„Gut, dass wir mal darüber geredet haben …?!“ – Methodische Herausforderungen für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in KMU
Hintergrund: Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, Arbeit so zu gestalten, dass Gefährdungen für das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit vermieden werden (§ 4 ArbSchG). Zur Prüfung, inwieweit Schutzmaßnahmen notwendig sind, müssen Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen beurteilen und dabei Faktoren psychischer Belastung berücksichtigen (§ 5 ArbSchG). Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) setzen die „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ nur unzureichend um, unternehmen jedoch durchaus Anstrengungen, um aktiv Gefährdungen durch psychische Belastung zu erkennen und zu vermeiden.
Methode: In 17 qualitativen betrieblichen Fallstudien in KMU wurde anhand teilstrukturierter Interviews mit federführenden betrieblichen Akteuren inhaltsanalytisch untersucht, wie diese methodisch vorgingen, um Gefährdungen durch psychische Belastung zu ermitteln und zu beurteilen. Es wurde untersucht, welche Möglichkeiten und Grenzen sich aus diesen methodischen Vorgehensweisen für Prozesse des Erkennens und Vermeidens von Gefährdungen durch psychische Belastung ergaben.
Ergebnisse: Es zeigte sich, dass in KMU eine ganze Bandbreite methodischer Vorgehensweisen zur Ermittlung und Beurteilung psychischer Belastung eingesetzt wurde. In einigen Fällen verschafften sich betriebliche Akteure mit Mitarbeiterbefragungen einen systematischen quantitativen Überblick über Ausprägungen psychischer Belastung („messendes/bewertendes Vorgehen“). Häufiger entwickelten sie mit gesprächsbasierten, reflexiven Vorgehensweisen ein Verständnis für Entstehungsbedingungen problematischer Arbeitssituationen, die sie mit psychischer Belastung assoziierten („verstehendes/ erklärendes Vorgehen“). Teilweise fanden sie Wege, ihr Vorgehen zu dokumentieren. Grenzen methodischer Vorgehensweisen zeigten sich insbesondere, wenn betriebliche Akteure auf eine methodische Orientierung fokussierten.
Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse werden dahingehend diskutiert, wie KMU bei der Weiterentwicklung ihres methodischen Vorgehens der „aktiven Gefährdungsvermeidung“ (auch außerhalb des Arbeitsschutzes) in ein angemessenes Vorgehen zur „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ im Rahmen des Arbeitsschutzes unterstützt werden können. Hierfür werden Empfehlungen abgeleitet.
Schlüsselwörter: Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung – KMU – betriebliche Fallstudien
“It’s good that we talked about it ...?!” – Methodological challenges in the assessment of risk of psychological stress in SMEs
Background: Employers are legally obligated to organise the workplace in such a way as to avoid endangering life as well as the physical and psychological health of employees (§ 4 ArbSchG). In order to ascertain to what extent OSH measures are necessary, employers must assess working conditions and duly take into consideration psychosocial risk factors (§ 5 ArbSchG). In particular, small and medium-sized enterprises (SMEs) carry out psychological risk assessment to an insufficient extent, although they still make some effort to actively identify and avoid psychosocial hazards.
Methods: Seventeen qualitative case studies were conducted in SMEs and the content of semi-structured interviews with senior managers was analysed to ascertain what procedure they used in order to identify and assess risks of psychological stress. The opportunities and limitations arising from these methodological procedures were investigated.
Results: The results showed that a wide variety of procedures for identifying and assessing psychological stress was used in SMEs. In some cases, managerial staff measured and assessed psychosocial risks quantitatively by using employee surveys and thus gained a systematic overview of critical and uncritical risk parameter values. More frequently, they developed an understanding of problematic work situations that they associated with psychosocial hazards. They did this through methods that helped to explain and understand problems qualitatively (conversation-based, reflexive methods). In some cases, they found ways to document their procedures. The limitations of methodological procedures were seen in particular when managerial staff focused only on one methodological approach.
Conclusion: The results are discussed with regard to the question of how SMEs can be supported in refining their methodological procedure of “active risk avoidance” (also beyond OSH) by working towards an appropriate procedure for the "psychological risk assessment" within the framework of occupational safety and health. Recommendations are derived from the results for this purpose.
