Die Rolle arbeitsplatzbezogener Ansätze in der Psychotherapie
In der modernen – durch Digitalisierung, Fachkräftemangel und Arbeitsverdichtung geprägten – Arbeitswelt fällt der Betrachtung des Zusammenhanges von arbeitsplatzbezogenen Belastungen und psychischer Gesundheit eine große Bedeutung zu. Der Wandel des Arbeitsmarktes, mit dem durch die Globalisierung wachsenden Wettbewerbsdruck der Unternehmen und sich verändernden Erwerbsformen (z.B. Zunahme von atypischen Beschäftigungsverhältnissen), führt bei der erwerbstätigen Bevölkerung zu mehr Stress und psychischer Beanspruchung (Bode et al. 2017). So gaben Erwerbstätige berufliche Belastungen als zweithäufigsten Grund für die Inanspruchnahme von psychologischer Diagnostik und Beratung an; nach psychischen Symptomen und vor somatischen Symptomen und familiären Belastungen (Bode et al. 2016). Zwischen 2000 und 2016 ist die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage), die auf psychische Störungen zurückgehen, über alle gesetzlichen Krankenkassen hinweg, angestiegen. Aktuell liegt die Dauer der Arbeitsunfähigkeit bei betroffenen Erwerbstätigen bei durchschnittlich 34 Tagen. Damit ist die Anzahl der AU-Tage aufgrund von psychischen Störungen deutlich höher als bei körperlichen Erkrankungen (BPtK 2019). Darüber hinaus geht aus Berichten der Deutschen Rentenversicherung hervor, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch die Anzahl an Frühverrentungen, die auf psychische Störungen zurückgehen, angestiegen ist (DRV 2019). Der Absentismus, das heißt die Fehlzeiten der Angestellten, geht mit hohen betriebswirtschaftlichen Kosten einher. Beispielsweise entstehen jährlich etwa 8,2 Milliarden Euro Produktionsausfallkosten als ein Teil der indirekten Krankheitskosten durch psychische Störungen (Bode et al. 2017). Demgegenüber kann Präsentismus, das heißt die Anwesenheit von Beschäftigten trotz körperlicher Erkrankungen oder psychischer Störungen, eine Reduktion der Leistungsfähigkeit sowie Arbeitsproduktivität begünstigen. Neben bedeutsamen betriebswirtschaftlichen Kosten erhöht sich dadurch auch das Risiko für Fehlentscheidungen, Arbeitsunfällen und -fehlern (Kröger 2020).
Arbeitsplatzbezogene Ansätze (AbA), die auf arbeitsbezogene Bedingungen und Belastungen fokussieren, werden als Interventionen in die störungsorientierte ambulante oder (teil-)stationäre Einzel- beziehungsweise Gruppenpsychotherapie integriert. Ihr Ziel ist neben der Symptomreduktion (z.B. der depressiven Symptomatik) die Förderung einer funktionaleren Perspektive auf die eigene Berufstätigkeit (z.B. Berufstätigkeit als Quelle psychischen Wohlbefindens) sowie Aufrechterhaltung, Verbesserung oder Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit von psychisch erkrankten Erwerbstätigen. Zudem wird bei bestehender Arbeitsunfähigkeit die Wiedereingliederung an den Arbeitsplatz durch die Zusammenarbeit mit (betrieblichen) Kooperationspartnern (z.B. Arbeitsmedizin, Sozialdienst, Personalabteilung) vorbereitet und unterstützt. AbA sind bei Erwerbstätigen mit Anpassungs-, Angst- und depressiven Störungen indiziert. Kontraindikationen sind hingegen eine bestehende Arbeitslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit, ein anhaltendes Rentenbegehren sowie eine akute schwere psychische Störung (z.B. schwere depressive Episode, Schizophrenie oder Psychose).
Die AbA gliedern sich in drei Therapiebausteine bzw. -phasen, die in insgesamt 12 bis 16 Sitzungen durchlaufen werden:
In allen drei Phasen werden arbeitsplatzbezogene Faktoren durch den Einsatz von spezifischen kognitiv-behavioralen Psychotherapietechniken berücksichtigt. Im Folgenden werden ausgewählte Therapiemethoden aus den oben genannten Bausteinen vorgestellt (eine ausführliche Darstellung aller Interventionen sowie ihre Einordnung in den Therapieprozess findet sich bei Kröger 2020).
