Hintergrund
Seit den 90er Jahren verändert sich die Arbeitswelt in den industrialisierten Ländern rasant. Gleichzeitig kommt es zu einer kontinuierlichen Zunahme von Arbeitsunfähigkeit durch psychische Störungen (Richter u. Berger 2013). Dabei ist die Beziehung zwischen Arbeit und Depression als eine der wichtigsten psychischen Störungen bidirektional: Arbeit kann dem Menschen ein gutes Selbstwertgefühl und Anerkennung geben, aber Stress am Arbeitsplatz kann auch psychische Beanspruchungsfolgen nach sich ziehen. Dies kommt im Grundmodell der Stressforschung, dem Belastung-Ressourcen-Modell (➥ Abb. 1) gut zum Ausdruck (Bakker u. Demerouti 2007). Nach diesem Modell erhöhen die Belastungen die Anfälligkeit für das Entstehen psychischer Störungen, während Ressourcen diese vermindern.
Ressourcen wirken dabei entweder direkt positiv auf die Gesundheit ein oder schützen diese in einer Pufferfunktion, indem sie die potenziell schädliche Wirkung der Belastungen auf die Gesundheit abfedern. Sowohl hohe Belastungen als auch niedrige Ressourcen können im Rahmen dieses Modells zu psychischen Gefährdungen führen. Doch nicht nur Belastungen im Arbeitsleben können sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken. Gerade dann, wenn Belastungen in weiteren Lebensbereichen vorliegen, zum Beispiel durch eine Pflegesituation der Eltern oder Erkrankung der Kinder, können massive psychische Beanspruchungsfolgen entstehen, die, wenn sie nicht schnell bearbeitet werden, sich langfristig zu psychischen Störungen entwickeln können.
Es ist mittlerweile gut belegt, dass es
einige Arbeitsbedingungen gibt, die in deutlichem Zusammenhang zu psychischen und körperlichen Erkrankungen stehen (Rothe et al. 2017; Biron et al. 2017). Als zentrale Faktoren, die einen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben, gelten ein geringer Tätigkeitsspielraum, eine hohe Arbeitsintensität, mangelnde Gerechtigkeit und mangelnde soziale Unterstützung. Aber auch Pausendefizite, atypische Arbeitszeiten sowie Arbeitsunterbrechungen gelten als belegt und sind in der Merkmalsliste der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) aufgeführt (s. Infokasten)
Wenn nun einzig gefordert wird, diese Belastungen zu reduzieren, damit es den Beschäftigten wieder gut geht, dann ist dies aus unterschiedlichen Gründen unzureichend. Erstens lassen sich viele Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz nicht einfach reduzieren – außerdem kann sowohl eine zu niedrige als auch eine zu hohe Arbeitsintensität eine Gefährdung darstellen. Auch zu wenig Handlungsspielraum oder Unterforderung kann ein Risikofaktor in der Ausbildung einer psychischen Beanspruchungsfolge sein.
Zweitens wird übersehen, dass Belastungsfaktoren nicht für jeden gleichermaßen Beanspruchungsfolgen nach sich ziehen. Es kommt, wie zuvor erwähnt, auf die individuellen und organisationalen Ressourcen an, auf die Beschäftigte in Zeiten hoher Belastung zurückgreifen können. Im Zweifel ist es sinnvoller und schneller umsetzbar, die Ressourcen in den Fokus zu rücken, wie mit einer (aktuell) unveränderbaren äußeren Belastungssituation umzugehen ist.
Es braucht daher ein umfassendes Verständnis von betrieblicher Prävention, das sowohl die Gestaltung von gesunden Arbeitsbedingungen umfasst – ermittelt mit Hilfe der psychischen Gefährdungsbeurteilung – als auch auf die Stärkung der individuellen Bewältigungsmöglichkeiten der Beschäftigten oder ganzer Abteilungen fokussiert. Gerade für letztgenannten Aspekt steht das Angebot eines Employee Assistance Program (EAP), zu Deutsch Mitarbeiterunterstützungsprogramm oder Externe Mitarbeiterberatung, ein niederschwelliges Angebot, mit dem Unternehmen ihren Beschäftigten die Möglichkeit geben, bei Problemen jeglicher Art eine erste professionelle Ansprechperson zu kontaktieren. Diese vertrauliche Anlaufstelle hilft bei Problemen und Sorgen aus allen Lebenslagen durch Kurzberatung ohne Wartezeiten.
