Einleitung
„Lustlos, nichts macht mir mehr Freude. Morgens im Bett graut es mir schon vor dem, was kommen wird. Eigentlich sind es nur Kleinigkeiten, aber ich habe ständig Angst, alles nicht zu schaffen. Und für die anderen, meinen Mann, bin ich doch eine Belastung …?“
Psychische Erkrankungen, insbesondere jedoch affektive Störungen wie Depressionen nehmen in den letzten Jahren zu. Eine Studie der Psychotherapeutenkammer (2013) konnte zeigen, dass sich der Anteil der AU-Tage aufgrund psychischer Erkrankungen in den Jahren 2001 bis 2012 fast verdoppelt hat. In vielen Fällen führen längere Krankschreibungen und inadäquate Behandlungen zu Frühverrentungen, die mit negativen sozioökonomischen Folgen wie Armut und Verlust der gesellschaftlichen Teilhabe einhergehen.
Menschen mit einer chronischen körper-lichen Erkrankung haben zudem ein höheres Risiko zusätzlich an einer psychischen Störung zu erkranken (WHO, Global burden of disease, 2011).
Die häufigsten psychischen Störungen bei Multipler Sklerose (MS) sind (s. hierzu auch Tabelle 1):
- affektive Störungen (Major Depression, Dysthymie, bipolare Störungen)
- Angststörungen und
- Störungen des Gefühlsausdrucks wie z. B. bei der pseudobulbären Affektstörung (PBA).
Das deutlich erhöhte Risiko lässt sich auf drei Arten erklären:
- Psychische Störungen trotz Multipler Sklerose
- Eine psychische Störung kann unabhän-gig von der MS auftreten, dabei spielen die bekannten Risikofaktoren wie genetische Prädisposition, biologische und psychosoziale Faktoren eine Rolle.
- Psychische Störungen wegen Multipler Sklerose
- Die Betroffenen müssen sich in viel stärkerem Maße mit Trauer, Verlusten, Hilflosigkeit und häufig auch ökonomischen Belastungsfaktoren auseinandersetzen. Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, ist in der prädiagnostischen Phase, in der Phase nach der Diagnosestellung und in Phasen fortschreitender Behinderung am größten (Stenager et al. 1992).
- Psychische Störungen durch Multiple Sklerose
- Studien konnten zeigen, dass die Lokalisation der Läsionen mit psychischen Symptomen im Zusammenhang steht. So haben Betroffene mit zerebralem Be-fall häufiger depressive Störungen als Betroffene mit spinalen oder zerebellären Herden. In Einzelfallberichten werden auch psychotische Symptome als Initialsymptome einer MS beschrieben. Zu beachten sind außerdem psychische Störungen als unerwünschte Therapieeffekte. Psychiatrische Störungsbilder aller genannten Arten können in Folge MS-bedingter Therapien, zum Beispiel mit hochdosierten Kortikoiden, Interferonen, Anticholinergika, Antispastika und anderen ZNS-wirksamen Substan-zen, auftreten. Gelegentlich kommt es dabei zu akuten delirartigen Bildern. Wahrscheinlich erleben deutlich über 10 % aller Patienten, die hochdosierte intravenöse Kortikoidpulstherapien erhalten, ein Spektrum von abnormen Antriebssteigerungen bis hin zu mani-schen Zustandsbildern einerseits oder depressiven Phasen andererseits. Da diese Störungen durch die Behandlung begründet („iatrogen“) und rückbildungsfähig sind, bedürfen sie einer besonderen Aufmerksamkeit hinsichtlich der verwendeten Medikation. Der Einfluss auf die empfundene Lebensqualität, die Therapietreue und die Arzt-Patient-Beziehung sind nicht zu unterschätzen.
Die anfängliche Befürchtung, dass die bei MS angewandten Beta-Interferone in einem größerem Umfang Depressionen auslösen könnten, wurde in kontrollierten Studien sowohl mit Beta-Interferon-1b- wie Beta-Interferon-1a-Präparaten nicht bestätigt (Feinstein 2002).
Nicht vergessen werden darf, dass die Belastung aufgrund einer psychischen Erkrankung einen Stressfaktor darstellt, der sich auch negativ auf den Verlauf der MS auswirken kann.
