Arbeitsverdichtung am Arbeitsplatz
Die voranschreitende Digitalisierung und Vernetzung stellt Betriebe und Beschäftigte vor neue Anforderungen, die oft mit dem Begriff der Arbeitsverdichtung beschrieben werden. Eine grundlegende Definition von Arbeitsverdichtung lautet wie folgt: „Steigerung der Arbeitsintensität, d.h. die Arbeit, die in einer bestimmten Zeiteinheit geleistet wird oder geleistet werden muss, nimmt zu“ (INQA 2015, S. 73, s. „Weitere Infos“). Inhaltlich besteht somit ein deutlicher Bezug zur Arbeitsintensität, die als ein zentraler Belastungsfaktor der heutigen Arbeitswelt angesehen wird (z.B. Stab et al. 2016, s. „Weitere Infos“). Der Begriff der Arbeitsverdichtung bringt zum Ausdruck, dass Beschäftigte in zunehmendem Maße mit einer hohen Arbeitsmenge und steigendem Zeitdruck konfrontiert sind. Dementsprechend spricht Franke (2015) von einer Arbeitsintensivierung und in der englischsprachigen Literatur findet sich bei Kubicek et al. (2015) der Begriff „intensification of job demands“. Zusammengefasst werden mit Arbeitsverdichtung die steigenden beruflichen Anforderungen beschrieben, die im Sinne einer Belastung die psychische Gesundheit von Beschäftigten gefährden können.
Wie eingangs erwähnt, wird Arbeitsverdichtung oft mit der voranschreitenden Digitalisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt in Verbindung gebracht. Diese Verknüpfung spiegelt sich in entsprechenden Fragebögen wider (z.B. „Die technologischen Neuerungen haben dazu geführt, dass immer mehr Aufgaben zu erledigen sind“; Arnold et al. 2016, S. 35, s. „Weitere Infos“). Andere Untersuchungen wiederum assoziieren die Arbeitsverdichtung mit negativen Konsequenzen, wie etwa einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit von Beschäftigten (z.B. „How did your stress and work pressure change?”; Franke 2015, S. 26). Diese unterschiedlichen Operationalisierungen verdeutlichen, dass oft keine klare Differenzierung zwischen Ursachen, Formen und Folgen getroffen wird.
Im Sinne einer konzeptuellen Klärung des Begriffs der Arbeitsverdichtung formulierten Soucek u. Voss (2020) ein Prozessmodell zur Arbeitsverdichtung, das explizit zwischen Ursachen, Formen und Folgen unterscheidet. Als Ursachen werden dabei unter anderem die aktuellen Entwicklungen im Zuge von Arbeit 4.0 genannt, die beispielsweise durch eine zunehmende Digitalisierung und Flexibilisierung des Arbeitslebens geprägt sind. Diese neuen Anforderungen können in einer hohen Arbeitsdichte resultieren, die im Modell von Soucek und Voss durch sieben Facetten gekennzeichnet ist (s. Infokasten). Der Begriff der Arbeitsdichte soll dabei zum Ausdruck bringen, dass es sich um einen momentanen Zustand handelt, der an verschiedenen Arbeitstagen unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Inwieweit eine hohe Arbeitsdichte negative Konsequenzen nach sich zieht, wie etwa eine Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und Leistung von Beschäftigten, hängt wiederum von betrieblichen und individuellen Strategien ab. Die betrieblichen Strategien beschreiben den Umgang des Unternehmens mit den neuen Formen der Arbeit und sonstigen Entwicklungen der Arbeitswelt. Beispiele für betriebliche Strategien sind Managementansätze oder die Arbeitsorganisation. Die individuellen Strategien beziehen sich auf die Bewältigung einer hohen Arbeitsdichte auf Seiten der Beschäftigten und umfassen personale Kompetenzen wie etwa Selbstmanagement oder Resilienz.
