PRO Gründe für eine Anti-Stress- Verordnung – Die Sicht der IG Metall
Während aber der Präventionsbedarf stetig ansteigt, werden die arbeitspolitischen Defizite in der betrieblichen Praxis immer offenkundiger. Wirksame Maßnahmen gegen übermäßige psychische Beanspruchung konnten trotz zahlreicher Arbeitshilfen und Empfehlungen von nahezu allen Arbeitsschutzinstitutionen nur in einem kleinen Teil der Betriebe umgesetzt werden. Die Anzahl ganzheitlicher Gefährdungsbeurteilungen ist beschämend gering. Die Defizite im Arbeitsschutz sind alarmierend.
Hierfür sind gewiss mehrere Gründe verantwortlich. Ein wesentlicher liegt in der Ausgestaltung des Arbeitsschutzrechts selbst. So gibt es etliche auf dem Arbeitsschutzgesetz basierende Verordnungen für Rege-lungsbereiche wie „Arbeitsstätten“, „Gefahrstoffe“ oder „Lärm“. Aber keine dieser Verordnungen zielt im Kern auf die Vermeidung bzw. Verringerung von Gefährdungen durch psychische Belastung.
Um diese Regelungslücke zu schließen, fordert die IG Metall eine Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit, kurz: eine Anti-Stress-Verordnung. Hierfür spricht eine Reihe von Aspekten: Durch diese Verordnung können alle zentralen Gefährdungsfaktoren zu psychischer Belastung in einer Rechtsvorschrift integriert werden. Damit schafft sie eindeutige und überschaubare Anforderungen an den Normadressaten und beseitigt die Rechtsunsicherheit bei den betrieblichen und überbetrieblichen Arbeitsschutzakteuren.
Ebenfalls für eine „Anti-Stress-Verordnung“ spricht, dass sich mit ihrer Hilfe die Verbindlichkeit für präventiven Arbeitsschutz deutlich erhöhen lässt und die betrieblichen Akteure stärker zur Prävention im Bereich der psychischen Arbeitsbelastung verpflichtet werden. Gelegentliche Zielkonflikte zwischen unternehmerischen Renditeerwartungen und Arbeitsschutzinvestitionen könnten häufiger zugunsten der Gesundheit aufgelöst werden.
Eine „Anti-Stress-Verordnung“ wäre eine wichtige Unterstützung gerade auch für die Arbeit von Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit. Und mehr noch: Verbindliche Regeln sind ebenso handlungsanleitend für Arbeitgeber. Das zeigt eine europäische Unternehmensbefragung (Esener 2009). 90 % der befragten deut-schen (und europäischen) Managementvertreter nennen als Motiv, sich mit Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu befassen, die Erfüllung einer gesetzlichen Vorschrift! Im Umkehrschluss heißt das: Wenn es diese nicht gibt, entfällt das Motiv.
Selbstverständlich vermag eine Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Arbeitsbelastung eine aktive, beteiligungsorientierte Präventionspolitik in den Betrieben nicht zu ersetzen. Jedoch ist sie in der Lage, bessere Durchsetzungsbedingungen für eine offensive betriebliche Arbeitspolitik zu schaffen.
Zum Nachlesen: „Anti-Stress-Verordnung – Eine Initiative der IG Metall“ und „Anti-Stress-Verordnung – Zwischenbilanz einer Initiative der IG Metall“. Beide Titel sind zu beziehen im IG Metall Shop: www.igmetall.de/view_shop_suche.htm
PRO Argumente für eine “Anti-Stress- Verordnung“ – aus juristischer Sicht
Nach den eigenen Angaben von Arbeitgebern berücksichtigen bisher weniger als 20 % aller Betriebe psychische Belastungen im Rahmen ihrer Gefährdungsbeurteilung (GDA Dachevaluation: Betriebs- und Beschäftigtenbefragung).
Es fragt sich, ob es durch die oben genannte Gesetzesänderung künftig mehr sein werden. Dies mag man vermuten, so scheint doch das Hauptmotiv für das Management deutscher Betriebe, sich im Bereich Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu engagieren, die Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtungen zu sein (siehe Esener: European Survey of Enterprises on New and Emerging Risks 2009). Aus juristischer Sicht wäre aber insoweit erforder-lich, dass die Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtungen hinreichend konkretisiert, kontrolliert und bei Nichterfüllung auch sanktioniert wird.