Um besser zu verstehen, wie ein EAP in der Praxis funktioniert, wie die Einbettung eines EAP in unternehmerische Prozesse gelingt und welche Rolle wichtige Beteiligte in diesem System haben, geben im Folgenden eine Betriebsmedizinerin und ein Betriebsmediziner sowie ein niedergelassener Psychologe Antworten.
Meet the experts
Frau Dr. Margit Emmerich ist seit 2003 Leiterin des betriebsärztlichen Dienstes sowie des Betrieblichen Gesundheitsmanagements der Schott AG. Sie hat in ihrer Funktion Leadership-Trainings mit Gesundheitsbezug mit entwickelt und die Einführung des EAP im Unternehmen begleitet.
Herr Dr. Andreas Erb ist seit 2002 Leiter der Arbeitsmedizin bei AbbVie und entwickelte die betriebsweite Gesundheitsumfrage, die seit Jahren erfolgreich im Unternehmen eingesetzt wird und sowohl Belastungen als auch Beanspruchungsfolgen untersucht und Maßnahmen daraus ableitbar macht.
Herr Dipl.-Psych. Bernhard Broekman ist Klinischer Psychologe/Psychotherapeut BDP und Business Coach. Schwerpunkt seiner bundesweiten Tätigkeit ist die Arbeit mit Einzelpersonen, Teams und Führungskräften mit dem hierarchieübergreifenden Ziel, gesund zu bleiben und die Zusammenarbeit zu optimieren.
Das Interview führt Dr. Nadine Schuster, Geschäftsführerin der prevent.on GmbH.
Frau Dr. Emmerich, Herr Dr. Erb: Können Sie sich daran erinnern, wie die Implementierung des EAP-Programms in Ihrem Unternehmen bekannt gegeben wurde?
Erb: Ja, es gab eine umfangreiche Kommunikation durch die Geschäftsführung und die Personalabteilung, außerdem ist das Angebot auf der firmeninternen Intranetseite hinterlegt. Heute wird das EAP als Teil des Betrieblichen Gesundheitsmanagements gesehen und entsprechend beworben, die Nutzerzahlen und Beratungsthemen werden vom EAP-Anbieter regelmäßig berichtet und in den entsprechenden Gremien, beispielsweise unserem Arbeitskreis Gesundheit, bewertet.
Emmerich: Wir haben unser Programm ja schon seit 13 Jahren. Damals wurden noch reguläre Aushänge gemacht, wir haben außerdem an jeden Beschäftigten einen Flyer geschickt mit den Angeboten und Zugangsdaten, begleitet durch ein Schreiben der Unternehmensleitung, in dem erklärt wurde, warum das Unternehmen ein EAP anbietet, dass die Beratung absolut vertraulich ist und keine Rückmeldungen persönlicher Art zurückfließen. Wir geben das Angebot aber auch nach wie vor regelmäßig über die neuen Medien kund, im Intranet oder mittels unserer Newsletter. Außerdem schicken wir immer wieder aktualisierte Flyer an alle Beschäftigten und laden die EAP-Vertreterinnen und -Vertreter zu unseren Gesundheitstagen und Betriebsversammlungen ein.
Das hört sich danach an, als ob Sie als Betriebsmedizinischer Dienst eine Schlüsselrolle im EAP-System innehaben.
Emmerich: Meine Rolle besteht einmal darin, das Produkt so zu kommunizieren, dass vom ersten Arbeitstag an jedem Beschäftigten bewusst ist, dass wir ein EAP anbieten, zudem fungieren wir als Zuweiser und helfen oft, den entsprechenden Kontakt herzustellen, wenn die Beschäftigten sich das nicht allein zutrauen. Außerdem werten wir regelmäßig die Statistik aus und analysieren diese im Hinblick auf Problembereiche und die eventuelle Ableitung von neuen Maßnahmen.
