GKV-Leistung für Prävention: Ein Euro pro Jahr für jeden Beschäftigten!
VDBW-Hauptgeschäftsführer Jochen Protzer, rief die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte dazu auf, insbesondere im Wahlkampfjahr die Bedeutung der Arbeitsmedizin ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Das Präventionsfördergesetz, so Protzer, sei nun als parlamentarisch abgestimmter Entwurf in der politischen „Pipeline“. Eine deutlich aufgewertete Teilhabe der betriebsärztlichen Betreuung im Präventions-Setting werde dort formuliert und eine entsprechende Beteiligung betriebsärztlichen Sachverstandes in den entsprechenden Gremien sei jedoch zu fordern. Der VDBW böte dafür seine Mitarbeit an. Der Anteil der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) solle auf 1 % der Gesamtausgaben erhöht werden. Das bedeutete gegenüber den momentanen Ausgaben eine Steigerung um den Faktor 50, denn gegenwärtig liegen sie bei 0,02 % der GKV-Ausgaben! In konkreten Zahlen: Zurzeit gäben die Krankenkassen für Betriebliche Prävention etwa einen Euro pro Beschäftigten und Jahr aus; 2011 gab die GKV insgesamt 179,3 Milliarden Euro aus, der Ausgabenanteil für Betriebliche Gesundheitsförderung betrug lediglich 42,3 Millionen Euro.
Neues Datenschutzgesetz betrifft auch Betriebsärzte
Jochen Protzer kam auch auf die Medien-Debatte über die Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes zu sprechen. Hier dominiere das Thema Videoüberwachung im Betrieb, aber ein für unseren Berufsstand entscheidender Inhalt werde auch die Frage der Zulässigkeit von betriebsärztlichen Untersuchungen vor und während der Beschäftigung und der damit verbundenen Datenerfassung sein. In der geplanten Novelle der Arbeitsmedizinischen Vorsorgeverordnung (ArbMedVV) solle das Thema „Eignung“ nicht mehr enthalten sein. Protzer warnte daher vor der Gefahr einer erneuen Rechtsunsicherheit.
Von Weiterbildungszeit zu Kompetenzblöcken
Schließlich berichtete Jochen Protzer von vielleicht erfreulichen Aussichten für unseren ärztlichen Nachwuchs: Beim nächsten Deutschen Ärztetag solle eine neue Musterweiterbildungsordnung als Matrix für alle Landesärztekammern beschlossen werden. Diese Weiterbildungsordnung entwickele sich weg von starren Weiterbildungszeiten und -katalogen und fokussiere mehr auf so genannte Kompetenzblöcke mit größeren individuellen Gestaltungsmöglichkeiten und flexibleren Weiterbildungsgängen. Man darf auf die Umsetzung gespannt sein!
Bei Notfällen immer an Diabetes denken!
Alex Lechleuthner bot einen theoretischen Refresher in Sachen Notfallmedizin. Als Ursache für betriebliche Notfalleinsätze sei angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen immer auch an psychische Ausnahmezustände oder Intoxikationen bei Abhängigkeitserkrankungen zu denken; ferner dürfe in unserer Zeit des demografischen Wandels der Notarzt-Klassiker Blutzuckerentgleisung nicht vergessen werden. Ein Glukosemessgerät gehöre zu jeder Betriebsarztstelle.
Lerche, Eule oder was?
Nachdem bereits 2007 vermutet worden war, dass Schichtarbeit mit zirkadianer Disruption wahrscheinlich kanzerogen sei, hob Thomas Erren darauf ab, die Chronodisruption nun genauer zu untersuchen und individuell zu bestimmen. Schlaf sei bekanntlich keine vertane Zeit des Körpers, sondern im Gegenteil ein elementarer aktiver Schutzmechanismus mit komplexen gesundheitserhaltenden und hormonell sowie genetisch gesteuerten Reparaturprozessen. Für die mögliche Schadensbemessung durch zum Beispiel jahrelange Schichtarbeit sei der individuelle Chronotyp des Beschäftigten entscheidend. Chronodisruption als schädigendes Agens sei dann genauer bestimmbar, wenn man sie als die Divergenz von Außenzeit und individueller Innenzeit verstehe. Extreme chronobiologische Frühtypen, die so genannten „Lerchen“, benötigten ihre Schlafphase bereits von 22:00 bis 6:00 Uhr, chronobiologische Spättypen, die so genannten „Eulen“ kämen dagegen mit Schlafenszeiten zwischen 2:00 bis 10:00 Uhr gut zurecht und seien spätabends und um Mitternacht durchaus noch belastbar und kreativ. Daneben gebe es noch die Indifferenztypen, die eher ohne chronodisruptiven Schaden einsetzbar seien. Um sich selbst und andere einordnen zu können, empfahl Erren den gespannt zuhörenden Betriebsärzten den „Munich Chronotype Questionnaire“.
Die zum Thema „Schichtarbeit und Krebs“ vorliegenden Studien müssten bzgl. dieser Chronotypendifferenzierung einem Review unterzogen werden, denn sonst seien deren Ergebnisse nicht aussagekräftig. Arbeitszeitpläne und Schichtpläne sollten den Chronotyp des Beschäftigten berücksichtigen. Wir sind gespannt auf die weiteren Entwicklungen in diesem hochkomplexen Forschungsfeld.
Hämatologie und BK! Gonarthrose als BK?
