Bereits im Jahr 2020 werden in Deutschland fast 30 % aller Personen im erwerbsfähigen Alter 55 Jahre oder älter sein. Neben einem steigenden Altersdurchschnitt der Belegschaften wird auch von einem spürbaren Fachkräftemangel ausgegangen, der auf bis zu 8 Mio. Arbeitnehmer geschätzt wird. Mit zunehmendem Lebensalter steigt zudem das Risiko einer dauerhaften chronischen Erkrankung. In Deutschland leiden derzeit ca. 25 % der erwerbstätigen Männer und 27 % der Frauen an einer oder mehreren chronischen Gesundheitsstörungen, bei den über 50-jährigen Arbeitnehmern ist sogar jeder zweite betroffen.
Was bedeuten derartige Zahlen für die Wirtschaft? „Leben und arbeiten“ mit chronischer Erkrankung ist zum einen heute schon Realität, zum anderen wird sich diese Entwicklung weiter verschärfen. Über kurz oder lang wird es schwierig werden, ältere oder kränkere Mitarbeiter in den Unternehmen gegen junge gesunde auszutauschen, selbst wenn man davon ausgeht, dass die Migration weiter zunimmt und sich unter den Zuwanderern geeignete Arbeitnehmer für eine digitale Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft rekrutieren lassen. Arbeitgeber werden sich auf Belegschaften mit gesundheitlichen Einschränkungen einstellen müssen, auf Menschen, die dauerhaft oder zeitweise unter Schmerzen, Stress und sonstigen Beeinträchtigungen leiden, die unter einer Dauermedikation stehen oder Arztbesuche organisieren müssen. Arbeitnehmer, die unverändert leistungsfähig und arbeitswillig sind, aber nicht mehr rund um die Uhr und an jedem Arbeitsplatz. Auch chronisch kranke Menschen wollen entsprechend ihren Möglichkeiten arbeiten und können das auch. Erwerbsarbeit ist für sie eine Chance, die Folgen der Erkrankung zu bewältigen, soziale Isolation zu überwinden und ein ökonomisch selbstbestimmtes Leben zu führen. Unternehmen, die chronisch Kranken eine Perspektive geben, gewinnen loyale Fachkräfte, die ein derartiges Engagement von Arbeitgebern durchaus zu würdigen wissen. Politik und Gesellschaft profitieren von einer integrativen Wirtschaft, die weniger Belastungen durch Transferleistungen nach sich zieht, das Armutsrisiko vermindert und maß-geblich zum sozialen Frieden beiträgt. Die Europa 2020 Strategie der Europäischen Kommission zur Bewältigung der gesundheits- und sozialpolitischen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise sieht im Management von „chronischen Erkrankungen am Arbeitsplatz“ einen Schlüssel für eine nachhaltige Wirtschaft und eine Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität.
Return to Work (RTW) als ein mehrdimensionaler Ansatz, der Zuständigkeiten, Disziplinen und Akteure übergreifend ist, bietet sich hierfür geradezu an. Obgleich eine verbindliche Definition des Begriffs, der üblicherweise auf einen kanadischen Ursprung zurückgeführt wird, bislang noch fehlt, versteht man nach breitem Konsens darunter sowohl alle Prozesse, die eine Rückkehr in Arbeit nach Krankheit oder Unfall fördern bzw. ermöglichen, als auch das Ergebnis Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt. Ziel von RTW ist es, Erkrankte oder Verunfallte so früh wie möglich an ihren Arbeitsplatz zurückzubringen („time is job“) oder in Fällen, die bereits zu einem Arbeitsplatzverlust geführt haben, eine neue berufliche Perspektive („2. Chance“) zu ermöglichen. Deutschland verfügt hierfür mit seinem bewährtem sozialen Sicherungssystem, das eine Krankenversorgung auf Spitzenniveau bietet, und weltweit einzigartigen rehabilitativen Angeboten über sehr gute Voraussetzungen. Notwendig ist es jedoch, die unterstützenden Maßnahmen unter Einbindung aller Beteiligten (Betroffene, Leistungsträger, Leistungs-erbringer, Unternehmen) besser aufeinander abzustimmen und konsequent an der Integration in den Arbeitsmarkt auszurichten. Da-für müssen Schnittstellen, Sektoren und Zuständigkeiten zwischen Sozialversicherungsträgern, Leistungserbringern und Betrieben durch zielorientierte Kooperationen und intelligente Vernetzungen überwunden werden. Arbeitsmedizinisches Fachwissen und betriebsärztliche Kompetenz sind in diesem Prozess weder delegier- noch substituierbar. Notwendig ist es jedoch, dass wissenschaft-liche und praktische Arbeitsmedizin diese Aufgabe als Potenzial versteht und proaktiv ausfüllt.
Vor diesem Hintergrund beleuchtete das am 23. 06. 2015 im Berufsförderungswerk Dortmund unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Andreas Weber und Priv. Doz. Dr. Horst- Christoph Broding durchgeführte Symposium, das mit über 200 Teilnehmern außerordentlich gut besucht war, Return to Work im Wandel von Arbeitswelt und Gesellschaft. Experten aus Medizin, Wissenschaft, Sozialversicherung, Wirtschaft und Rehabilitation stellten erfolgreiche Strategien zur Rückkehr in Arbeit nach Krankheit und Unfall vor.