Erb: Ja, die Betriebsärztinnen und -ärzte sind Teil eines Gesamtberatungs- und Unterstützungssystems. Die Angebote ergänzen sich, die unterschiedlichen Partner können und sollen sich bei Bedarf gegenseitig die Bälle zuspielen, um im Sinne der Beschäftigten so schnell wie möglich ein optimales Ergebnis zu erzielen.
Emmerich: Wir können – und das ist eine wichtige Funktion des EAP – im Arbeitsalltag das Angebot präsentieren, was uns selbst entlastet und was die Beschäftigten uns zugute halten. Dadurch steigt die Zufriedenheit mit unserer Beratung. Nicht zuletzt lernen wir durch Rückmeldungen des EAP im Einzelfall bei komplexen Fällen immer wieder hinzu. Kurz gesagt: Ein funktionierendes EAP erleichtert unseren Arbeitsalltag.
Erb: Vor allem dann, wenn wir auch in Fälle mit eingebunden werden, die nicht von uns ins System „eingeschleust“ wurden. Das passiert in etwa 2–3% der Fälle und dadurch haben wir natürlich die Möglichkeit, eine wichtige Verbindung zwischen der externen Beratung und den nächsten Schritten im Zuge der Rückkehr an den Arbeitsplatz zu sein.
Broekman: Wenn ich hier als externer Berater eine Rückmeldung zur Rolle der Betriebsärztinnen und -ärzte geben darf: Ich sehe den betriebsmedizinischen Dienst in einer Schlüsselrolle im EAP-System, zum einen als Zuweiser durch die Detektion von Auffälligkeiten, zum anderen aber auch als Koordinationsstelle zwischen unterschiedlichen Strängen im BGM-System. Konkret: Die psychische Gefährdungsbeurteilung gibt uns Hinweise auf Auffälligkeiten in bestimmten Bereichen. Die Reportings, die von den EAP-Anbietern turnusmäßig zur Verfügung gestellt werden, können von betriebsmedizinischer Seite ausgewertet, mit eigenen Daten zu psychischen Belastungen verglichen und in Zusammenhang gebracht werden. Hier kann durch die Arbeit des betriebsmedizinischen Dienstes ein deutlicher Mehrwert für die Unternehmensleitung entstehen.
Wenn Sie gerade die Analysen erwähnen: In welchem Zusammenhang steht ein EAP mit einer psychischen Gefährdungsbeurteilung?
Emmerich: Wir mussten mit dem Vorurteil aufräumen, dass die psychische Gefährdungsbeurteilung dazu dient, psychisch erkrankte Beschäftigte herauszufinden. Das ist nicht der Fall. Die psychische Gefährdungsbeurteilung dient dazu, Belastungsbereiche zu identifizieren und Wege aufzuzeigen, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen. Ein EAP kann eine abgeleitete Maßnahme aus den Ergebnissen einer psychischen Gefährdungsbeurteilung sein und dazu dienen, Menschen mit beruflichen oder auch privaten Belastungen Hilfsangebote zu unterbreiten. Den Führungskräften kommt hier eine Schlüsselrolle zu: Sie sollen zum einen dafür sorgen, dass die Arbeitsbedingungen in ihrem Bereich gut sind. Zum anderen haben sie im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht dafür Sorge zu tragen, dass sie Verhaltensveränderungen bei Beschäftigten erkennen, diese ansprechen und Wege aufzeigen, wie geholfen werden kann.