Inventar zur Arbeitsverdichtung
Auf Grundlage einer umfassenden Literaturrecherche sowie Workshops mit Beschäftigten und betrieblichen Expertinnen und Experten (z.B. Betriebsrat, betriebliches Gesundheitsmanagement) wurde ein Inventar zur Arbeitsverdichtung entwickelt, das sieben Facetten der Arbeitsdichte abbildet (s. Infokasten). Die Items des Kurzinventars beziehen sich bewusst auf belastende Elemente, wie etwa eine hohe Menge von Arbeitsaufgaben oder Unterbrechungen des Arbeitsablaufs. Bei der Formulierung der Items zur Arbeitsdichte wurde auf eine Verbindung mit neuen Formen der Arbeit (z. B. Arbeiten im Homeoffice) und negativen Konsequenzen (z. B. Stress) bewusst verzichtet. Dadurch sollte zum einen eine suggestive Verknüpfung vermieden werden, zum anderen sollten die Ursachen, Formen und Folgen der Arbeitsdichte unabhängig voneinander erfasst werden. Dies ermöglicht eine grundsätzliche Überprüfung der Fragestellung, ob die neuen Formen der Arbeit tatsächlich mit einem höheren Ausmaß an Arbeitsdichte einhergehen und sich diese negativ auswirkt.
Ebenso wurde auf einen konkreten Zeitbezug in den Items verzichtet (z. B. „in den letzten fünf Jahren“). Dies folgt der Idee, die aktuell erlebte Arbeitsdichte zu erfassen, die sich von Arbeitstag zu Arbeitstag ändern kann. Dadurch wird ein Einsatz des Kurzinventars in Längsschnittstudien ermöglicht (z.B. im Rahmen von Tagebuchstudien). Darüber hinaus kristallisierte sich bei Gesprächen in Unternehmen heraus, dass Beschäftigte bei einem festen Zeitbezug der Items Probleme bei der Beantwortung der Fragen hatten, weil sie in dem abgefragten Zeitraum entweder andere Tätigkeiten ausführten oder noch nicht berufstätig waren.
Das Inventar zur Arbeitsdichte wurde im Rahmen des Projekts AVENUE entwickelt (s. “Weitere Infos“) und besteht aus einem Fragebogen mit 21 Items, der sieben Facetten der Arbeitsdichte mit jeweils drei Items erfasst. Darauf aufbauend wurde ein bildbasiertes Inventar entwickelt und validiert, das im Folgenden beschrieben wird.
Bildinventar zur Arbeitsverdichtung
Fragebögen haben sich als Erhebungsinstrumente in der betrieblichen Praxis etabliert und es existiert eine Vielzahl an Verfahren zu unterschiedlichen Themen. Allerdings kann der vielfache Einsatz von Fragebögen eine gewisse Befragungsmüdigkeit nach sich ziehen, die sich etwa darin ausdrücken kann, dass Beschäftigte der Einladung zur Befragung nicht folgen oder die Beantwortung des Fragebogens vorzeitig abbrechen. Vor diesem Hintergrund werden für den praxisorientierten Einsatz oft kurze Fragebögen empfohlen. Auf Grundlage des Inventars zur Arbeitsverdichtung wurde von Soucek u. Voss ein bildbasiertes Inventar zur Arbeitsverdichtung entwickelt und validiert, das einen innovativen Ansatz verfolgt und dadurch die Bereitschaft zur Teilnahme sicherstellen soll.
Aufbau und Entwicklung des Bildinventars
In den Bildern werden Arbeitsaufgaben anhand von gelben Klebezetteln symbolisch dargestellt. Das Bildinventar besteht aus mehreren Serien von jeweils fünf Bildern, wobei die einzelnen Bilder im Sinne einer Likert-Skala (Verfahren zur Messung persönlicher Einstellungen) die zunehmende Ausprägung eines Merkmals abbilden. Bei der Gestaltung der Bilderserien wurde darauf geachtet, dass zwischen den Bildern eine lineare Zunahme der Ausprägung abgebildet wird. In ➥ Abb. 1 ist als Beispiel die Bilderserie für die Menge der Aufgaben abgebildet. Die Zunahme der Menge wird dadurch veranschaulicht, indem zu den ursprünglich drei Aufgaben im ersten Bild auf der linken Seite in jedem weiteren Bild jeweils zwei Aufgaben hinzukommen. In ➥ Abb. 2 ist die Bilderfolge für die Facette Unterbrechungen zu sehen. Die beiden langgezogenen Klebezettel symbolisieren zwei Aufgaben, die durch verschiedene Ereignisse unterbrochen werden, wie etwa Telefonanrufe, E-Mails oder Besuch von Mitarbeitenden. Die Anzahl der Unterbrechungen steigt in den Bildern von links nach rechts linear an; in jedem Bild kommt eine weitere Unterbrechung hinzu. Als Instruktion dient der folgende Satz: „Bitte wählen Sie das Bild aus, das am ehesten auf Ihre Tätigkeit zutrifft.“
Die Bilderserien für die sieben Facetten der Arbeitsdichte wurden von Soucek und Voss (2020a) unter der Lizenz CC BY-NC-ND veröffentlicht, die eine Weiterverteilung unter Nennung des Namens der Urheber, jedoch keinerlei Bearbeitung oder kommerzielle Nutzung erlaubt (s. „Weitere Infos“).