Bei den klassischen Gefährdungen durch zum Beispiel physikalische, chemische und biologische Einwirkungen wird das ArbSchG durch zahlreiche untergesetzliche Verordnungen untersetzt. Beispielhaft seien hier die BetrSichV, BioStoffV oder GefStoffV genannt. Diese Verordnungen konkretisieren, wie die Gefährdungsbeurteilungen in diesen Bereichen durchgeführt werden müssen bzw. sollen.
Da eine solche Verordnung für die psychischen Belastungen fehlt, tun sich viele Arbeitgeber schwer, psychische Belastungen auszumachen und sehen sich nach wie vor – aufgrund einer fehlenden sanktionsbewährten Verordnung – häufig nicht in der Pflicht, arbeitsgestalterische Maßnahmen zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung umzusetzen. Darüber hinaus ist auch die Arbeitsschutzaufsicht bei der Ausführung ihrer Aufgaben mit Problemen konfrontiert.
Ursula von der Leyen, damals noch Bun-desministerin für Arbeit und Soziales, hat kritisiert, dass sich 70 % der Unternehmen „aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit“ bisher nicht mit dem Thema psychische Belastungen befassen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Dezember 2011).
Eine Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit („Anti-Stress-Verordnung“) muss darlegen, welche psychischen Belastungsfaktoren im Einzelnen in eine Gefährdungsbeurteilung einzubeziehen sind und nach welchen Maßgaben eine Gefährdungsbe-urteilung psychischer Belastungen durchzuführen ist. Diese Anforderungen müssen möglichst konkret sein. Das erleichtert die betriebliche Umsetzung und ist zugleich eine notwendige Voraussetzung für die Beratung und Überwachung der Betriebe durch die Arbeitsschutzaufsicht.
In einer Pressemitteilung des Deutschen Bundestages vom 14. August 2014 heißt es: „Für eine eigenständige Anti-Stress-Verordnung zur Verringerung von psychischen Belastungen in der Arbeitswelt fehlt der Bun-desregierung derzeit eine fundierte Datengrundlage. […] Dies sei aber nötig, um Handlungsaufforderungen an die Arbeitgeber stellen zu können, die Rechtssicherheit sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Aufsichtsbehörden garantiert. […] Um zu der nötigen wissenschaftlichen Datenbasis zu gelangen, führe die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz von 2014 bis 2016 ein Forschungsprojekt ‚Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – wissenschaftliche Standortbestimmung’ durch. […]”
Wenn schon die Bundesregierung feststellen muss, es sei die Frage offen, inwieweit der Stand der Forschung ausreichend ist, „mögliche Gefährdungen in ihrer Komplexität klar zu definieren“, um auf dieser Basis moderne Arbeitsformen „menschengerecht“ zu gestalten, wie soll dann erst der einzelne Unternehmer dieser Aufgabe gerecht werden?
Die Tatsache, dass es zu arbeitsbedingtem Stress keine EU-Richtlinie gibt, spricht nicht gegen den Erlass einer „Anti-Stress-Verordnung“. Nach § 18 ArbSchG ist die Bundesregierung ermächtigt, Verordnun-gen zu Bereichen des Arbeitsschutzes zu erlassen. Für die praktische Umsetzung wird es weiterhin erforderlich sein, die Anforderungen der Verordnung mithilfe beratender Ausschüsse durch konkretisierende Technische Regeln zu untersetzen. Diese Regelun-gen müssen schließlich durch ein effektives Aufsichtshandeln der staatlichen Behörden und Berufsgenossenschaften kontrolliert werden.
Die europäischen Nachbarn sind zum Teil schon erheblich weiter beim psychosozialen Arbeitsschutz: So bieten unter anderem Dänemark und Belgien gute Beispiele für eine „Anti-Stress-Verordnung“. In zahl-reichen europäischen Ländern – so in Dänemark, Belgien, Frankreich und Italien – werden in Fällen gesundheitlicher Gefährdung aufgrund missachteter psychischer Gefährdungsbeurteilungen neben monetären Sanktionen sogar Freiheitsstrafen aus-gesprochen.
