Fünf Fragen an Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD).
DÄ: Frau Dr. Teichert, wie ist derzeit die Lage in den Gesundheitsämtern?
Teichert: Die Lage ist sehr angespannt. Leider haben wir zu wenig Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern. Schon ohne Corona müssen viele Ämter Abstriche bei den Pflichtaufgaben machen.
Für die umfangreichen Aufgaben während einer Pandemie, wie jetzt in der Coronakrise, reichen die Kapazitäten auch dann nicht, wenn alle anderen Tätigkeiten zurückgestellt werden. Fast täglich erreichen mich Hilferufe aus den Gesundheitsämtern. Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten bis zur absoluten Erschöpfung. Ein Amtsarzt schrieb mir heute, er habe 20 Tage am Stück gearbeitet und sogar im Gesundheitsamt übernachtet. Alles hängt an wenigen Personen, die Kollegen brauchen dringend Unterstützung – und zwar schnell.
DÄ: Welche Aufgaben haben die Amtsärzte in der Coronakrise?
Teichert: Am meisten Zeit benötigen sie für das Kontaktpersonenmanagement. Wenn in einem Labor ein Patient positiv auf das Coronavirus getestet wird, müssen die Gesundheitsämter die Kontaktpersonen des Infizierten ermitteln und sicherstellen, dass diese ebenfalls getestet werden. Dafür befragen sie die infizierte Person, zumeist telefonisch, und ermitteln auf diese Weise, mit welchen anderen Menschen der infizierte Patient Kontakt hatte: zum Beispiel bei der Arbeit, in der Schule oder beim Sport.
Die Kontaktpersonen müssen dann ausfindig gemacht und im Verdachtsfall ebenfalls getestet werden. Manche Amtsärzte fahren dann zu ihnen und nehmen selbst Abstriche. In anderen Regionen organisieren sie einen Termin in einem Diagnostikzentrum. Bis das Ergebnis des Tests vorliegt, müssen die Kontaktpersonen in häuslicher Absonderung verbleiben – wie es fachlich korrekt im Infektionsschutzgesetz heißt. Verstoßen sie gegen diese Auflage, droht ein Bußgeld. Eine häusliche Absonderung bedeutet übrigens eine strikte Isolation. Auch Lebensmittel müssen dann von Freunden oder einem Bringdienst besorgt werden.
Das Kontaktpersonenmanagement ist eine der originären Aufgaben der Gesundheitsämter. Es wird auch bei anderen meldepflichtigen Krankheiten durchgeführt, zum Beispiel bei Tuberkulose oder Masern. Es ist sehr zeitaufwendig. Und gerade diese Zeit fehlt im Moment.
In vielen Kommunen sind die Gesundheitsämter zudem dafür zuständig, die nun verfügte Schließung öffentlicher Einrichtung umzusetzen. Das kostet wieder Zeit. In anderen Kommunen machen das die Ordnungsämter.
Viel Zeit nimmt derzeit auch das Beantworten von Anrufen aus der Fachwelt und der Bevölkerung in Anspruch. Fast jedes Gesundheitsamt hat mittlerweile eine eigene Hotline geschaltet, für die Mitarbeiter eingesetzt werden müssen. Teilweise wird nicht medizinisches Personal eingesetzt, aber viele der Fragen sind medizinischer Natur und landen dann doch beim Amtsarzt.
In den FAQs auf der Internetseite des Robert-Koch-Instituts heißt es, die Menschen sollen in begründeten Verdachtsfällen bei ihrem örtlichen Gesundheitsamt anrufen. Das tun die Bürger dann natürlich auch. Aber durch das Telefonieren verlieren die Mitarbeiter Zeit, die sie für andere Arbeiten besser verwenden könnten. Darüber hinaus muss die Presse bedient werden. Es ist uns extrem wichtig, die Öffentlichkeit über die Presse informiert zu halten, aber das klappt aktuell, trotz Hilfe der Pressestellen, nur bedingt und immer wieder zeitverzögert.
Die Mitarbeit in den Krisenstäben und die Beratung und Information der anderen Behörden, die mitwirken, ist zudem extrem wichtig. Die medizinische Beurteilung der Lage und die erforderlichen Maßnahmen, um diese zu bewältigen, bringen die Amtsärzte in die Krisenstäbe ein. Aktuell haben viele Amtsärzte täglich Lagebesprechungen und werden in lokale und überregionale Gremien gerufen, um von der Situation vor Ort zu berichten.