Die Validierung des Bildinventars erfolgte im Rahmen mehrerer Untersuchungen (Soucek u. Voss 2020b). Eine Untersuchung mit 173 Medizinstudierenden diente der inhaltlichen Eingrenzung der Bilditems. Die Teilnehmenden der Untersuchung wurden gebeten, die Intention der Bilder zu beschreiben, so dass eine Vorstellung von der inhaltlichen Auslegung der Bilder gewonnen wurde, was teilweise zu einer Modifikation der Bilder geführt hat. In einer weiteren Untersuchung mit 118 Studierenden mit Berufserfahrung wurde den Versuchspersonen das Inventar zur Arbeitsdichte und das Bildinventar vorgelegt. Die Auswertung umfasste eine Faktorenanalyse, bei der die sieben Facetten der Arbeitsdichte festgestellt wurden (s. Infokasten vorige Seite). Schließlich wurde im Rahmen einer dritten Untersuchung mit 335 Beschäftigten eine konfirmatorische Faktorenanalyse durchgeführt, die die semantischen und bildbasierten Items des Inventars zur Arbeitsverdichtung umfasste.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung belegen, dass die Einschätzung der einzelnen Facetten durch den Fragebogen mit der Einschätzung durch das Bildinventar signifikant zusammenhängen (konvergente Validität). Diese Einschätzung der inhaltlichen Facetten durch verschiedene Erhebungsmethoden wurde durch das unterschiedliche Erhebungsformat nicht verwischt (diskriminante Validität). Zusammengefasst können mit dem Bildinventar die sieben Facetten der Arbeitsdichte differenziert erfasst werden.
Einsatzszenarien des Bildinventars
Das Bildinventar ist ein niederschwelliges Angebot, das Beschäftigte zur Teilnahme an Befragungen zum Thema Arbeitsverdichtung einladen soll. Die bildbasierte Darstellung der unterschiedlichen Facetten soll dabei bewusst Diskussionen anregen und damit auf Grundlage einer Auseinandersetzung zu einem gemeinsamen Verständnis von Arbeitsverdichtung beitragen. In diesem Sinne kann man das Bildinventar als interventionsnahes Instrument verstehen. Schließlich ist das bildbasierte Verfahren nicht sprachgebunden, so dass der Einsatz in international besetzten Teams beziehungsweise Unternehmen erleichtert wird.
Das Bildinventar kann aus Sicht des Autorenteams in unterschiedlichen Szenarien eingesetzt werden. Beispielsweise eignet es sich als Interviewleitfaden, wo es einen visuellen Eindruck des Themas vermittelt und damit eine tiefere Auseinandersetzung fördert. Solche Interviewleitfäden könnten im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements oder von Betriebsärztinnen und -ärzten eingesetzt werden. Ein weiteres Einsatzszenario besteht in Workshops, in denen das Bildinventar beispielsweise an Pinnwänden im Rahmen einer Punktabfrage eingesetzt werden kann. Dabei bieten sich gerade unterschiedliche Einschätzungen als Einstieg in Diskussionen an, in denen die Teilnehmenden ihre Auslegung der Bilder erläutern können. Darüber hinaus ist ein Einsatzzweck im Rahmen von Längsschnittstudien zu sehen, wie etwa Tagebuchstudien, bei denen wiederholt das tägliche Ausmaß an Arbeitsdichte eingeschätzt werden soll. Durch die visuelle Darstellung der Einschätzungsskalen besteht hier ein Vorteil gegenüber konventionellen Fragebögen, da die Bilder schneller erfasst und ausgefüllt werden können als schriftliche Items.