Keywords: psychological risk assessment – SME – business case studies
Einleitung
Jeder Arbeitgeber hat die gesetzliche Verpflichtung, die Arbeit so zu gestalten, dass „eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird“ (ArbSchG § 4). Um festzustellen, inwieweit die aktuelle Arbeitsgestaltung dieser Forderung entspricht, verpflichtet der Gesetzgeber den Arbeitgeber, „durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind“. Seit 2013 wird im Arbeitsschutzgesetz explizit aufgeführt, dass bei der Gefährdungsbeurteilung psychische Belastungen bei der Arbeit zu berücksichtigen sind (§ 5 ArbSchG, Abs. 3). Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) benennt konkretisierend Schlüsselfaktoren psychischer Belastung: Arbeitsintensität, Arbeitszeit, Handlungsspielraum, soziale Beziehungen, insbesondere zu Vorgesetzten und Arbeitsumgebungsbedingungen, insbesondere Belastung durch Lärm (GDA 2018). Die derzeitige Gesetzgebung lässt Arbeitgebern große Spielräume bei der methodischen Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung. Gemäß der „Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation“ für die Obersten Arbeitsschutzbehörden der Länder und die Präventionsleitungen der Unfallversicherungsträger (NAK Geschäftsstelle 2017) gilt eine Gefährdungsbeurteilung dann als „nicht angemessen“, wenn u.a. „die betriebliche Gefährdungssituation unzutreffend bewertet wurde“, „wesentliche Gefährdungen des Arbeitsplatzes/der Tätigkeit nicht ermittelt worden sind“ und „Maßnahmen des Arbeitgebers nicht ausreichend oder ungeeignet sind“. Dies bedeutet, dass das methodische Vorgehen gewährleisten sollte, dass systematisch die relevanten Gefährdungen ermittelt werden und geeignete Maßnahmen auf Basis der Ergebnisse dieser Ermittlung abgeleitet und umgesetzt werden können. Mit ihren konsentierten „Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ definiert die GDA einen Rahmen, an dem sich betriebliche Arbeitsschutzaktivitäten ausrichten sollten (GDA 2018). Hier werden für die Ermittlung und Beurteilung psychischer Belastung Mitarbeiterbefragungen, Beobachtungsinterviews und Workshops empfohlen. Einen Überblick über konkrete Verfahren und Instrumente zur Ermittlung von Ausprägungen psychischer Belastungen der Arbeit gibt ein Beitrag der GDA (2017).
99,3 % aller Unternehmen in Deutschland sind kleine und mittelständische Unternehmen (bis 249 Beschäftigte). In ihnen arbeiten 61,2 % aller Beschäftigten (Statistisches Bundesamt, Destatis, 2018). Jedoch setzen bisher gerade kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), in denen Arbeitsschutzstrukturen wenig ausgeprägt sind (Sczesny et al. 2014; Sommer et al. 2018), die „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ nur unzureichend um, wie Survey-Studien zeigen (Beck et al. 2012; Beck 2017; Walters u. Wadsworth 2016). Auf Basis derartiger Ergebnisse jedoch darauf zu schließen, dass in KMU nichts unternommen wird, um Gefährdungen durch psychische Belastung zu erkennen und zu vermeiden, greift zu kurz. Denn Survey-Studien lässt sich zwar entnehmen, wie häug psychische Belastung in Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigt wird und unter welchen betrieblichen Rahmenbedingungen dies geschieht (Ahlers 2016; Beck et al. 2012; Milczarek et al. 2012), sie liefern jedoch nur unzureichende Informationen zum konkreten betrieblichen Vorgehen zum Erkennen und Vermeiden von Gefährdungen durch psychische Belastung. Außerdem führt der Fokus auf die „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“, wenn es um die Frage geht, was in Unternehmen aktiv getan wird, um Gefährdungen durch psychische Belastung zu erkennen und zu vermeiden, insbesondere in KMU mit ihren gering ausgeprägten Arbeitsschutzstrukturen zu eng.
Hier setzt das von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchgeführte Forschungsprojekt zur „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis“ (F2358) an: Auf Basis betrieblicher Fallstudien in Unternehmen verschiedener Größen und Branchen wurden betriebliche Vorgehensweisen „aktiver Gefährdungsvermeidung“ qualitativ untersucht, aufbereitet und dargestellt. „Aktive Gefährdungsvermeidung“ meint aktives Erkennen und Vermeiden von Gefährdungen durch psychische Belastung mit dem Ziel, die Beschäftigten gesund zu erhalten, was, so Beck et al. (2017), nicht ausschließlich in der Domäne des Arbeitsschutzes, sondern auch in anderen betrieblichen Kontexten realisiert wird, z.B. im Rahmen „fürsorglicher Mitarbeiterführung“, „professioneller Berufsausübung“ oder des „Betrieblichen Gesundheitsmanagements“. Zur Beschreibung des methodischen Vorgehens bei der Ermittlung und Beurteilung psychischer Belastung schlagen Schuller et al. (2018) vor, dieses hinsichtlich seiner Funktion im Kontext des gesamten Prozesses zu hinterfragen. Sie zeigen auf Basis der o.g. Fallstudien, dass betriebliche methodische Vorgehensweisen zum Ermitteln und Beurteilen psychischer Belastung drei zentralen „methodischen Orientierungen“ folgten, die häufig miteinander kombiniert wurden, so dass die verschiedenen Stärken genutzt und die jeweiligen Schwächen kompensiert werden konnten:
- So waren die in einigen Betrieben eingesetzten Fragebögen und standardisierten Beobachtungsinterviews verstärkt darauf ausgerichtet, Ausprägungen psychischer Belastung anhand von Konstrukten, wie z.B. Arbeitsintensität, zu „messen und zu bewerten“. Sie halfen betrieblichen Akteuren, einen Überblick über kritische und unkritische Belastungsausprägungen zu gewinnen. Bei einseitigem Fokus auf diese Orientierung fiel es betrieblichen Akteuren schwer, zu erklären, wie kritische Belastungsausprägungen in ihren Unternehmen entstanden, was wiederum die Entwicklung geeigneter Maßnahmen erschwerte.