Diagnostik und Therapieprozess
Im Rahmen der Diagnostik soll bereits zu Beginn der Therapie auf den Kontext der Arbeit Bezug genommen werden. Neben der Durchführung einer störungsspezifischen Diagnostik erfolgt eine ausführliche Arbeits(platz-)anamnese sowie -analyse. Diese umfasst eine arbeitsplatzbezogene Ressourcen- und Kompetenzanalyse. Außerdem finden verschiedene Selbst- und Fremdbeurteilungsinstrumente Anwendung (Bode et al. 2017). Mithilfe der arbeitsplatzbezogenen Anamnese und der Arbeitsanalyse kann geprüft werden, ob die Arbeit im individuellen Einzelfall eine Ressource oder eine Belastung darstellt. In der Arbeitsanamnese werden neben der beruflichen Laufbahn auch gesundheitliche Einschränkungen am Arbeitsplatz (z.B. Berufskrankheiten, Arbeitsunfälle), Arbeitsvoraussetzungen (z.B. Arbeitsplatzsicherheit, Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen) sowie Art und Aufbau der Arbeitsbeziehungen (z.B. Sozio- und Organigramm) erfasst. Außerdem werden die Rahmenbedingungen des Arbeitsplatzes erörtert. Dazu gehören beispielsweise die Art der Tätigkeit, Belastungen am Arbeitsplatz, das Ausmaß von Kontrollmöglichkeiten und Erwartungen der Erwerbstätigen. Durch eine detaillierte Exploration, die sowohl objektive Daten als auch subjektives Erleben integriert, kann somit zwischen Aspekten, die eine Symptomreduktion beziehungsweise Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit begünstigen und solchen, die sie erschweren, differenziert werden (Bode et al. 2017). Bei der Arbeitsanalyse werden die arbeitsbezogenen Aufgaben zunächst in Haupt- und Nebenaufgaben gegliedert. Anschließend wird der Inhalt jeder Aufgabe beschrieben und die Dauer, die Frequenz sowie die Umsetzbarkeit der Aufgaben festgehalten. Die Ressourcen- und Kompetenzanalyse dient der Identifizierung von persönlichen und sozialen unterstützenden Faktoren. Diese können in förderlichen Arbeitsbedingungen (z.B. Entscheidungsspielräume), günstigen Berufszielen, bisherigen beruflichen Erfolgen, persönlichen Fähigkeiten (z.B. Bewältigungsstrategien, Problemlösekompetenz) und günstigen Beziehungen liegen. Während subjektive Belastungen am Arbeitsplatz die Entwicklung psychischer Symptome bedingen und die Aufrechterhaltung begünstigen können, stellen die Arbeit und die allgemeine Berufstätigkeit auch eine Quelle der Lebenszufriedenheit und damit eine potenzielle Ressource dar. Gemeinsam mit den Betroffenen werden in der ersten Therapiephase des Motivationsaufbaus daher die psychosozialen Funktionen der Arbeit (➥ Abb. 1) erarbeitet. Dieser Schritt fördert zudem die Aufmerksamkeitsfokussierung auf Annäherungsziele (anstatt Vermeidungsziele) bei der Therapiezielformulierung.
In der zweiten Therapiephase der Informationsvermittlung wird ein individuelles Störungsmodell erarbeitet. Neben den psychischen Symptomen wird das Modell mit arbeitsplatzbezogenen Belastungen, die als ursächliche sowie aufrechterhaltende Faktoren identifiziert werden, ergänzt. Dabei wird die oder der Betroffene angeleitet, die erlebten Belastungen zunächst nach personellen, sozialen und gesellschaftlichen Faktoren zu differenzieren und anschließend für jeden genannten Aspekt das Ausmaß der Wichtigkeit sowie persönlichen Beeinflussbarkeit anzugeben. Es gibt verschiedene individuelle, soziale sowie organisatorische Risiko- und Schutzfaktoren, die die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöhen beziehungsweise reduzieren (➥ Tabelle 1).