Fazit
Das Bildinventar zur Arbeitsverdichtung erlaubt Beschäftigten sowie betrieblichen Beauftragten des Arbeits- und Gesundheitsschutzes eine differenziere Einschätzung unterschiedlicher Facetten der Arbeitsdichte. Das Bildinventar ermöglicht einen niederschwelligen Zugang zum Thema Arbeitsverdichtung und eignet sich für den praxisorientierten Einsatz in unterschiedlichen Formaten wie etwa in Interviews oder Workshops.
Anmerkung: Das Projekt „Zusammenstellung von Verfahren zur Ermittlung von neuen Formen der Arbeitsverdichtung und ihren Folgen sowie von Maßnahmen zur Prävention“ (AVENUE – Arbeitsverdichtung Erlangen-Nürnberg, Projekt-Nr. FF-FP 0428) wird mit Mitteln der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung unterstützt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.
Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
Franke F: Is work intensification extra stress? J Person Psychol 2015; 14: 17–27.
Kubicek B, Paškvan M, Korunka C: Development and validation of an instrument for assessing job demands arising from accelerated change: The intensification of job demands scale (IDS). Eur J Work Organ Psychol 2014; 24: 898–913.
Soucek R, Voss AS: Arbeitsverdichtung: Ursachen, Formen und Folgen. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2020; 55: 543–546.
Soucek R, Voss AS: Bildinventar Arbeitsverdichtung. 2020a https://doi.org/10.17605/OSF.IO/93KTQ
Soucek R, Voss AS: Assessing work density – Development and validation of a verbal questionnaire and pictorial scale. 2020b (Manuscript in preparation)
Weitere Infos
Homepage des Projekts AVENUE
https://www.arbeitsverdichtung.de
Informationen zum Projekt auf der Homepage der DGUV
https://www.dguv.de/ifa/forschung/projektverzeichnis/ff-fp0428.jsp
Bildinventar zur Arbeitsverdichtung
https://doi.org/10.17605/OSF.IO/93KTQ
Initiative Neue Qualität der Arbeit (2015). Kein Stress mit dem Stress. Lösungen und Tipps für Führungskräfte und Unternehmen
https://www.psyga.info/fileadmin/Angebote/PDFs/Broschuere_zum_Praxisord…
Arnold D, Butschek S, Steffes S, Müller D: Digitalisierung am Arbeitsplatz: Bericht (Forschungsbericht FB 468). Nürnberg: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2016
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-47712-7
Stab N, Jahn S, Schulz-Dadaczynski A: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt: Arbeitsintensität. Dortmund/Berlin/Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2016
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F2353-1d.pdf?__b…
Info
Facetten der Arbeitsdichte
Eine hohe Arbeitsdichte umfasst verschiedene Facetten (vgl. Soucek u. Voss 2020). Im Sinne einer quantitativen Auslegung kann sich die Arbeitsdichte in einer hohen Menge an Aufgaben äußern, die in einem gewissen Zeitraum anfallen (Menge), parallel zu erledigen sind (Gleichzeitigkeit) oder zeitweilig gehäuft auftreten (Arbeitsspitzen). Ebenso kann ein hohes Ausmaß an Vernetzung und Abstimmung mit anderen Beschäftigten charakteristisch für eine hohe Arbeitsdichte sein (Interdependenz). Weitere Facetten betreffen erschwerende Faktoren, wie etwa ein hohes Ausmaß an Unterbrechungen bei der Bearbeitung von Aufgaben (Unterbrechungen), fehlende Klarheit hinsichtlich der Aufgabenerfüllung und der eigenen Rolle (Unklarheit) sowie die Erreichbarkeit für berufliche Angelegenheiten außerhalb der regulären Arbeitszeit (erweiterte Erreichbarkeit).