Die Aufgaben der Gesundheitsämter werden in den Bundesländern in 16 eigenen Gesetzen zum Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) geregelt. Die Gesundheitsämter sind den Landesgesundheitsministerien untergeordnet, die auch die Fachaufsicht haben.
Insgesamt gibt es in Deutschland 380 Gesundheitsämter, in denen 2.500 Ärztinnen und Ärzte für Öffentliches Gesundheitswesen arbeiten. Das sind ein Drittel weniger als im Jahr 1998. Statistiken über die Zahl der Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern sowie über die Zahl der offenen Stellen im ärztlichen Dienst gibt es nur in manchen Bundesländern, zum Beispiel in Berlin. Dort ist jede vierte Stelle unbesetzt. Eine bundesweite Statistik der Beschäftigten im ÖGD gibt es bislang nicht.
Der BVÖGD ist der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitswesens mit Sitz in Berlin. Seinen Bundeskongress hat der Verband gerade von Ende April auf den 12. bis 14. Oktober 2020 verschoben.
Damit in Zusammenhang steht das regionale Krisenmanagement, das ebenfalls von großer Bedeutung ist. Viele Krankenhäuser halten Intensivbetten und Beatmungsplätze vor. Auch die niedergelassenen Ärzte haben ihre Behandlungsplätze. Jemand muss die Behandlungsmöglichkeiten in den Regionen aber überblicken und koordinieren. Auch das wäre eine originäre Aufgabe des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Doch dafür fehlt vielfach die Zeit.
Die Zeit fehlt mittlerweile auch beim Übertragen der Patientendaten. Vielfach kommen die Kollegen mit dem Melden der Infizierten nicht nach. Das ist ein großes Problem. Denn so sind auch die Meldungen an das RKI, das ja täglich aktuelle Zahl der Infizierten veröffentlicht, nicht auf dem aktuellen Stand. Das ist natürlich problematisch, da sich an den offiziellen Zahlen normalerweise die weiteren Handlungsstränge ausrichten.
DÄ: Was wünschen Sie sich jetzt von der Politik?
Teichert: Unser Hauptwunsch ist: Wir brauchen mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und zwar schnell. Das gesamte Personal in den Gesundheitsämtern ist schon jetzt weit über ihre Belastungsgrenze hinausgegangen – und die Krise beginnt ja erst. Bereits jetzt wird versucht, pensionierte Kolleginnen und Kollegen zur Verstärkung einzusetzen. Bei mir haben sich auch schon Medizinstudierende gemeldet, die helfen wollen.
Mein Vorschlag wäre es, dass die Ärzte, die beispielsweise beim Medizinischen Dienst arbeiten, in der Krisenzeit die Gesundheitsämter unterstützen. Das wäre eine große Entlastung und würde somit helfen, die Krise besser zu bewältigen. Wenn so weitreichende Maßnahmen wie die Schließung der Schulen und die Absage aller größeren Veranstaltungen beschlossen wurden, muss es auch möglich sein, jetzt schnell den Menschen zu helfen, die die tägliche Arbeit an der Basis erledigen.
Diese Krise muss aber auch mittel- und langfristige Folgen haben: Die Politik muss grundsätzlich die Arbeit der Gesundheitsämter durch Aufstockung des ärztlichen Personals, eine angemessene Bezahlung und – ganz wichtig – eine Aufwertung unseres Fachgebietes in der Ausbildung durch eine universitäre Verankerung besserstellen. Wir haben viele unbearbeitete Forschungsthemen in der Bevölkerungsmedizin und keinen einzigen Lehrstuhl für öffentliche Gesundheit in Deutschland.
Aber zurück zur aktuellen Situation: In manchen Gesundheitsämtern wird die medizinische Schutzausrüstung knapp. Hier brauchen wir dringend Nachschub, der ja vom Bundesgesundheitsministerium zentral beschafft werden soll.
Zudem wünschen wir uns, stärker in das Krisenmanagement auf Bundesebene eingebunden zu werden. Die Empfehlungen des RKI, die Gesundheitsämter in Verdachtsfällen zu kontaktieren, wurden zum Beispiel ohne Absprache mit den Gesundheitsämtern getroffen. Und das ist eine Empfehlung, die wir vor Ort angesichts des Personalmangels nicht umsetzen können.