Als zentraler, individueller Schutzfaktor wird vor allem die arbeitsbezogene Selbstwirksamkeitserwartung expliziert, die die individuelle Überzeugung der Betroffenen beschreibt, unerwartete oder schwierige berufliche Belastungssituationen mithilfe der eigenen Kompetenzen zu bewältigen, respektive sich diese zumindest zuzutrauen (Bode et al. 2017). Das Ausmaß der Selbstwirksamkeitserwartungen bezüglich der Rückkehr an den Arbeitsplatz kann mit der Return-to-Work Self-Efficacy Scale (Lagerveld et al. 2010; dt. Version: Erwartungen zur Rückkehr an den Arbeitsplatz, ERA; Brackmann u. Kröger 2013) erfasst werden. Es hat sich gezeigt, dass eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung bezüglich einer Rückkehr an den Arbeitsplatz die Wiederaufnahme der Arbeit begünstigt (Lagerveld et al. 2010). Außerdem beeinflussen die arbeitsbezogenen Selbstwirksamkeitserwartungen die Motivation, die Anstrengung und das Durchhaltevermögen, mit denen Aufgaben und Ziele verfolgt werden und wirken sich somit positiv auf die Wahrscheinlichkeit von Erfolgen aus (Bode et al. 2017).
Neben dem Einbezug von oben genannten Risiko- und Schutzfaktoren werden auch die Wechselwirkungen zwischen der Arbeits(platz-)situation und der erwerbstätigen Person berücksichtigt. So erklärt das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist 1996) die Entstehung von psychosomatischen Störungen und Herzkreislauferkrankungen mit einem Ungleichgewicht zwischen der subjektiv erlebten Verausgabung am Arbeitsplatz und der Belohnung für den betriebenen Aufwand. Leisten Erwerbstätige beispielsweise viele Überstunden, arbeiten unter Zeitdruck und sehen sich hohen Anforderungen gegenübergestellt, erleben gleichzeitig aber eine geringe Belohnung (z.B. in Form von Anerkennung durch Führungskräfte oder Gehalt), können Gratifikationskrisen ausgelöst werden, die das Risiko erhöhen zu erkranken. Dabei stellt die intrinsische Verausgabung, das heißt eine hohe Verausgabungsneigung, bei einem gleichzeitig starken Motiv nach Anerkennung, einen zusätzlichen Risikofaktor für die Entstehung von (psychischen) Störungen dar (Bode et al. 2017). Mit dem Effort-Reward-Imbalance-Fragebogen (ERI; Siegrist et al. 2009) können solche Gratifikationskrisen und die persönlichkeitsspezifische berufliche Verausgabungsneigung erhoben werden. Psychoedukativ kann das Modell beruflicher Gratifikationskrisen durch eine Waage veranschaulicht werden (➥ Abb. 2; adaptiert nach Bode et al. 2017).
Darüber hinaus kann die Betrachtung des Verhältnisses zwischen Arbeitsanforderungen (z.B. Zeitdruck, Aufgabenschwierigkeit und -komplexität) und Handlungs- und Kontrollspielräumen (z.B. Entscheidungsfreiheiten, Initiative, Eigenverantwortung) aufschlussreiche Informationen für die Diagnostik und Behandlung liefern. Gemäß dem Anforderungs-Kontroll-Modell (Karasek u. Theorell 1990) gibt es dabei vier Arten von Tätigkeiten, die mit einem unterschiedlichen Ausmaß psychischer Belastung einhergehen können (➥ Abb. 3). Hoch beanspruchende Tätigkeiten (hohe Anforderungen bei gleichzeitig geringen Handlungsspielräumen) bergen das größte Risiko für die Entwicklung psychischer und körperlicher Beschwerden. Hohe Anforderungen gehen jedoch nicht per se mit stärkerer Belastung einher – ein gleichzeitig hoher Handlungsspielraum und soziale Unterstützung (z.B. durch Kolleginnen und Kollegen und Führungskräfte) können als so genannte „Puffer“ von negativen Wirkungen fungieren.
Wiedereingliederung
In der dritten und letzten Therapiephase dient ein Wiedereingliederungsplan der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. In diesem Baustein bedarf es einer Abstimmung mit betrieblichen Kooperationspartnern (z.B. Führungskräfte, Betriebsrat, Beauftragte des betriebliche Eingliederungsmanagements (BEM), Arbeitsmedizin), um einen Wiedereinstieg gemäß eines zuvor erarbeiteten Stufenplans vorzubereiten. In diesem Plan sind die Schritte für eine abgestimmte (Wieder-)Aufnahme der Arbeitsaufgaben, einschließlich der täglichen maximalen Arbeitsdauer, schriftlich niedergelegt. Der Prozess der Wiedereingliederung wird dabei psychotherapeutisch begleitet, indem antizipierte oder aufgetretene Probleme bei der Ausführung der Aufgaben besprochen und soziale Fertigkeiten in Rollenspielen eingeübt werden. Indikationsabhängig werden ferner z.B. akzeptanzbasierte Techniken oder Problemlöse- und Selbstinstruktionstrainings eingesetzt. Beispielsweise profitieren einige Betroffene davon, ihren inneren Dialog (Selbstverbalisation) zu beobachten und durch Selbstinstruktionen anzureichern (s. Infokasten).
