Rolle spielt in diesen Prozessen die Arbeitsmedizin?
Dr. med. Ralf Franke: Aktuelle Trends, die die Managementprozesse beeinflussen, sind neben Globalisierung und Digitalisierung unter anderem Individualisierung, New Work und Neo-Ökologie, und damit verbunden ist ein Trend von der direkten zur indirekten Steuerung im Management. Traditionelle Führungsmodelle lösen sich auf: Führen mit flachen Hierarchien, Arbeiten in Ecosystemen, virtuelles Führen und ergebnisorientiertes Führen sind nur einige Schlagworte.
Für die Mitarbeitenden bedeutet das mehr Handlungsspielraum, eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, weniger physische, mehr psychische Belastung, lebenslanges Lernen, Umgang mit Informationsfülle, Arbeiten in internationalen und diversen Teams. Die Arbeit wird aus einer kontrollierten Umgebung in weniger reglementierte Bereiche verschoben, was zunehmend die Eigenverantwortung der Beschäftigten fordert. Das birgt die Gefahr der interessierten Selbstgefährdung.
Insgesamt sehen wir, dass zunehmend auf das Individuum und dessen Fähigkeiten fokussiert wird, wobei die Gefahr besteht, die hochrelevanten organisationalen Aspekte aus den Augen zu verlieren. Die Pandemie führt uns vor Augen, wie wichtig sowohl die individuelle als auch die organisationale Resilienz ist.
Aufgabe der Arbeitsmedizin (und der anderen Akteurinnen und Akteure im Gesundheitsmanagement) ist, auf gesundheitsrelevante Auswirkungen dieser Veränderungen hinzuweisen. Verhalten und Verhältnisse gehen in der Prävention weiterhin Hand in Hand. Die Arbeitsmedizin in ihrer Rolle und mit ihrer Expertise als „gesundheitsorientierte Veränderungsbegleitung“ bietet dabei Lösungen und Unterstützung an, adressiert Fehlentwicklungen mit gesundheitsrelevanten Auswirkungen und moderiert Dialog und Diskussion der verschiedenen Interessensvertreterinnen und -vertreter (auf die Ärztin oder den Arzt wird nach wie vor gehört, wenn sie oder er relevante Themen argumentativ gut aufbereitet und eine klare fachliche Position
vertritt).
Ein neues/anderes Selbstverständnis heißt also:
- weg von der Untersuchungsmedizin, hin zur Präventivmedizin,
- stärkerer Fokus auf Fähigkeiten wie unternehmerisches Denken, Organisationspsychologie, Coaching und Consulting,
- Selbstbewusstsein im Hinblick auf die eigene Rolle und Offenheit anderen Disziplinen gegenüber, zum Beispiel Human Resources, Arbeitssicherheit, Sozialberatung, Arbeitspsychologie, Gesundheitswissenschaften etc.,
- Erfordernis einer engen Einbindung in die betrieblichen Prozesse und gleichzeitig gute Kontakte in die Versorgungsstrukturen des Gesundheitssystem (Hausärztinnen/-ärzte, Rehabilitation, Fachärztinnen/-ärzte …),
- mit dem Ziel, die organisationale und individuelle Resilienz zu stärken.
Das Interview wurden von Herrn Professor Stephan Letzel anlässlich des 60jährigen Jubiläums der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) geführt und in der ASU-Ausgabe 04/2022 erstmals veröffentlicht.