- Spontane, aber auch organisierte Einzel- und Gruppengespräche und Beobachtungen im Arbeitsalltag dienten eher dem „Verstehen und Erklären“ (alltäglicher) problematischer Arbeitssituationen, die betriebliche Akteure mit psychischer Belastung assoziierten. Sie führten zu einem tieferen Problemverständnis auf Seiten der betrieblichen Akteure. Wurde einseitig auf diese Orientierung fokussiert, konnten zwar Gestaltungslösungen für spezifische Problemlagen entwickelt werden, es entstand jedoch kaum ein umfassender Überblick über die gesamte Belastungssituation im Unternehmen.
- Als dritte methodische Orientierung wird das „Erstellen eines rechtssicheren Dokumentes“ beschrieben. Hier waren methodische Vorgehensweisen im Wesentlichen darauf ausgerichtet, ein (vermeintlich) rechtssicheres Dokument zu erstellen. Die Auseinandersetzung mit psychischer Belastung im Unternehmen verblieb in den Fällen, in denen die letzte Orientierung dominierte, eher oberflächlich.
Angesichts der bisher unzureichenden Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in KMU auf der einen Seite und des mangelnden Wissens zu konkreten kleinbetrieblichen Vorgehensweisen zum Erkennen und Vermeiden von Gefährdungen durch psychische Belastung auf der anderen Seite, sollen in diesem Beitrag Unterstützungsbedarfe hinsichtlich der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in KMU aufgezeigt werden. Hierzu wird zunächst vertiefend der Frage nachgegangen, wie betriebliche Akteure in KMU bisher methodisch vorgehen, um Gefährdungen durch psychische Belastung zu erkennen und Gestaltungsbedarfe abzuleiten. Diese methodischen Vorgehensweisen werden dargestellt und kritisch diskutiert. Es werden Implikationen abgleitet, wie KMU bei der Weiterentwicklung ihres methodischen Vorgehens im Rahmen „aktiver Gefährdungsvermeidung“ hin zu einer angemessenen Gefährdungsbeurteilung nach ArbSchG unterstützt werden können.
Methodik
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis“ (F2358) der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) wurden in insgesamt 37 Unternehmen teilstrukturierte, leitfadengestützte Interviews mit den federführenden Akteuren geführt und hierbei gefragt, 1) wie in den Unternehmen das Thema „psychische Belastung“ auf die Agenda kam, 2) wie betriebliche Akteure vorgegangen sind, um Ausprägungen psychischer Belastung zu ermitteln und zu beurteilen, und 3) welche Erfahrungen betriebliche Akteure mit ihrem Vorgehen gesammelt haben (vgl. Beck et al. 2017; Schuller et al. 2018). 17 dieser Unternehmen waren kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) mit weniger als 250 Beschäftigten (vgl. Definition KMU: Europäische Kommission 2003). Dieser Beitrag fokussiert auf methodische Vorgehensweisen in diesen 17 kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Auf Basis der transkribierten Interviews wurde zunächst vom Interviewer ein tabellarischer Fallbericht erstellt. Dieser wurde im Projektteam diskutiert („Triangulation von Perspektiven“, vgl. Flick 2009) und den Interviewteilnehmern, die dazu bereit waren, zur Überprüfung gesendet („kommunikative Validierung“, vgl. Steinke 2005). Anschließend wurden zusammenfassend inhaltsanalytisch (Mayring 2003) voneinander abgrenzbare methodische Vorgehensweisen zum Ermitteln und Beurteilen psychischer Belastung herausgearbeitet, die dann hinsichtlich ihrer zugrunde liegenden methodischen Orientierung gruppiert wurden (für eine ausführliche Darstellung des methodischen Vorgehens und eine Reflexion der Limitationen, s. Schuller et al. 2018). Dabei war es möglich, dass in einem Fall mehrere methodische Vorgehensweisen beschrieben wurden, die der Ermittlung und Beurteilung psychischer Belastung dienten (z.B. Mitarbeiterbefragung mit Hilfe eines Fragebogens, anschließend Workshops zur Diskussion der Ergebnisse und Ableitung von Vorschlägen für Schutzmaßnahmen).
Im Folgenden wird dargestellt, wie betriebliche Akteure in den 17 kleinen und mittelständischen Unternehmen methodisch vorgingen, um psychische Belastung zu ermitteln und zu beurteilen und welche Erfahrungen sie dabei sammelten.