Erb: Nicht immer haben psychische Beanspruchungsfolgen etwas mit der Arbeitsplatzsituation zu tun. Ganz im Gegenteil: Die privaten Belastungen werden stärker, das nehmen wir auch in unseren Gesundheitsumfragen wahr, die wir seit vielen Jahren durchführen. Die Symptome ähneln dann denen einer psychischen Störung oder einer psychiatrischen Diagnose, aber sind letztendlich Folgen einer Überforderung durch eine Anhäufung psychischer Belastungsfaktoren im privaten und beruflichen Umfeld, meint also das gesamte Spektrum der psychosozialen Belastungen: Vereinbarkeit Familie und Beruf, Pflege von Angehörigen, Probleme in der Partnerschaft, Kindererziehung, finanzielle Sorgen …
Broekman: Vielleicht kann ich hier ergänzen: Bei den Themen, die EAP-Klientinnen und –Klienten mitbringen, müssen wir deutlich unterscheiden zwischen „vor und nach der Corona-Krise“. Zwar waren die Themen ähnlich, aber jetzt sind sie noch einmal deutlich verstärkt durch die Erfahrung eines Kontrollverlusts. Corona bedeutet für ganz viele Menschen einen Kontrollverlust an Freiheit, an Planung, an finanziellen Möglichkeiten, an Freizeitverhalten, stellt also eine enorme Einschränkung dar, zusätzlich eine massive familiäre und finanzielle Belastung, die zum Teil sehr unterschiedlich ist. Das heißt, wir haben, wenn wir nicht Diagnosen, sondern Lebenssituationen betrachten, Krisensituationen, die zum Vorschein kommen und die Beschäftigte schon einmal durchlebt haben, oder es kommen ganz aktuelle Probleme zum Vorschein, die aus der Bewältigung der privaten, häuslichen Situation entstehen, beispielsweise Homeoffice und Homeschooling. Dies ist zwar aktuell überwiegend entschärft, da die Schulen wieder geöffnet sind, aber – so die Befürchtung einiger Klientinnen und Klienten – es könnte sich ja wieder einstellen.
Vor der Corona-Krise waren es aus meiner Sicht einzelne Stränge, die die Belastungsreaktion verursacht haben, beispielsweise eine Scheidung oder Trennung oder ein Konflikt im Team, aber eben nicht so viele Themen auf einmal. Es sind dadurch „Co-Belastungen“ entstanden, die die Stärke der Belastungsreaktion beeinflusst haben. Corona wirkt aus meiner Sicht wie ein Brennglas, das vorhandene Probleme verstärkt in den Fokus rückt.
Herr Broekman, bleiben wir noch einmal bei dem Thema psychische Störungen: Es ist Common Sense, dass die Krankschreibungen aufgrund psychischer Störungen in den letzten Jahren deutlich angestiegen sind. Wie schätzen Sie den Anteil derjenigen EAP-Klientinnen und -Klienten in Ihrer Beratung ein, die eine behandlungsbedürftige psychische Störung haben?
Broekman: Wir haben einen relativ hohen Anteil an Menschen mit akuten Belastungsreaktionen, die diagnostisch und aufgrund der Auslöser eine F43.0 vorweisen, aber auch depressive Anteile, das sind manchmal leichte depressive Episoden (F32.0) bis hin zur Aktivierung von mittelschweren bis schweren depressiven Störungen (F32.1 oder F32.2), manchmal auch gemischt mit Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS, F43.1), wo wir durch die Erfahrung eines massiven Kontrollverlustes eine Reaktivierung von traumatischen Belastungsreaktionen erleben. Aber auch Betroffene mit Erschöpfungszuständen, die entweder nach einem schon durchlebten Burnout jetzt zu uns kommen oder sich „auf der Kippe“ vor einem Burnout befinden.
Nicht jeder in der EAP-Beratung weist eine psychotherapeutische Ausbildung vor, denn nicht jedes Problem braucht einen psychotherapeutischen Auftrag oder einen psychologischen Hintergrund. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Psychotherapie in der externen Mitarbeiterberatung und was ist Ihrer Meinung nach der Vorteil daran, psychologischer Psychotherapeut und EAP-Berater zu sein?
Broekman: Um gut abgrenzen zu können, ob ein „normaler Konflikt“, ein privates Thema oder eine behandlungsbedürftige Störung vorliegt, ist das psychotherapeutische Wissen enorm wichtig. Manche Klientinnen und Klienten kommen auch mit Diagnosen in die EAP-Beratung, waren beim betriebsärztlichen Dienst oder in der Hausarztpraxis und bekommen beispielsweise Antidepressiva. Da ist eine gute klinische Ausbildung für die EAP-Beratung sehr hilfreich. Ich fokussiere zudem als EAP-Berater dann nicht nur darauf, welche arbeitsplatzrelevanten Themen es zu besprechen gibt, sondern welche Persönlichkeitsstrukturen bei den Betroffenen in Konflikten aktiviert werden und kann besprechen, ob er oder sie die Probleme auch aus anderen Zusammenhängen kennt. Als Psychotherapeut habe ich gelernt, eine andere Perspektive einzunehmen beziehungsweise mit der/den Klientin/Betroffenen einen Perspektivwechsel vorzunehmen.