Symptome und Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit
Bei der Major Depression schildern die Be-troffenen Antriebsstörungen, eine niedergedrückte Stimmung und auch körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Gewichtsveränderungen und Störungen der Libido. Hinzu kommen Konzentrationsstörungen, Entscheidungsschwierigkeiten, Grübeln so-wie ein reduzierter Selbstwert. Die Erkrankungsschwere kann soweit ausgeprägt sein, dass eine selbständige Alltagsbewältigung nicht mehr möglich ist und/oder Suizidgedanken bzw. -absichten das Denken beherrschen. Ein leichter bis mittlerer Schwere-grad ist von außen schwieriger zu erkennen: Die Betroffenen schaffen es oft noch lange Zeit, nach außen „normal“ zu funktionieren, was aber eine große Kraftanstrengung bedeutet und mit einem hohem Leidensdruck verbunden ist. Am Arbeitsplatz kann es zu einem Leistungsabfall kommen. Die Betrof-fenen erleben Überforderung und reagieren häufig mit längeren Krankschreibungen, was zunächst einmal entlastet, aber nicht auch automatisch eine angemessene Behandlung impliziert.
Bei der bipolaren Störung kommt es zu gesteigerter oder reizbarer Stimmung, einhergehend mit einer deutlichen Antriebssteigerung. Auf den ersten Blick wirken die Betroffenen fit und leistungsfähig, Konzen-tration und langfristige Risikoabschätzung sind aber deutlich herabgesetzt. Im Allgemeinen folgt auf eine hypomane/manische Episode eine depressive Episode, die häufig deutlich länger andauert. Insbesondere bei reizbarer Stimmung kommt es schneller zu Konflikten mit Kollegen. Bei florider manischer Symptomatik sind die Betroffenen arbeitsunfähig und in der Regel auf statio-näre und medikamentöse Behandlung angewiesen.
Anpassungsreaktionen auf belastende Ereignisse gehören zum normalen menschlichen Erleben. Wird jedoch ein Zeitraum von sechs Monaten nach Ende des belastenden Ereignisses überschritten und die Betroffenen schildern nach wie vor depressive oder angstbezogene Symptome, kann diese Kategorie innerhalb der Diagnosegruppen verwendet werden.
Spritzenphobie, generalisierte Ängste und Panikstörungen aufgrund des ungewissen Krankheitsverlaufs, soziale Ängste aufgrund von sichtbarer Behinderung etc. sind Ängste, die einen direkten Bezug zur Multiplen Sklerose haben. Aber auch alle anderen Angststörungen sind bei MS nicht ausgeschlossen. Viele Angstpatienten gehen weiterhin arbeiten. Wenn die Ängste allerdings mit aufwändigem Vermeidungsverhalten und/oder großer Anspannung verbunden sind, leidet früher oder später auch die Arbeitsleistung. Komorbide Depressionen sind in der Folge häufig.
Pseudobulbäre Affektstörung
Die pseudobulbäre Affektstörung (PBA) fasst pathologisches Lachen und Weinen zusammen. Ein anderer häufig verwendeter Ausdruck ist Affektinkontinenz. Lachen oder Weinen passiert ohne auslösenden Trigger und häufig situationsinadäquat, den Betroffenen ist dies bewusst. Da eine hirnorganische Schädigung zugrunde liegt (PBA kommt auch bei anderen neurologischen Erkrankungen, z. B. Amyotropher Lateral-sklerose vor), können die Betroffenen die-sen Gefühlsausdruck auch nicht willentlich unterdrücken. Zu unterscheiden ist dieses Phänomen von der sog. Affektlabilität, bei der es emotionale Trigger gibt und der Ge-fühlsausdruck lediglich übersteigert ist. Die Arbeitsfähigkeit wird im Allgemeinen nicht durch neuropsychologische Einschränkungen, sondern eher durch Schamgefühle und den Rückzug der Betroffenen beeinträchtigt.
Die höchste Suizidgefährdung besteht in den ersten fünf Jahren nach Diagnosestellung und bei Verschlechterungen. Am stärksten gefährdet sind junge Männer (Stenager et al. 1992). Eine Studie von Feinstein (2002) konnte einen Zusammenhang mit sozialer Isolation, affektiven Sympto-men und Alkoholabusus belegen. Die Mehr-zahl der Betroffenen erhielt zudem keine adäquate Behandlung.
Diagnostik
Der Früherkennung kommt eine besonders wichtige Rolle zu. Zwar rechtfertigen nicht alle Symptome eine Diagnosestellung, um aber Prodromalphasen nicht zu übersehen, sollten psychische Symptome und Suizidali-tät im Verlauf miterhoben werden.
Eine sorgfältige Differenzialdiagnostik ist unerlässlich: Symptome wie Konzentra-tionsstörungen könnten andernfalls als kog-nitive Störung missinterpretiert werden.