Ergebnisse
In den von uns untersuchten KMU war das Spektrum an methodischen Vorgehensweisen zum Ermitteln und Beurteilen psychischer Belastung ähnlich breit wie in größeren Unternehmen. So wurden, ähnlich wie in größeren Unternehmen, u.a. Mitarbeiterbefragungen zur Ermittlung psychischer Belastung durchgeführt. Genutzt wurden hier vorwiegend Instrumente von Unfallversicherungsträgern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die entweder unverändert oder aber an die betrieblichen Rahmenbedingungen angepasst eingesetzt wurden. Standardisierte Beobachtungsverfahren kamen dagegen in den hier untersuchten KMU nicht zum Einsatz. In einigen der KMU waren Workshops eine Methode, um Informationen über Ausprägungen psychischer Belastung zu erhalten und Vorschläge für Maßnahmen zu entwickeln. Anders als in den großen Unternehmen mit mehr als 249 Beschäftigten dominierten jedoch weniger standardisierte kommunikativ-reflexive Methoden der Auseinandersetzung mit psychischer Belastung. Das heißt, in den von uns untersuchten KMU ermittelten und beurteilten betriebliche Akteure Gefährdungen durch psychische Belastung verstärkt in verschiedenen Einzel- und Gruppengesprächen, in denen psychische Belastung thematisiert wurde. Diese Gespräche wurden ergänzt durch reflektierte Beobachtungen und Erfahrungen der Akteure.
Abbildung 1 zeigt eine Übersicht, wie methodische Vorgehensweisen und Orientierungen in den von uns untersuchten KMU kombiniert wurden. Im Folgenden werden diese methodischen Gesamtstrategien näher beschrieben (Felder 1–4 in der Grafik):
Feld 1 – Kombinationen von methodischen Vorgehensweisen zum „Messen/Bewerten“, „Erklären/Verstehen“ und „Dokumentieren“: In einigen der KMU wurden Vorgehensweisen entwickelt, die sowohl Ausprägungen psychischer Belastung anhand von Konstrukten maßen, als auch Entstehungszusammenhänge von Belastungsausprägungen untersuchten und das Vorgehen entsprechend dokumentierten. In diesen Fällen wurden die drei oben ausgeführten Orientierungen im gesamten methodischen Vorgehen zusammengeführt (s. Abb. 1, Feld 1). So wurde z.B. in einem Kleinunternehmen zunächst eine Mitarbeiterbefragung durchgeführt, deren Ergebnisse in anschließenden Teambesprechungen diskutiert und hinterfragt wurden. Hierbei war es dem betrieblichen Akteur besonders wichtig, den Handlungsbedarf gemeinsam mit den Beschäftigten zu beurteilen, da allein die verfahrensseitig vorgegebenen Grenzwerte aus seiner Sicht nicht aussagekräftig genug waren. Bei diesen Gesprächen erfuhr er, wie Beschäftigte das Entstehen der grenzwertigen Ausprägung begründeten: So erreichte z.B. das Merkmal „viele Dinge gleichzeitig erledigen“ eine kritische Ausprägung bei der Auswertung des eingesetzten Fragebogens. In den Gesprächen stellte sich heraus, dass Mitarbeiter dieses Merkmal wertschätzten, da es ihnen zeigte, dass die Auftragslage gut war, was sie wiederum motivierte und ihnen Anerkennung gab. In diesen Teamgesprächen wurden dann zur Vermeidung von „Störungen und Unterbrechungen“, die von den Beschäftigten als sehr relevant bewertet wurden, konkrete Maßnahmen entwickelt, die zeitnah umgesetzt wurden (so wurde z.B. vereinbart, dass eine Abteilung, deren Mitarbeiter häufig durch Anrufe anderer Abteilungen unterbrochen wurden, an einem Tag der Woche einen „telefonfreien“ Tag bekam, so dass an diesem Tag störungsfrei gearbeitet werden konnte). Das Vorgehen wurde in diesem Fall mit Präsentationen und Ergebnisberichten dokumentiert.
In einem anderen KMU wurden zunächst mit einem Teil der Belegschaft Interviews geführt, um einen Einblick in abteilungsspezifische Probleme zu erhalten. Diese Informationen flossen in die Entwicklung abteilungsspezifischer Befragungsinstrumente zur Ermittlung der quantitativen Ausprägung dieser Problematiken ein. Dieses Vorgehen wurde mit einem ausführlichen Ergebnisbericht dokumentiert. Auch in diesem Fall wurden alle drei Orientierungen realisiert: mit den Interviews wurde versucht, zu verstehen, welche abteilungsspezifischen Probleme es gibt, mit der anschließenden schriftlichen Mitarbeiterbefragung wurde „gemessen“, wie stark diese Probleme ausgeprägt waren und die Ergebnisse wurden dokumentiert. Der betriebliche Akteur eines anderen mittleren Unternehmens setzte einen Fragebogen nicht im Rahmen einer Mitarbeiterbefragung, sondern als Leitfaden für gezielte Gespräche mit Beschäftigten zu der psychischen Belastung an ihren Arbeitsplätzen ein. Er berichtete, dass es ihm so möglich war, zusätzlich zu den Informationen im Fragebogen auch Informationen darüber zu erhalten, wie die Beschäftigten ihre Antworten im Fragebogen begründeten. Dies half ihm, besser zu verstehen, wie es zu den kritischen Belastungsausprägungen im Unternehmen kam. Es half ihm aber auch, einen systematischen Überblick zu bekommen, da er sich an den Fragen des Fragebogens orientierte und so sicher sein konnte, alle relevanten Aspekte berücksichtigt zu haben. Die Ergebnisse hielt er in Ergebnisberichten fest.