Was ist im Rahmen der EAP-Beratung auch vielleicht von Nachteil, wenn man als psychologischer Psychotherapeut sozialisiert ist – macht eventuell das Verfahren einen Unterschied?
Broekman: Ja, da fällt mir der Spruch ein „Die Pathologie liegt zuweilen im Auge des Betrachters“ (lacht). Natürlich ist es eine selektive Form der Wahrnehmung meines Gegenübers, wenn ich eine klinische Ausbildung mit einschlägigen Weiterbildungen absolviert habe. Davon sollte man sich soweit es geht freimachen, denn Therapeut in der EAP-Beratung zu sein ist dann ein Nachteil, wenn man versucht, das Verhalten zu pathologisieren. Wenn man lösungsorientiert oder systemisch arbeitet, dann ist diese Gefahr nicht so sehr gegeben, weil man dann Störungen erstens als vorübergehend betrachtet und man zweitens mit den Betroffenen resilienz- bzw. ressourcenorientiert arbeiten kann mit Fragen wie „Was haben Sie bisher aus Krisen gelernt?“ oder „Was lernen Sie jetzt weiterhin?“. Dann sieht man als Berater, ob die betroffene Peson in der Lage ist, den Reflexionsprozess mitzugehen. Wenn nicht, dann sind das auch Anzeichen dafür, in eine Psychotherapie einzusteigen, da der Person die nötige Selbstregulationskompetenz zur Lösungsorientierung fehlt.
Ich bin der Ansicht, dass man im Rahmen von fünf Stunden, die bei den meisten EAP-Programmen inklusive sind, sehr gut sehen kann, ob die Selbstregulationskompetenz vorhanden ist und damit der Zugang zu inneren Hilfen nur kurzfristig verwehrt erscheint oder ob tiefer eingestiegen werden muss.
Ist das auch eine besondere Herausforderung, die Kürze der vorhandenen Beratungszeit?
Broekman: Ja, die Kürze der Beratung ist sogar die größte Herausforderung! Wenn man nur die vorgegebenen Sitzungen zur Verfügung hat, ist man darauf zurückgeworfen, diese Zeit sinnvoll und lösungsorientiert zu nutzen. Und es ist eine Frage der Tiefe, die ich mit der oder dem Betroffenen im Gespräch eingehe. Ich muss mich zwangsläufig mit der Re-Aktivierung wichtiger gesundheitserhaltender Ressourcen wie der sozialen Stützfunktion beschäftigen, muss eine mögliche Anschlussbehandlung oder auch andere Unterstützungsmöglichkeiten wie Selbsthilfegruppen im Blick haben. Hier kann es unter Umständen auch gut sein, wenn kein Behandlerwechsel stattfinden muss, das heißt, wenn die EAP-Beratenden die betroffene Person auch in ihre Praxen übernehmen können. Das bietet Vor- und Nachteile. Ein Nachteil dieser Option kann eine gewisse „Akquise“ der EAP-Beratungen für die eigene Praxis sein, aber auch die fehlende Notwendigkeit, sich zu fokussieren in der Kürze der Zeit. Hier kommt dem EAP-Anbietenden eine entscheidende Rolle zu, die einzelnen Beraterinnen und Berater danach auszuwählen, welche Haltung sie zur lösungsorientierten Beratung einnehmen. Ein Vorteil einer möglichen Weiterführung in den eigenen Praxen könnte sein, dass eben dann, wenn Vertrauen aufgebaut wurde – und Vertrauen ist eines der elementaren Wirkprinzipien – der Beratungs- oder Therapieprozess nicht unterbrochen werden muss. Gerade Personen, die eine hohe Hemmschwelle haben, sich an eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten zu wenden, könnte hier geholfen werden – sie müssten ihre Geschichte nicht noch einmal erzählen.