Aus juristischer Sicht wäre daher eine „Anti-Stress-Verordnung“ wünschenswert, und blieben darüber hinaus noch Wünsche offen, sollte diese nicht nur praxisgerecht gestaltet sein, sondern auch möglichst bald erlassen werden.
CONTRA Anti-Stress-Verordnung – richtige Diagnose, falsche Therapie!
Die wissenschaftliche Evaluation und Vertiefung der Thematik ist sinnvoll und zu begrüßen. Bereits heute kann festgestellt werden, dass durch Arbeitsverdichtung, erhöhte Erreichbarkeit und zunehmendes Multitasking psychische Gesundheitsge-fährdungen wahrscheinlicher werden. Je-doch: ein Eingriff des Gesetzgebers durch eine Anti-Stress-Verordnung ist das am wenigsten sinnvolle Mittel zum Erhalt der Mitarbeitergesundheit, zur Prävention oder zur Vermeidung von volkswirtschaftlichen Schäden.
Arbeitgeber werden sich bereits aus Eigeninteresse um die Prävention psychischer Gefahren im Rahmen eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements kümmern. Der Return on Investment solcher Präventionsmaßnahmen ist hinreichend nachgewiesen. Arbeitsschutz-Compliance verlangt zudem, dass Arbeitgeber ihre Pflichten aus dem Arbeitsschutzgesetz erfüllen. § 4 Nr. 1 ArbSchG nennt ausdrücklich die psychische Gesundheit als Schutzgut, und diese ist auch zwingend Gegenstand der Arbeitgeberpflicht zur Gefährdungsbeurteilung im Betrieb (§ 5 Arb-SchG). Schließlich hat das Bundesarbeitsgericht längst Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte im Bereich des Arbeitsschutzes und der gesundheitlichen Prävention festgestellt. Die Betriebsparteien sind nun aufgerufen, diese Vorgaben durch ein BGM mit Leben zu füllen.
Eine Anti-Stress-Verordnung ist in die-sem Zusammenhang hingegen weder notwendig noch zielführend. Zum einen würde eine solche Verordnung nur durch generelle und unbestimmte Rechtsbegriffe – das ist rechtssystematisch unvermeidbar – betriebliche Gesundheitsgefahren adressieren. Dies würde aber in der Folge nicht zu mehr Rechtssicherheit, sondern vielmehr zu zusätzlichem Konfliktpotential bei der Auslegung dieser Begriffe führen. Hier würden betrieblich jeweils unterschiedliche Belastungssituationen für die Mitarbeiter mit dem „Breitbandantibiotikum“ Anti-Stress-Verordnung therapiert; es entstünde ein Mehr an Administration und Kosten, ohne dass sich der „Patient“ besser fühlt. Das kann nicht gewollt sein.
Sinnvoller als Allgemeinplätze und un-bestimmte Begriffe in einer universellen Ver-ordnung ist – da betrieblich maßgeschneidert – die konkrete Regelung durch die Betriebsparteien – also Arbeitgeber, Betriebsrat, Betriebsarzt, Arbeitssicherheit und Arbeitnehmer – in den Betrieben selbst. Eine Betriebsvereinbarung bietet passge-naue Lösungen und kann auf die individuellen Bedürfnisse und Gefahren des jeweiligen Betriebs eingehen: Passgenauigkeit statt „one size fits all“. Aus der Beratungspraxis erkennen wir, dass hiermit allen Seiten gedient ist und sowohl Arbeitnehmer, Betriebsrat als auch Arbeitgeber eine solche Vorgehensweise erfolgreich umsetzen.
Der Gesetzgeber hat, bezogen auf Stress am Arbeitsplatz, seine Hausaufgaben bereits gemacht. Sein Eingreifen durch Verord-nung wäre falsch verstandener Aktionismus, denn die aktuelle Gesetzeslage ist völlig aus-reichend, um arbeitsbedingten psychischen Gefährdungen entgegenzutreten. Ebenso wenig mangelt es an Informationsressourcen sowie externer Unterstützung für die Betriebsparteien. Die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen halten hierzu vielfältige Angebote bereit, wie z. B. das „Kompendium Arbeitsschutz“. Es gilt nun, mit der Umsetzung in den Betrieben zu beginnen: eigenverantwortlich und effektiv.