Feld 2 – Methodische Vorgehensweisen zum „Messen/Bewerten“ und „Dokumentation“: In anderen KMU wurden Ausprägungen psychischer Belastung mit Hilfe von Befragungsinstrumenten gemessen und bewertet. Die Ergebnisse dieser Befragungen wurden in Ergebnispräsentationen oder –berichten dokumentiert (Beispiele s. Abb. 1, Feld 2). Betriebliche Akteure berichteten in diesen Fällen jedoch keine methodischen Vorgehensweisen, um herauszufinden, wie die mit den Erhebungsinstrumenten gemessenen Belastungsausprägungen in ihren Unternehmen entstanden waren. So blieben sie unsicher, worin genau die zugrunde liegenden Probleme bestanden. Sie leiteten dann eher unspezifische Maßnahmen ab oder verließen sich auf ein „Versuch-und-Irrtum“-Vorgehen in der Hoffnung, hiermit passende Lösungen finden zu können (vgl. Zitat 1).
Feld 3 – ausschließlich methodische Vorgehensweisen zum „Erklären/Verstehen“: Die Mehrheit der von uns interviewten Akteure in KMU berichtete auf die Frage nach zentralen Belastungen in ihren Unternehmen nicht in Form von (quantitativen) Ausprägungen von Konstrukten psychischer Belastung (z.B. „Bei uns ist die Arbeitsintensität sehr hoch.“). Eher wurden komplexere problematische Arbeitssituationen beschrieben, die die Interviewpartner mit psychischer Belastung in Verbindung brachten. Sie beschrieben, wie diese Probleme entstanden waren und wie sie sich auswirkten (vgl. Zitat 2). Informationen zur Entstehung dieser Problemsituationen hatten sie sich in verschiedenen Gesprächen mit Beschäftigten und durch Beobachtungen eingeholt (Beispiele s. Abb. 1, Feld 3). Dieses Problemverständnis ermöglichte es ihnen, gezielte Problemlösungen zu entwickeln, was ihnen in vielen der von uns untersuchten Fälle auch gelang. Hier liegt eine Stärke dieser „erklärenden/ verstehenden“ methodischen Vorgehensweisen.
Allerdings reflektierten und dokumentierten betriebliche Akteure in den KMU dieses Vorgehen nur in seltenen Fällen. So war es schwerer, das Vorgehen für interne und externe Akteure nachvollziehbar zu gestalten.
Feld 4 – Methodische Vorgehensweisen zum „Erklären/Verstehen“ und „Dokumentation“: Eine Ausnahme bildete das Vorgehen in einem kleinen Unternehmen, in dem der verantwortliche Stabsmitarbeiter beschrieb, dass die Informationen, die er über problematische Arbeitssituationen sammelt, „in eine Art Aufgabenspeicher hineinflossen“, den er regelmäßig mit der Geschäftsführung besprach, so dass keine Probleme unbearbeitet blieben (Beispiele für die Kombination aus „verstehenden/erklärenden“ mit „dokumentierten“ Vorgehensweisen s. Abb. 1, Feld 4). Auch in Fällen, in denen gezielt Analyse-Workshops zur Ermittlung und Beurteilung psychischer Belastung (und zur Entwicklung von Maßnahmen) durchgeführt wurden, wurde das Vorgehen dokumentiert (z.B. mit Hilfe von Fotoprotokollen). All diesen Fällen (Felder 3 und 4), in denen das „Verstehen und Erklären“ (und Lösen) von Problemen im Vordergrund stand, war gemeinsam, dass das Vorgehen sich eher auf ganz spezifische Probleme bezog, aber kein systematischer Überblick über die Belastungssituation im Unternehmen entstand.
Diskussion
In den hier untersuchten 17 KMU wurden Prozesse „aktiver Gefährdungsvermeidung“ beschrieben (Beck et al. 2017), das heißt organisierte Aktivitäten zum Erkennen und Vermeiden von Gefährdungen durch psychische Belastung, die zu einem geringen Teil im Kontext des Arbeitsschutzes als „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ realisiert wurden, zu einem größeren Teil jedoch in anderen Kontexten, wie dem der „fürsorglichen Mitarbeiterführung“, der „professionellen Berufsausübung“ oder des „Betrieblichen Gesundheitsmanagements“. Um in diesen verschiedenen Kontexten Gefährdungen durch psychische Belastung zu ermitteln und zu beurteilen, bedienten sich die Akteure in KMU einer großen Bandbreite an methodischen Vorgehensweisen. In einigen Fällen wurden die methodischen Ansätze verfolgt, die die GDA (2018) für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung empfiehlt (Mitarbeiterbefragung und Workshop; Beobachtungsverfahren kamen hier nicht zum Einsatz). Es überwogen jedoch weniger systematische und weniger standardisierte kommunikativ-reflexive Vorgehensweisen, um einige ganz spezifische betriebliche Probleme, die sich in kritischen Ausprägungen psychischer Belastung äußerten, zu erklären und zu verstehen. Dieses Vorgehen mündete in vielen Fällen in Gestaltungslösungen, die dazu dienten, Gefährdungen durch psychische Belastung zu vermeiden. Die oben ausgeführten methodischen Herangehensweisen in den in diesem Projekt untersuchten KMU waren also durchaus geeignet, um Gefährdungen durch psychische Belastung zu erkennen und durch Arbeitsgestaltungsmaßnahmen zu vermeiden. Damit erfüllten sie bereits eine wesentliche Funktion der Gefährdungsbeurteilung: Denn sie leisteten einen wichtigen Beitrag zu einer Arbeitsgestaltung, die Gefährdungen durch psychische Belastung vermeidet. Allerdings wurde das methodische Vorgehen nicht in allen Fällen einer weiteren zentralen Anforderung an eine angemessene „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ gerecht: So lässt sich durch ein wenig systematisches Vorgehen nicht verhindern, dass andere, ebenfalls relevante Gefährdungen unbearbeitet bleiben. Auch war das Vorgehen nur selten dokumentiert und somit weder für die interne noch für externe Akteure nachvollziehbar (vgl. BAuA 2014; NAK Geschäftsstelle 2017).