Problematisch ist es, eine Depression bei MS lediglich aufgrund von Punktescores in Fragebögen (z. B. Beck-Inventar, Hamilton-Depressionsskala) zu bestimmen, die nicht für MS-Patienten konstruiert wurden. Leicht können erkrankungsbedingte Sensibilitäts- oder Sexualstörungen in Skalen, die für kör-perlich Gesunde entwickelt wurden, als Be-lege für Depressionen missinterpretiert wer-den. Geeignet ist zum Beispiel die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D), körperliche Symptome müssen bei der Interpretation immer berücksichtigt werden.
Therapie
Die Therapie von MS-Patienten mit einer psychischen Störung orientiert sich an den allgemeinen Behandlungsrichtlinien (z. B. Leitlinien der DGPPN, s. „Weitere Infos“).
Auf der Differenzialdiagnostik sollte besonderes Augenmerk liegen, so sind einige MS-Symptome auch bei den Kriterien einer Depression zu finden und umgekehrt. Insbesondere Fatigue und Depression weisen Gemeinsamkeiten aber auch therapierelevante Unterschiede auf. Zudem müssen vor-übergehende Nebenwirkungen von Medikamenten berücksichtigt werden. Ebenfalls hervorzuheben ist die Rückfallprophylaxe: MS stellt als chronische Erkrankung einen Risikofaktor dar, erneut eine affektive Störung oder Angststörungen zu entwickeln.
Je schneller Betroffene adäquate psychotherapeutische und/oder medikamentöse Therapie erhalten, desto besser. Lange Krankschreibungen ohne Therapie gilt es zu vermeiden.
Die Behandlung kann unterteilt werden in:
- Akuttherapie, dazu zählt auch die Entlastung, z. B. durch Arbeitsunfähigkeits-bescheinigungen,
- Erhaltungstherapie (etwa vier bis neun Monate nach der Akutphase),
- Rezidivprophylaxe.
Welche konkrete Behandlung indiziert ist, hängt vom Schweregrad, dem Verlauf und der Patientenpräferenz ab.
Die Effektivität einer kognitiven Verhal-tenstherapie ist für die Behandlung affektiver Störungen und Angststörungen gut be-legt, die Selbstmanagementfähigkeiten der Betroffenen werden bei diesem Verfahren gezielt gefördert.
Für die medikamentöse Behandlung depressiver Episoden bei MS existieren Studien zu Fluoxetin, Sertralin, Escilatopram, Citalopram, Venlafaxin, Imipramin, Amitrip-tylin, Desipramin, Mirtazapin, Duloxetin und Moclobemid. (Meißner u. Flachenecker in Henze 2013, S. 86)
Bei bipolaren Störungen gelten die allgemeinen Leitlinien; die medikamentöse Therapie wird an den Patienten individuell angepasst.
Bei der pseudobulbären Affektstörung ist Nuodexta® Mittel der Wahl, um den ungewollten Gefühlsausdruck zu unterdrücken oder zu dämpfen.
Literatur
Minden SL, Feinstein A, Kalb RC et al.: Evidence-based guideline: Assessment and management of psychiatric disorders in individuals with MS: Report of the Guideline Development Subcommittee of the American Academy of Neurology. Neurology 2014; 82: 174–181.
Henze T: Multiple Sklerose: Symptome besser erkennen und behandeln, 3. Aufl. München: Zuckschwerdt, 2013.
Stenager EN, Stenager E, Koch-Henriksen N et al.: Suicide and multiple sclerosis: an epidemiological investigation. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1992; 55: 542–545.
Feinstein A: An examination of suicidal intent in patients with multiple sclerosis. Neurology 2002; 59: 674–678.
Checkliste
Vorgehensweise bei psychischen Störungen
- Patienten gezielt ansprechen, wenn es Auffälligkeiten im Verhalten oder Krankschreibungen geben sollte
- Psychoedukation, ggf. auch ent-pathologisieren
- Differenzialdiagnostik, Abgrenzung zu kognitiven Störungen und Fatigue sowie komorbiden psychischen Störungen
- Geeignete stationäre oder ambulante Therapien (psychotherapeutisch und/oder medikamentös) zeitnah in die Wege leiten
- Zeitnahe Rehabilitation und berufliche Wiedereingliederung
Weitere Infos
S3-Leitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie
http://www.dgppn.de/publikationen/leitlinien/leitlinien1.html
World Health Organization: The global burden of disease: 2004 update. Genf, 2008
https://www.who.int/healthinfo/global_burden_disease/2004_report_update/en/
Bundespsychotherapeuten-kammer: Studie zu Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit, 2013
http://www.bptk.de/uploads/media/20140128_BPtK-Studie_zur_Arbeits-und_Erwerbsunfaehigkeit_2013_1.pdf
Für die Autoren
Kathrin von der Heiden M.Sc./PPT
DMSG-Landesverband NRW e. V.
Sonnenstraße 14
40227 Düsseldorf