Andere erleben bei der Wiedereingliederung eine Aktivierung von Erlebens- und Verhaltensmustern, die zwar lerngeschichtlich nachvollziehbar, nicht aber adaptiv beziehungsweise funktional sind. Dabei kann es wichtig werden, zunächst eine Repräsentation dieser Muster zu erarbeiten und die emotionalen Assoziationen durch kognitive sowie emotionsfokussierte Techniken (z.B. Imaginationen und Stuhldialoge) zu lockern.
Störungsspezifische Therapieansätze am Beispiel arbeitsplatzbezogener Ängste
Psychische Störungen (z.B. Angststörungen, Depression), die im Zusammenhang mit der Arbeit berichtet werden, sind weit verbreitet. In psychosomatischen Einrichtungen, wie Rehabilitationskliniken, geht die Forschung von einem Prozentsatz von ca. 60% der Patientinnen und Patienten aus, die von arbeitsplatzbezogenen Angststörungen berichten. Hieraus entwickeln sich meist komorbide depressive Symptomatiken (Bode et al. 2017). Sie können in verschiedenen Formen, z.B. als Bewertungsängste vor dem Kollegenkreis und Führungskräften, als Sorgen vor eigenen Fehlern oder vor Beschwerden der Kundschaft auftreten. Im Allgemeinen ist die Struktur von Arbeitsplätzen mit angstauslösenden Reizen assoziiert: Die kollegiale Zusammenarbeit birgt beispielsweise ein ständiges Konfliktpotenzial durch offen ausgetragene oder latent versteckte Anstrengungen um Status und Anerkennung. Arbeitsplatzunsicherheit kann ferner zu einer dauerhaft empfundenen Bedrohung der eigenen Existenz führen. Zudem geht die Ausübung bestimmter Berufe (z.B. Rettungs- und Pflegekräfte) mit einem realen Bedrohungspotenzial einher. Unabhängig von den im Einzelfall unterschiedlichen Ursachen und Inhalten der Ängste, tendieren Betroffene in der Regel zu einer Vermeidung der angstauslösenden Reize. Im Arbeitskontext kann dies im Extremfall dazu führen, dass die Ausübung der Tätigkeit nicht mehr möglich ist und das Fernbleiben von der Arbeit, z.B. eine Kündigung aufgrund von zu hohen Fehlzeiten, zur Folge hat. Bei der Behandlung von arbeitsplatzbezogenen Ängsten kommen verschiedene Interventionen zum Einsatz (➥ Tabelle 2). Eine betriebliche Wiedereingliederung bedarf einer Begleitung mit hochfrequenter Psychotherapie, damit einem Abbruch der Maßnahme entgegengewirkt werden kann.
Wirksamkeit arbeitsplatzbezogener Psychotherapie
Empirische Untersuchungen liefern Hinweise für die Wirksamkeit arbeitsplatzbezogener kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen hinsichtlich der Reduktion von psychischen Symptomen und Arbeitsfehlzeiten. Eine in Deutschland durchgeführte kontrollierte Studie (Kröger et al. 2015) deutet darauf hin, dass sich die arbeitsplatzbezogene kognitive Verhaltenstherapie (A-KVT) in der Behandlung von unipolarer Depression im ambulanten Setting bezüglich der Symptomreduktion als genauso wirksam darstellt wie herkömmliche KVT ohne Arbeitsplatzbezug. Darüber hinaus führte die A-KVT zu einer stärkeren Reduktion der Fehltage am Arbeitsplatz als herkömmliche KVT und nach einem Ein-Jahres-Intervall war ein größerer Anteil der Betroffenen in der A-KVT Gruppe arbeitsfähig als in der KVT Gruppe. Eine aktuelle Metaanalyse (Finnes et al. 2019) deutet ferner darauf hin, dass kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen mit Arbeitsplatzfokus bei Erwerbstätigen mit Angst-, Anpassungs- und depressiven Störungen die krankheitsbedingten Abwesenheitszeiten reduzieren. Eine andere Metaanalyse (Nigatu et al. 2017) zeigte eine Verkürzung der Dauer der Arbeitsunfähigkeit um 13 Tage bei arbeitsplatzorientierten Interventionsbedingungen im Vergleich zu den Kontrollbedingungen. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf die Wirksamkeit arbeitsplatzbezogener Interventionen im Gruppensetting. Patientinnen und Patienten einer medizinisch-psychosomatischen Klinik, die an einem Gruppentherapieprogramm für Stressbewältigung am Arbeitsplatz teilnahmen, zeigten – im Vergleich zu Patientinnen und Patienten, die eine herkömmliche symptomorientierte Therapie erhielten – drei Monate nach der Beendigung der stationären Behandlung eine weniger starke Abnahme der Erwerbstätigkeit, eine günstigere Einschätzung ihrer beruflichen Perspektive sowie ein geringeres Rentenbegehren (Koch et al. 2006).