Um KMU dahingehend zu unterstützen, ihr bisheriges methodisches Vorgehen zum Ermitteln von Gefährdungen durch psychische Belastung in den verschiedenen Kontexten „aktiver Gefährdungsvermeidung“ in ein angemessenes Vorgehen zur „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ zu überführen, erscheint es vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Prozessen in den von uns untersuchten KMU sinnvoll, deren bisheriges Vorgehen jeweils hinsichtlich der folgenden drei Aspekte kritisch zu hinterfragen:
- Vermittelt das (bisherige) methodische Vorgehen einen systematischen Überblick über Ausprägungen psychischer Belastung im Unternehmen? Das methodische Vorgehen sollte so gestaltet sein, dass nicht nur ganz spezifische Belastungen in den Fokus geraten. Dabei sollte es nicht passieren, dass z.B. der Umgang mit schwierigen Klienten als einzige psychische Belastung thematisiert wird und darüber andere kritische Merkmale, wie ein zu hoher Zeitdruck, fehlende Unterstützung, schlechte Absprachen mit anderen Abteilungen usw. nicht wahrgenommen und somit auch nicht bearbeitet werden. Im Einzelnen bedeutet das zu hinterfragen, inwieweit das Vorgehen:
- systematisch in Bezug auf berücksichtigte Belastungsfaktoren ist: In einem Teil der von uns untersuchten KMU ging der Fokus auf methodische Vorgehensweisen zum „Erklären und Verstehen“ problematischer, mit psychischer Belastung assoziierter Arbeitssituationen mit einem Fokus auf ganz spezifische Gefährdungen einher (Gefährdungen, die für die Tätigkeit naheliegend waren oder solche, die sich bereits negativ auf das Befinden der Mitarbeiter und/oder Unternehmensabläufe auswirkten). Das Vorgehen bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung sollte es jedoch ermöglichen, auch Gefährdungen offenzulegen, die zunächst nicht offensichtlich sind. Außerdem sollte es zeigen können, in Bezug auf welche Faktoren es keinen Handlungsbedarf gibt, weil die Arbeit in Bezug auf diese Faktoren bereits so gestaltet ist, dass Gefährdungen für die psychische und physische Gesundheit vermieden werden. Um dies zu erreichen, ist eine systematische Orientierung an den für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung relevanten Belastungsfaktoren zu empfehlen (vgl. GDA 2018). Eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung sollte also systematisch für alle Tätigkeiten die Gestaltung der Arbeitsintensität, der Arbeitszeit, des Handlungsspielraums, der sozialen Beziehungen, insbesondere zu Vorgesetzten, der Arbeitsumgebungsbedingungen (insbesondere Belastung durch Lärm) und je nach Tätigkeit spezifische Belastungsfaktoren hinterfragen und kritisch prüfen. Der Einsatz von Fragebögen oder Beobachtungsinterviews, die die Ermittlung von Ausprägungen einer ganzen Bandbreite relevanter Belastungsfaktoren vorsehen, sind (nur) ein möglicher Weg, eine solche Systematik herzustellen.
- systematisch in Bezug auf Ermittlungsmethoden ist: Während „aktive Gefährdungsvermeidung“ außerhalb des Arbeitsschutzes durchaus mit weniger organisierten methodischen Ansätzen der Ermittlung psychischer Belastung auskommt, braucht es für eine angemessene Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung systematisch organisierte Vorgehensweisen. Hierfür ist es empfehlenswert, Akteure in KMU dabei zu unterstützen, sich klar darüber zu werden, welche Informationsquellen zu psychischer Belastung sie in ihren Unternehmen prinzipiell haben, bereits nutzen und auch, welche Quellen sie noch nicht ausschöpfen. Dabei können die bereits genutzten Informationswege für Informationen über Arbeitsabläufe (z.B. Gespräche mit Mitarbeitern, Beobachtungen und Reflexionen, schriftliche Befragungen, Dokumente), gezielt weiterentwickelt, bisher ungenutzte Informationsquellen erschlossen und mit Hinblick auf eine systematische Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung organisiert werden.