Thomas Kraus erläuterte zahlreiche Neuerungen bei den Berufskrankheiten (BK). An Benzol-assoziierte Krankheitsbilder und damit als BK-Verdacht zu meldende Krankheiten ist nach neuen Erkenntnissen bei allen hämatologischen Erkrankungen zu denken. Ausnahme: Hodgkin-Lymphome. Eine sorgfältige Berufsanamnese mit Blick auf Benzol-Exposition sei notwendig.
Interessant ist auch die Entscheidung, Gonarthrose bei knienden, zeitlich genau einzuordnenden Belastungen im Arbeitsleben als BK 2112 zu listen. In den Gruppenlisten werden neben Fliesenlegern unter anderem auch Maler und Gärtner benannt. Man kann gespannt sein, zu welchen Diskussionen diese neue Definition einer Berufskrankheit führen wird.
Chronisch Kranke auf Langstreckenflügen
Götz Kluge erläuterte die Nebeneffekte von Langstreckenflügen: Neben der Sitzenge stellen die Reduktion des Sauerstoffanteils und die geringe Luftfeuchtigkeit von 10–20 % schon gesunde Reisende vor lästige Probleme. Betriebsärzte werden sich immer mehr mit dem Thema der chronisch Kranken als Langstreckenflieger beschäftigen müssen. Neben der ärztlichen Beratung zur Verhaltensprävention ist auch die Anpassung von Dauermedikationen sowie Hilfsangebote am Einsatzort bei Gesundheitsproblemen ein Thema für den Dialog mit den beruflich Reisenden. Die Fluggesellschaften seien, so Götz Kluge, enorm kooperativ, nötig sei nur, so genannte „disabled persons“, also Beschäftigte, die im Rollstuhl reisen oder während des Fluges zusätzliche Sauerstoff benötigten, 48 Stunden vor Flugbeginn der entsprechenden Fluggesellschaft anzukündigen. Dafür gäbe es auf den entsprechenden Seiten der Fluggesellschaften Formblätter zur Erfassung der medizinischen Daten des Reisenden.
Schlaf-Apnoe-Syndrom bei 70 % der Adipösen
Das Schlaf-Apnoe-Syndrom führe zu Schlaffragmentierung, so Sebastian Böing in seinem Vortrag. Dadurch fehlten die regenerierenden Tiefschlafphasen. Entsprechend würde das Unfallrisiko der Betroffenen steigen. Folglich sei die Diagnostik von Apnoe-Syndromen auch ein wichtiges Thema der betriebsärztlichen Betreuung. Insgesamt werde Schlaf-Apnoe eher unterdiagnostiziert, aber etwa bei Adipösen sei mit einer Häufigkeit von 70 % der Betroffenen zu rechnen. Böing empfahl unter anderem den Berlin-Fragebogen als Screening-Instrument.
Mut zu Mittelmäßigkeit!
Michael Schonnebeck präsentierte in sehr erfrischender und lebendiger Weise eine „Kleine Psychosomatik für Betriebsärzte“. Entscheidend sei, dem betroffenen Beschäftigten ein Gespräch in empathischer Form anzubieten. An sich mache Arbeit ja gesund, aber die Arbeitswelt erscheine krankmachender als früher: Arbeitsverdichtung, Flexibilisierung und besonders Überidentifikation mit dem Beruf sowie Überengagement in der Arbeit brächten die Beschäftigten zur Dekompensation. Die Berufsrolle sei für die Einzelnen enorm wichtig in einer Welt, wo andere Rollenbilder, wie Geschlechtsidentität, Familienstatus oder Religionszugehörigkeit immer erodieren. Mit dem Beruf überidentifiziere man sich dagegen bis hin zum Perfektionismus. Es bräuchte wieder mehr Ausgleiche und eine Bereitschaft, auch mit weniger zufrieden sein zu können.
Impfen als Präventionsaufgabe für Betriebsärzte
Jan Leidel holte die Zuhörer vom Hochreck des anspruchsvollen psychosomatischen Diskurses auf den Boden der Betriebsmedizin zurück. Aber auch hier liegen spannende Aufgaben vor uns: Im Entwurf des Präventionsförderungsgesetzes, am 20. März 2013 parlamentarisch auf den Weg gebracht, werde den Betriebsärzten ein direkte Beteiligung an Programmen der Impfprävention ermöglicht. Über so genannte Gruppentarifverträge mit den Krankenkassen sollen dann auch Betriebsärzte die von der Ständigen Impfkommission (StIKo) vorgegebenen Impfungen abrechnen können (§20a SGB V). Man darf auf die Umsetzung gespannt sein!
Resümee: Sehr gute Tagung, trotz in räumlicher Enge
Insgesamt war das im Kölner Clarimedes-Haus abgehaltene „Regionalforum Arbeitsmedizin“ ein voller Erfolg. Die Vorträge waren sehr informativ und man hatte ausreichend Gelegenheit zum kollegialem Austausch.
Jedoch waren im Vorraum Buffet und Aussteller in „drangvoll, fürchterliche Enge“ gekeilt (Schiller). Vielleicht war der hautnahe Kontakt Teil eines neuen Kommunikationskonzepts? In Zukunft wäre aus meiner Sicht eine Erweiterung der Tagungsräumlichkeiten auf das Parterre im Clarimedis-Haus zu empfehlen, wie man es von anderen Veranstaltungen gewohnt ist.
Auf jeden Fall freue ich mich auf das nächste Regionalforum des VDBW und der DGAUM nach deren Motto: „Fortbilden. Weiterkommen.“