Künftig geht es darum, Erwerbstätige möglichst lange – bis in das sechste Lebensjahrzehnt hinein- im Erwerbsprozess zu halten, so umschrieb der Geschäftsführer des BFW Dortmund Ludger Peschkes in seinem Grußwort die Herausforderung an die Zukunft. Gefragt seien daher Präventions- und Rehabilitationskonzepte, die älter werdende und chronisch kranke Beschäftigte vor einer frühzeitigen Ausgliederung bewahren.
Im Eröffnungsvortrag skizzierte Frau Prof. Dr. Jutta Rump, Direk-torin des Instituts für Beschäftigungsfähigkeit und Employability in Ludwigshafen, die zukünftigen Megatrends der wirtschaftlichen Entwicklung und betonte dabei, dass Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit nicht nur für Betriebe, sondern auch für die Volkswirtschaft eine strategische Dimension bekommen werden.
Prof. Dr. Hans-Martin Hasselhorn, künftiger Lehrstuhlinhaber für Arbeitsmedizin der Bergischen Universität Wuppertal, stellte im Anschluss beachtenswerte Forschungsergebnisse seiner internationalen Arbeitsgruppe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeits-medizin zu möglichen Determinanten eines vorzeitigen Berufsausstiegs von Arbeitnehmern vor.
Prof. Dr. Andreas Weber, Leiter des Medizinischen Dienstes des BFW Dortmund, fokussierte im seinem kurzen Statement u. a. auf die „vergessene“ deutsche Historie von RTW, die ihren Ursprung in der Kriegskrüppelfürsorge der Opfer des 1. Weltkrieges hat, die 1915 von Konrad Biesalski begründet wurde und bereits viele Elemente enthielt, die heute als innovative Erfindung gepriesen werden.
Weitere Vorträge von Thomas Niemeyer, Versorgungsmanagement der DAK, und Doris Habekost, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, machten deutlich, dass interdisziplinäre, vertrauensvolle Zusammenarbeit der Player über Versorgungs- und Fachgrenzen hinweg ein wesentlicher Faktor für Erhalt und Wiederherstellung von Beschäftigungsfähigkeit ist. Dabei sind verlässliche Netzwerkpartner unabdingbar.
Prof. Dr. Oskar Mittag, Institut für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin des Uniklinikums Freiburg, ermöglichte einen Blick „über den deutschen Tellerrand“ und stellte markante Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojekts vor, das sich mit der Praxis von Return to Work in den Niederlanden beschäftigte. Dort gibt es u. a. einen aktiven Wiedereingliederungsprozess nach einem gesetzlich festgelegten Fahrplan, bei dem Arbeitsmedizinern eine wesentliche Rolle zukommt. Starke monetäre Anreize sorgen zudem dafür, dass Arbeitgeber hier großes Engagement zeigen. Die anschließende Diskussion mit Peter Rodenburg, ehemaliger Präsident der Niederländischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Wout de Boer, einem international renommierten Disability Experten, der jetzt an der Uniklinik Basel forscht, zeigte zum einen, dass das niederländische Modell im eigenen Land keineswegs unumstritten ist, und verdeutlichte zum anderen, dass, unabhängig von gesetzlichen Rahmenbedingungen, eine gute Kommunikation zwischen allen Beteiligten ein Schlüssel zum Erfolg ist.
Aufgelockert wurden die wissenschaftlichen Vorträge durch eindrucksvolle Best-Practice-Modelle zu erfolgreicher beruflicher Reintegration (u. a. Reha-Futur-Real Projekt der DRV Westfalen) und zu den Möglichkeiten des Betrieblichen Gesundheitsmanagements durch Dr. Eckhard Müller-Sacks, Leiter des BAD Cluster Düsseldorf, und Niels Gundermann, Geschäftsführer des Fürstenberg-Instituts Hamburg.
In seinem Abschlussstatement unterstrich Thomas Keck, Erster Direktor der DRV Westfalen, dass ein entscheidender Aspekt für die erfolgreiche Wiedereingliederung ein Blick auf die Möglichkeiten des Einzelnen und weniger auf seine Einschränkungen ist.
Prof. Dr. Thomas Kraus, Direktor des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin, hielt für die akademische Arbeitsmedizin fest, dass die Veranstaltung viele wertvolle Impulse für die deutsche Arbeitsmedizin gegeben hat, die er entsprechend kommunizieren wird.
So wichtig und sinnvoll derartige Veranstaltungen als Schrittmacher für den Return-to-Work-Ansatz und Netzwerkertreffen auch sind, das allein wird nicht reichen: Notwendig sind insbesondere auch Veränderungen in Versorgungssystemen und Arbeitswelt („Kulturwandel“), die darauf ausgerichtet sind, Defizitorientierungen zu überwinden und individuelle Fähigkeiten und Ressourcen zu akti-vieren. Arbeit ist zuerst Chance, nicht Risiko!
Prof. Dr. med. Andreas Weber, Dortmund