- systematisch in Bezug auf die Beurteilung psychischer Belastung ist: In den hier untersuchten KMU reflektierten betriebliche Akteure selten Kriterien für die Beurteilung des Handlungsbedarfs, der sich aus problematischen, mit psychischer Belastung assoziierten, Arbeitssituationen ergab. Im Interviewverlauf wurde offensichtlich, dass offenbar Kriterien wie ‚hoher Leidensdruck bei den Beschäftigten‘ oder ‚Beschäftigte äußern Veränderungsbedarf‘ eine Rolle spielten, die jedoch nicht explizit reflektiert wurden. Eine sachliche Begründung der Beurteilung psychischer Belastung, die auf die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten ausgerichtet ist (vgl. GDA 2018) setzt jedoch eine bewusste Auseinandersetzung mit Beurteilungskriterien voraus. Methoden, die Ausprägungen psychischer Belastung „messen und bewerten“, wie z.B. Fragebögen und (standardisierte) Beobachtungsinterviews, bieten (oft) Beurteilungshilfen an, die bereits sachlich begründet sind und somit die nachvollziehbare Begründung der Beurteilung im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung erleichtern. Wenn auf derartige Methoden verzichtet wird, scheint es wichtig, betriebliche Akteure in KMU dabei zu unterstützen, sich ihre Beurteilungskriterien bewusst zu machen, diese hinsichtlich der Ausrichtung auf die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu hinterfragen und dann entsprechend abzustimmen und zu kommunizieren.
- Ist das (bisherige) methodische Vorgehen geeignet, um Entstehungsbedingungen kritischer Ausprägungen psychischer Belastung zu ergründen? Wie die Auseinandersetzung mit den Vorgehensweisen in den von uns untersuchten Unternehmen zeigt, unterstützt ein Verständnis für die Entstehungsbedingungen kritischer Belastungsausprägungen die Entwicklung und Umsetzung geeigneter Maßnahmen. Methodische Vorgehensweisen, mit denen der Entstehung problematischer, mit psychischer Belastung assoziierter Arbeitssituationen auf den Grund gegangen wird, liefern betrieblichen Akteuren offenbar Informationen, die sie für die Entwicklung von Gestaltungslösungen brauchen. Solche methodischen Vorgehensweisen waren in den hier untersuchten Fällen gezielte Einzel- oder Gruppengespräche, gezielte Beobachtungen und Reflexionen. Diese könnten durchaus noch bewusster und gezielter für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung genutzt werden. Bisherige standardisierte Erhebungsinstrumente (v.a. für Mitarbeiterbefragungen) waren zwar gut geeignet, um Belastungsausprägungen zu messen und (Gestaltungs-) Schwerpunkte zu identifizieren, nicht aber um die Entstehungsbedingungen zu untersuchen und zu verstehen.
- Ist das (bisherige) methodische Vorgehen nachvollziehbar dokumentiert? Nur in wenigen der hier untersuchten KMU wurde das Vorgehen dokumentiert. Die Nachvollziehbarkeit des Vorgehens ist jedoch für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung gesetzlich gefordert. Hierbei ist es wichtig, dass sowohl für Beschäftigte als auch für Außenstehende (z.B. die Aufsicht) transparent wird, welche Gefährdungen identifiziert wurden und welche Maßnahmen geplant bzw. umgesetzt wurden, um diese Gefährdungen zu vermeiden. Um die Reflexion und somit die Weiterentwicklung und zunehmende Systematisierung des Vorgehens in KMU zu unterstützen, erscheint es darüber hinaus sinnvoll festzuhalten, wie bei der Ermittlung und Beurteilung psychischer Belastung vorgegangen wurde. Werden Vorgehensweisen, Ergebnisse und Schlussfolgerungen regelmäßig (mit angemessenem Aufwand) schriftlich festgehalten, erfüllen KMU nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern ermöglichen eine zunehmende Systematisierung, Verbindlichkeit und Transparenz ihres betrieblichen Umgangs mit Gefährdungen durch psychische Belastung.