Erb: Das sehe ich auch so. Wir haben neben dem EAP auch noch eine zusätzliche Beratung installiert, die Personen mit eindeutigen psychischen Beanspruchungsfolgen, die wir über den PHQ-9 detektieren, direkt in eine lösungsorientierte Beratung mit größerem Stundenkontingent vermitteln, da wir der Meinung sind, dass – falls tatsächlich eine längere Beratung notwendig ist – nach den 5 Sitzungen kein Behandlerwechsel stattfinden soll und die Vermittlung in Therapie nach 5 Sitzungen in ambulante Therapie – falls benötigt – mit einem reinen EAP nicht gut gelingt. Wie im Rahmen des EAP wird auch hier innerhalb von kurzer Zeit, maximal 10 Tagen, der Kontakt hergestellt, ambulante Psychotherapeutinnen oder -therapeuten/eine Psychotherapeutinübernehmen direkt und steigen in eine Beratung oder Behandlung ein, deren Umfang 8 bis 16 Stunden betragen kann. Unsere Auswertung zeigt, dass selbst das erste Kontingent von 8 Sitzungen nicht immer ausgenutzt wird, im Schnitt nehmen die Klientinnen und Klienten ca. 6 Stunden in Anspruch. Frühzeitig interveniert und in Beratung vermittelt, kann dies Leid reduzieren, die Lebensqualität steigern, Chronifizierung verhindern und die Arbeitsfähigkeit erhalten. Mit unserem Netzwerk „Lösungsorientierte Beratung“ funktioniert das bundesweit auch für unseren Außendienst.
Zum Abschluss: Wenn Sie sich den Idealzustand vorstellen: wie sieht das perfekte EAP aus? Wo ist es angesiedelt, welchen Stellenwert hat es im Unternehmen, welche Aufgabe hat der betriebsmedizinische Dienst, wie fließen Informationen zusammen?
Broekman: In einem idealen EAP besteht zwischen den EAP-Anbietern und den betriebsmedizinischen Diensten eine enge Verbindung. Falls Beschäftigte im Rahmen einer betriebsmedizinischen Beratung Auffälligkeiten und Belastungsfaktoren zeigen, kann direkt eine Übermittlung in den EAP-Service stattfinden. Es könnte eine betriebsärztliche Voreinschätzung geben, beispielsweise in Richtung Depression, Burnout, Stress, schwierige Lebensbedingungen oder Ähnliches. Bei Entbindung von der Schweigepflicht könnten sich dann auch die Behandelnden untereinander austauschen und das bestmögliche Ergebnis für die Klientinnen und Klienten erreichen.
Im Idealfall sind auch Führungskräfteschulungen zum Thema „Erkennen von und Umgang mit (psychisch) belasteten Beschäftigten“, in der typische Anzeichen einer Überlastung oder auch einer psychischen Störung besprochen werden, Teil des EAPs, denn das ist die Grundvoraussetzung, um damit als Führungskraft unbeschwerter umgehen zu können. Wie erkenne ich eine Depression oder Angststörung? Was sind typische Veränderungsanzeichen, ohne gleich eine Diagnose stellen zu müssen? Und dann sollte den Führungskräften auch Rechte und Pflichten ihrer Rolle vermittelt werden. Also: Wie spreche ich die Veränderung an? Wen kann ich dazuschalten? Was muss ich tun, wenn eine stufenweise Wiedereingliederung ansteht? Was ist auch genau nicht meine Aufgabe? Wie spreche ich mit dem Team, wenn ein Teammitglied eine psychische Störung hat und damit einverstanden ist, dass das gesamte Team informiert wird? Im besten Fall erfolgt dies zunächst über eine Schulung der Führungskräfte, die dann ein Einzelkontingent zur Besprechung und Begleitung individueller Fälle nach sich zieht.
Emmerich: Unternehmenspolitisch ist es von großem Vorteil, wenn aufgrund der Rückmeldung des EAPs Belastungen erkannt werden und man mit treffsicheren Maßnahmen dagegen steuern kann. Die Erkenntnisse aus den EAP-Beratungen sollten mit den Ergebnissen aus den Gefährdungsbeurteilungen abgeglichen und gegebenenfalls muss bezüglich der abgeleiteten Maßnahmen nachjustiert werden. Die vorhandenen Angebote und Erkenntnisse, sowohl aus dem betrieblichen Gesundheitsmanagement, dem werksärztlichen Dienst als auch aus der Arbeitssicherheit, müssen gut miteinander verzahnt werden, so dass es im besten Fall erst gar nicht mehr dazu kommt, dass Menschen so lange aufgrund psychischer Belastungen und Beanspruchungsfolgen ausfallen.