CONTRA Gründe gegen eine Anti- Stress-Verordnung – aus der Sicht des Instituts für angewandte Arbeits- wissenschaften (ifaa)
Zwar ist weitgehend unstrittig, dass sich die Anforderungen an Beschäftigte unter anderem auch durch die Entwicklung moder-ner Informations- und Kommunikationstechnologien verändert haben; inwiefern diese Entwicklungen aber zu einer Zunahme psychischer Störungen oder sonstigen Be-einträchtigungen führen, ist weitgehend un-geklärt. Vielmehr gehen Experten nicht von einer realen Zunahme psychischer Störungen aus.
Unter Präventionsaspekten verpflichtet das Arbeitsschutzgesetz den Arbeitgeber zur Durchführung einer Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung, um daraus abzuleiten, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. Mit der Erweiterung der Gefährdungsfaktoren um den Passus „Psychische Belastungen bei der Arbeit“ stellt der Gesetzgeber klar, dass nunmehr auch die Psychische Belastung Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung ist.
Für die Arbeit an Bildschirmarbeitsplät-zen stellt dies insofern nichts Neues da, als bei derartigen Arbeitsplätzen durch die Bild-schirmarbeitsverordnung bereits seit 1996 psychische Faktoren im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen sind. Weiterhin ist die Psychische Belastung auch Gegenstand der Neufassung der Betriebssicherheitsverordnung, die im Juni 2015 in Kraft treten soll, und ferner der Neufassung der Arbeitsstättenverordnung.
Der Blick auf die entsprechenden Rechts-vorschriften zeigt, dass damit der Gegenstand psychische Belastung bereits hinreichend geregelt ist. Weitere Verordnungen dazu helfen den Arbeitgebern nicht weiter, Handlungssicherheit zu erlangen, sondern erhöhen vielmehr bürokratische Hürden. Hierzu bedarf es anderer Maßnahmen, da den verschiedenen Erhebungen zufolge der Umsetzungsgrad der Berücksichtigung psychischer Belastungsfaktoren in der Gefährdungsbeurteilung noch Potential hat. Dies hat sicherlich mehrere Gründe. So muss der Arbeits- und Gesundheitsschutz in Unternehmen und Verwaltungen einen entspre-chenden Stellenwert haben. Die gemeinsame Erklärung „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ von BMAS, BDA und DGB ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Ferner lässt sich konstatieren, dass zwar einige theoretische Modelle existieren, die den Zusammenhang zwischen psychischen Belastungsfaktoren und gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erklären versuchen, andererseits in der Praxis handbares Material zur Ableitung und Umsetzung von Gestaltungsmaßnahmen nicht in der erfor-derlichen Form vorhanden ist.
Derzeit finden allerdings einige Maßnahmen statt, die zu einer Verbesserung der Umsetzung beitragen können. So unter-sucht die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in dem Projekt „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“, welche psychisch belastenden Faktoren einzeln und in ihrem Zusammenwirken überhaupt ungünstig für die Gesundheit beziehungsweise das Befinden sind und welche Maßnahmen sich daraus ableiten lassen. Weiterhin sind die Aktivitäten im Rahmen des Arbeitsprogramms der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) „Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung“ zu nennen. Neben der Weiterentwicklung und Koordinierung der Beratung und Überwachung der Unternehmen wird hier das Ziel verfolgt, Instrumentarien und Beispiele für die gute Arbeitsschutzpraxis zu erstellen. Die Berücksichtigung der Erfahrungen der Sozialpartner erhöht dabei die Akzeptanz in der Praxis.
Eine konsequente Umsetzung der genannten Aktivitäten und die Einhaltung der bestehenden Vorschriften ist aus Präventionsgesichtspunkten vollkommen ausreichend, um die psychischen Faktoren in der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen.
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