Fazit für die Praxis
Einer arbeitsplatzbezogenen Psychotherapie stehen – wie bei psychotherapeutischen Behandlungen im Allgemeinen – oftmals eine mangelnde Übersichtlichkeit des Versorgungssystems sowie lange Wartezeiten auf Therapieplätze im Wege, die die spezifische sowie zeitgerecht adäquate Versorgung Betroffener erschweren. Daraus folgen neben möglichen Chronifizierungen von psychischen Störungen ebenso lange Arbeitsunfähigkeitszeiten (BPtK 2015).
Im Rahmen eines interdisziplinären Versorgungsprojekts, gemeinsam mit universitären Psychotherapieambulanzen, Betriebskrankenkassen und Betrieben aus der metallverarbeitenden Industrie, lag die Wartezeit zwischen der Anmeldung von psychisch auffälligen Erwerbstätigen und der diagnostischen Ersteinschätzung während einer so genannten diagnostischen Beratung (DB) bei zwei Wochen (Bode et al. 2016) und somit deutlich unter der durchschnittlichen Wartezeit bis zum psychotherapeutischen Erstgespräch von 16 Wochen (BPtK 2011). Außerdem nahmen mehr als 90% der Erwerbstätigen, die eine DB in Anspruch nahmen und bei denen eine Psychotherapie indiziert war, das Angebot einer ambulanten Weiterbehandlung an. Dies macht deutlich, dass eine verstärkte Inanspruchnahme von Psychotherapie sowie eine lückenlosere Versorgung über entsprechende Angebote (z.B. durch interdisziplinäre Kooperationspartnern) erreicht werden können. Im Rahmen des Versorgungsprojektes erhielten die Beschäftigten, die am jährlich stattfindenden Gesundheitscheck teilnahmen und bei denen ein Verdacht auf das Vorliegen einer psychischen Störung festgestellt wurde, von der Arbeitsmedizin Informationen über das Angebot einer DB in einer Psychotherapieambulanz. Das geschulte Fallmanagement der zuständigen Betriebskrankenkassen bereitete dann die Kontaktaufnahme seitens der interessierten Beschäftigten zur Psychotherapieambulanz vor. Die Teilnahme an der DB war dabei in jedem Fall freiwillig.
Für die wirksame Umsetzung von AbA bedarf es einer engen Vernetzung von Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Psychotherapieambulanzen und ambulanten Praxen, Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner sowie den Leistungsträgern (Kröger u. Leineweber 2018). Schulungsmaßnahmen können dazu beitragen, dass Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner Gesprächsführungstechniken ausbauen und für psychische und psychosomatische Störungen sensibilisiert werden. Darüber hinaus muss der Informationsaustausch zwischen den interdisziplinären Kooperationen durch ein Qualitätsmanagement begleitet sein, das – neben den allgemeinen Datenschutzverordnungen – die Freiwilligkeit sowie Anonymität der Betroffenen gewährleistet, so dass keine arbeitsbezogenen Nachteile für die Beschäftigten entstehen (z.B. Schutz durch getrennt von der Personalakte geführte BEM-Akten oder durch individuell ausgewählte Schweigepflichtsentbindungen). Die Etablierung sowie (Prozess-)Evaluation interdisziplinär strukturierter, arbeitsplatzbezogener Behandlungsangebote kann dabei ein erster Schritt sein, um die Versorgung von Erwerbstätigen mit psychischen Störungen zu verbessern.
Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
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Weitere Infos
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Koautorenschaft
An der Erstellung des Beitrags beteiligt waren M.Sc.-Psych. Marieke Hansmann und Prof. Dr. Christoph Kröger, beide Institut für Psychologie, Stiftung Universität Hildesheim.