SL: Die arbeitsmedizinische Forschung ist häufig anwendungsorientiert. Welche Zukunft hat die Grundlagenforschung in der Arbeitsmedizin?
Univ.-Prof. Dr. med. Simone Schmitz-Spanke: Neben der anwendungsorientierten arbeitsmedizinischen Forschung werden im Bereich der arbeitsmedizinisch-toxikologischen Grundlagenforschung zunehmend molekular-toxikologische Methoden weiter an Bedeutung gewinnen.
Ein Ziel ist Hazard Identifikation und Risk Assessment mit den Techniken der molekularen-toxikologischen Arbeitsmedizin. Um dies zu erreichen, müssen Wirkmechanismen von Gefahrstoffen auf der molekularen Ebene erforscht werden. Als Modelle werden zum Tierschutz gemäß dem 3R-Prinzip (Replace, Reduce, Refine) Zelllinien verwendet, in denen entlang einer Dosis-Wirkungs-Beziehung eine Vielzahl von toxikologischen Endgrößen bestimmt wird. Dazu gehören unter anderem Assays zur Bestimmung von DNA-Schädigung, Zytotoxizität, oxidativem Stress oder Proliferation. Um den genaueren Pathomechanismus zu untersuchen, können zusätzlich Omics-Methoden (z.B. DNA-Microarrays, Metabolomics) verwendet werden, die in einem hypothesenfreien Ansatz Hinweise auf bisher unerwartete Signalwege liefern können. In einer multimodalen Auswertung der Daten kann ein Pathomechanismus oder eine Mode of Action entwickelt werden. Durch die Analysen der Dosis-Wirkungs-Beziehung wird über so genannte Benchmark-Modellierungen quantitativ die Dosis berechnet, die in dem Modell für den berechneten Endpunkt den Übergang von einer adaptiven in eine adverse Antwort markiert. Dadurch kann der „sensibelste“ Signalweg ermittelt werden, der auf eine mögliche adverse Wirkung hinweist. Letztlich ist dies ein Grenzwert für das untersuchte System. Die Herausforderung der Zukunft besteht darin, diese Grenzwerte von in-vitro nach in-vivo zu extrapolieren („in vitro to in vivo extrapolation“, IVIVE) beziehungsweise eine physiologiebasierte Pharmakokinetik-(PBPK-)Modellierung durchzuführen. Hier gibt es erste Ansätze, die intensiv ausgebaut werden.
Mit diesen Ansätzen können Wirkschwellen für Gefahrstoffe, im Sinne eines Risk Assessments, beschrieben werden. Der quantitative Ansatz ermöglicht eine Abstufung der betroffenen Signalwege – beispielsweise tritt eine DNA-Schädigung schon bei geringeren Konzentrationen oder erst viel später bei einer hohen Zytotoxizität auf.
Zur Hazard Identification bieten sich Hochdurchsatztests an, die eine große Brandbreite an Signalwegen abdecken. Diesen Ansatz verfolgt die United States Environmental Protection Agency (EPA) im ToxCast-Programm, das bisher etwa 1800 Chemikalien (auch aus der Arbeits- und Umwelt) untersucht hat. Die gewonnen Daten können Hinweise auf ein toxisches Potenzial und mögliche Wirkmechanismen geben.
Um einen relevanten Beitrag zur arbeitsmedizinischen Prävention leisten zu können, ist es wichtig, dass die Ergebnisse dieser In-vitro-Untersuchungen immer zusammen mit anderen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen – zum Beispiel aus der Epidemiologie – betrachtet und an die betriebliche Praxis angepasst werden.
Das Interview wurden von Herrn Professor Stephan Letzel anlässlich des 60jährigen Jubiläums der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) geführt und in der ASU-Ausgabe 04/2022 erstmals veröffentlicht.