Schlussfolgerungen
Das methodische Vorgehen beim Ermitteln und Beurteilen psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis von KMU folgt im Wesentlichen den gleichen drei zentralen methodischen Orientierungen, wie in größeren Unternehmen: Betriebliche Akteure „messen und bewerten“ Ausprägungen psychischer Belastung anhand von mehr oder weniger standardisierten Erhebungsinstrumenten, sie versuchen, die Entstehung problematischer Arbeitssituationen „zu verstehen und zu erklären“, indem sie in Gesprächen und Beobachtungen Informationen sammeln und diese reflektieren und sie versuchen, ein „rechtssicheres Dokument zu erstellen“. Es scheint jedoch, dass weniger systematische und weniger reflektierte Vorgehensweisen der Auseinandersetzung mit psychischer Belastung in KMU dominieren, mit denen betriebliche Akteure versuchen, (alltägliche) Problemsituationen, die mit psychischer Belastung im Zusammenhang stehen, zu verstehen und entsprechend zu lösen. Diese Vorgehensweisen sind durchaus geeignet, um aktiv (einige der) Gefährdungen durch psychische Belastung zu erkennen und zu vermeiden (i.S. „aktiver Gefährdungsvermeidung“, vgl. Beck et al. 2017), können jedoch aufgrund der geringeren Systematik des Vorgehens nicht verhindern, dass andere relevante Gefährdungen unbearbeitet bleiben. Um KMU dabei unterstützen zu können, ihre Vorgehensweisen „aktiver Gefährdungsvermeidung“ in angemessene Vorgehensweisen der „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ zu überführen, wird empfohlen, das bisherige methodische Vorgehen hinsichtlich der folgenden drei Aspekte kritisch zu hinterfragen: 1) Ermöglicht es einen systematischen Überblick über die Belastungssituation im Unternehmen (hinsichtlich berücksichtigter Belastungsfaktoren, Ermittlungsmethoden und Beurteilungskriterien)? 2) Ist es geeignet, um Entstehungsbedingungen kritischer Belastungsausprägungen zu ergründen? und 3) Ist es nachvollziehbar dokumentiert?
Beratungs- und Unterstützungsangebote, die sich an KMU richten, sollten also zunächst aufgreifen, was in KMU bereits unternommen wird, um Gefährdungen durch psychische Belastung wirksam zu vermeiden, die bestehenden Aktivitäten hinsichtlich o.g. Aspekte kritisch hinterfragen und diese mit Blick auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Beschäftigten zunehmend organisieren und entsprechend dokumentieren.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Danksagung: Neben der Autorin dieses Beitrags wirkten im Forschungsprojekt weiterhin aktiv mit: Dr. David Beck (Projektleitung), Dr. Anika Schulz-Dadaczynski, Wibke Leistner, Kristin Seigies und Diana Eichhorn. Der Dank gilt außerdem unseren Interviewpartner/-innen für die Einblicke in ihre betriebliche Praxis, den kooperierenden Aufsichtspersonen und Fachberater/-innen für die Unterstützung beim Feldzugang sowie dem wissenschaftlichen Projektbeirat für die fachliche Begleitung im Projektverlauf.
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Verfasserin
Dr. phil. Katja Schuller
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
Fachgruppe 3.5 Psychische Belastung
Nöldnerstraße 40–42
10317 Berlin
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53: 790–797
Fußnoten
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Fachgruppe 3.5 Psychische Belastung, Berlin
Zitat 1
In diesem Beispiel berichtet ein betrieblicher Akteur, der mit Hilfe eines Fragebogens „Mitarbeiterführung“ als kritisch identifiziert hat, aber noch nicht genau verstanden hat, wie dieses Problem entsteht und somit auch nicht sicher sein kann, ob er geeignete Maßnahmen entwickelt hat: „Nein, [wo genau jetzt Probleme lagen] hat sich noch nicht rauskristallisiert. Ich denke auch, das ist ein längerer Prozess, […] Und deshalb wäre meine Überlegung, dass ich im Verlaufe des nächsten Jahres, […] einfach mal sage: „Okay, wie sieht das jetzt in einer zweiten Befragung aus? Ergeben sich irgendwo bestimmte Bewegungen?“ Einfach, um zu sehen, sind die Maßnahmen, die wir zwischenzeitlich eingeführt haben und die wir auch weiterführen, waren die erfolgreich? Oder haben wir noch nicht den Schalter gefunden, an dem wir jetzt tatsächlich das beeinflussen können?“
Zitat 2
Gefragt nach zentralen Belastungen der Beschäftigten, beschreibt der federführende Akteur einer sozialen Einrichtung (Familienhilfe) in dem folgenden Zitat eine eher komplexe problematische Arbeitssituation, der die Beschäftigten wiederholt ausgesetzt sind: „[…]Die Mutter kriegt gerade eine Psychose. Und da ist noch ein Kind dabei, das gerade eskaliert. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Man versucht zu unterstützen oder man informiert die Behörde und sagt: „Die Mutter muss raus, das Kind muss ins Heim“, oder so etwas. […] Oder: „Das Kind wird von den Eltern unter Druck gesetzt, das Kind muss aus der Familie raus.“ Das sind Schritte, die extrem belastend sind für alle Beteiligten. Und bei den [wenigen] Stunden hetzen die Helfer dann einfach von einem Termin zum anderen. Und das ist eine extrem hohe Belastung. Man stellt sich ja auf ein Familiensystem, auf Menschen ein. Es geht ja nicht ohne den menschlichen Kontakt. Und je kürzer der ist, desto größer ist die Gefahr, dass man irgendwann abgebrüht wird. Und wenn das die Helfer sind, dann sind sie nicht mehr gut. Und das ist die Balance: Sie müssen eine Möglichkeit finden, eine Distanz zu haben, und gleichzeitig trotzdem menschlich da zu sein. Das macht sehr großen Stress, gerade wenn Zeitdruck hinzukommt“.