Und falls es eben doch zu Ausfallzeiten kommt, dann können wir durch eine zeitnahe Intervention und den Kontakt zu den Beschäftigten eine zügige Wiedereingliederung ermöglichen. Wir wissen, dass je länger Beschäftigte aufgrund einer psychischen Störung ausfallen, die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft an den Arbeitsplatz zurückzukehren, sinkt. Hier sind alle Player in und außerhalb des Unternehmens gefragt.
Erb: Ein EAP sollte aus meiner Sicht immer Teil eines umfassenden BGM sein, das sich mit den anderen Angeboten ergänzt, allen Ebenen des Unternehmens bekannt ist und von diesen unterstützt wird. Der betriebsärztliche Dienst nimmt seinen Teil in der Beratung ein und empfiehlt das EAP bei Vorliegen eines Bedarfs. Informationen beziehungsweise Kennzahlen aus allen Teilbereichen des BGM, also auch der Arbeitssicherheit inklusive Gefährdungsbeurteilung, des betrieblichen Eingliederungsmanagements und den Angeboten der betrieblichen Gesundheitsförderung müssen in einem übergeordneten Dashboard zusammenfließen und dazu geeignet sein, einem Steuerungskreis des BGM oder auch der Unternehmensleitung als Grundlage für weitere Entscheidungen zu dienen. Dann wird daraus eine gesunde Unternehmenskultur.
Frau Dr. Emmerich, Herr Broekman, Herr Dr. Erb, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Fazit
Um psychische Beanspruchungsfolgen zu begrenzen oder zu vermindern, muss im Rahmen der betrieblichen Prävention an drei Punkten angesetzt werden:
Oft liegt die Lösung zur Verbesserung der psychischen Befindlichkeit in der Person selbst. Ein Employee Assistance Program stärkt durch die Vielfalt der nutzbaren Beratungsangebote in erster Linie diesen individuumszentrierten Aspekt. Wenn das EAP zudem zielgerichtet und maßgeschneidert eingesetzt und dauerhaft installiert wird, sowohl für Einzelpersonen als auch in Teams nutzbar wird und die Ergebnisse in eine Managementbewertung einfließen, dann wirkt es sich auch auf die Reduktion der Belastungen im Unternehmen aus, die sich im Rahmen der psychischen Gefährdungsbeurteilung oder der Mitarbeiterbefragungen gezeigt haben.
Interessenkonflikt: Die Autorin ist geschäftsführende Gesellschafterin der prevent.on GmbH und niedergelassene Psychotherapeutin in Mainz. Ein Interessenskonflikt liegt nicht vor.
Literatur
Bakker AB, Demerouti E: The job demands-resources model: state of the art. J Manager Psych 2007; 22): 309–328.
Biron C, Gatrell C, Cooper CL: Autopsy of a failure: Evaluating process and contextual issues in an organizational-level work stress intervention. Int J Stress Manag 2010; 17: 135–158.
Richter D, Berger K: Nehmen psychische Störungen zu? Psychiatrische Praxis 2013; 40: 176–182.
Rothe I, Adolph L, Beermann B et al.: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt: Wissenschaftliche Standortbestimmung. 1. Aufl. Dortmund, Berlin, Dresden: BAuA, 2017.
Info
Gefährdungsfaktoren der Arbeit (nach GDA)
1. Arbeitsinhalt/Arbeitsaufgabe
- Vollständigkeit der Aufgabe
- Handlungsspielraum
- Abwechslungsreichtum
- Information/Informationsangebot
- Verantwortung
- Qualifikation
- Emotionale Inanspruchnahme
2. Arbeitsorganisation
- Arbeitszeit
- Arbeitsablauf
- Kommunikation/Kooperation
3. Soziale Beziehungen
- Kolleginnen/Kollegen
- Vorgesetzte
4. Arbeitsumgebung
- Physikalische und chemische Faktoren
- Arbeitsplatz- und Informationsgestaltung
- Arbeitsmittel
5. Neue Arbeitsformen
- Räumliche Mobilität
- Atypische Arbeitsverhältnisse
- Zeitliche Flexibilisierung, reduzierte Abgrenzung zwischen Arbeit und
Privatleben