In manchen Bereichen würde ich mir darüber hinaus mehr zentrale Angebote wünschen, zum Beispiel eine zentrale Hotline, bei der Menschen mit allgemeinen Fragen zum Coronavirus anrufen können. Dann belegen diese Bürger nicht die Hotlines der einzelnen Gesundheitsämter. Wünschen würde ich mir zudem Hilfestellungen im technischen Bereich, zum Beispiel die Erstellung und Aktualisierung einer Karte für ganz Deutschland, auf der die Diagnosezentren dargestellt sind und auf der sich die Menschen auf einen Blick informieren können.
DÄ: Wie kann es gelingen, die medizinische Versorgung aller anderen Patienten in der Coronakrise aufrechtzuerhalten?
Teichert: Das ist eine wichtige Frage. Denn wir dürfen die anderen Patienten nicht aus dem Blick verlieren. In Heinsberg wurden Teile des Personals einer Dialysepraxis positiv auf den Coronavirus getestet. Aber die Dialysepatienten müssen ja weiter versorgt werden. Es wäre schön, wenn sie von anderen Praxen mitversorgt werden könnten. Da erwarte ich dann auch Solidarität. In jedem Fall muss man im Einzelfall in der Region entscheiden, wie man mit einer solchen Situation umgeht. Da muss man pragmatische Lösungen finden.
Es geht in so einer Krise letztlich darum, den Schaden zu begrenzen. Wir müssen teilweise Entscheidungen treffen, die wir unter normalen Bedingungen so nie treffen würden. Muss eine ganze Krankenhausabteilung schließen, weil ein unerkannter COVID-19-Patient dort viele Kontakte zu Ärzten, Pflegepersonal und Patienten hatte? Darf ein Arzt weiterarbeiten, wenn er keine adäquate Schutzausrüstung hat? Dies sind alles Fragestellungen, die bei uns landen und rasch beantwortet werden müssen. Da geht es um die Versorgung von akut kranken Menschen, nicht nur um COVID-19-Patienten. Das strahlt auf die gesamte Versorgung aus.
aerzteblatt.de
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Die Einrichtung von Diagnosezentren hilft dabei, die Praxen von Coronapatienten freizuhalten. Deshalb ist es eine gemeinschaftliche Anstrengung, diese organisatorisch vorzubereiten, einzurichten und zu besetzen. Das erfolgt natürlich in Zusammenarbeit mit den ärztlichen Versorgungsstrukturen, den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Ärztekammern. Manche dieser Zentren sind auch Gesundheitsämtern angegliedert. Oft werden sie gemeinsam von den Gesundheitsämtern, den Krankenhäusern und den niedergelassenen Ärzten betrieben.
Ansonsten muss man bei der Arbeit jetzt priorisieren. In den Gesundheitsämtern bleiben zunehmend alle anderen Aufgaben liegen, zum Beispiel die Umsetzung des Masernschutzgesetzes.
DÄ: Seit Jahren beklagen Sie, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst kaputtgespart wird. Welche Auswirkungen hat das nun in der Krise?
Teichert: Es vergrößert die Probleme enorm. Und es zeigt, wie wichtig es ist, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst angemessen ausgestattet wird. Noch immer gibt es zum Beispiel keinen Tarifvertrag und die Kollegen im Krankenhaus verdienen im Durchschnitt bis zu 1.500 Euro brutto mehr als die Ärzte für Öffentliches Gesundheitswesen. Da darf man sich nicht wundern, dass viele ärztliche Stellen im Öffentlichen Gesundheitsdienst unbesetzt sind. Jetzt, in der Krisensituation, bekommen wir die Quittung dafür.
Wichtig ist auch, dass die Ärzteschaft insgesamt gerade in dieser Krisenzeit kooperiert und sich nicht mit gegenseitigen Schuldzuweisungen belegt. Pauschale Vorwürfe in einem Rundschreiben des Deutschen Hausärzteverbandes, „die in der Verantwortung stehenden untergeordneten Behörden (Gesundheitsämter) verschieben die ihnen obliegenden Pflichten, beispielsweise Testmöglichkeiten zu organisieren, mit lapidaren Hinweisen auf die hausärztliche Praxis“, sind da wenig hilfreich. Im Jahr 2014 hat der Deutsche Ärztetag in einem Schwerpunktbeschluss einstimmig die Stärkung des ÖGD gefordert. Hier ist jetzt auch innerärztliche Solidarität gefordert. © fos/aerzteblatt.de