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Entwicklung des Risikokonzepts zur Expositionsbegrenzung krebserzeugender Arbeitsstoffe in Deutschland

Fünfzehn Jahre ohne Technische Richtkonzentrationen

Risikobasierte Regulation

Mit der Novelle der Gefahrstoffverordnung zum Ende des Jahres 2004 wurden in Deutschland die Technischen Richtkonzentrationen (TRK) für krebserzeugende Arbeitsstoffe abgeschafft, die sich an der technischen Machbarkeit orientierten. Für gut untersuchte Substanzen, deren Wirkmechanismus einen quantifizierbaren toxikologischen Schwellenwert plausibel erscheinen lässt, kann der Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales weiterhin in bewährter Weise gesundheitsbasierte Luftgrenzwerte vorschlagen. Diese finden üblicherweise als „Arbeitsplatzgrenzwerte“ (AGW) Eingang in die Technische Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 900.

Für krebserzeugende Arbeitsstoffe mit unbekanntem oder primär gentoxischem Wirkmechanismus ist es nach jetzigem Wissensstand nicht möglich, einen Schwellenwert abzuleiten. Die Schadensereignisse werden als stochastisch aufgefasst. Zur Regulierung solcher Stoffe verständigten sich die deutschen Sozialpartner erfreulich schnell auf ein risikobasiertes Konzept, wobei sie sich von einem bereits existierenden Ansatz aus den Niederlanden inspirieren ließen. Die Übereinkunft bestand darin, dass stoffunabhängig zwei Risikogrenzen definiert wurden, die als „Toleranzrisiko“ (4:1000) und „Akzeptanzrisiko“ (4:100.000) bezeichnet werden. Diese Zahlen sind zu verstehen als zusätzliche durch Arbeitsplatzexposition bedingte Krebserkrankungsrisiken.

Zur Veranschaulichung des Konzepts wird gern die Analogie zu einer Verkehrsampel herangezogen: Werte oberhalb der so genannten Toleranzkonzentration, die bei gleichbleibender arbeitslebenslanger Exposition mit dem Toleranzrisiko verbunden ist, entsprechen der Farbe Rot, weil dieses Risiko am Arbeitsplatz nicht überschritten werden darf. Am anderen Ende der Skala steht die Akzeptanzkonzentration als anzustrebende Zielgröße, die den Übergang von Gelb zu Grün markiert.

Rechtlich ist das deutsche Risikokonzept mit einem gestuften Schutzmaßnahmenkatalog verknüpft. Bei niedrigem, mittlerem oder hohem Krebserkrankungsrisiko sind unterschiedlich ausgeprägte Vorkehrungen administrativer, technischer, organisatorischer oder arbeitsmedizinischer Art zu treffen, sofern eine Substitution nicht möglich ist. So muss bei hohem Risiko Atemschutz nicht nur zur Verfügung gestellt, sondern auch verpflichtend getragen werden, und bei längerer Überschreitung der Akzeptanz- oder Toleranzkonzentration muss ein detaillierter Plan mit konkreten Schritten zur weiteren Expositionsminderung bei der zuständigen Aufsichtsbehörde eingereicht werden.

Abb. 2:  Risikokonzept nach TRGS 910.

Abb. 2: Risikokonzept nach TRGS 910.

Ableitung von Expositions-Risiko-Beziehungen

Mit diesen sozialpolitischen Vorgaben entwickelten anschließend Fachleute aus Toxikologie, Arbeitsmedizin und Statistik einen ausführlichen Leitfaden, in dem die Modellierung von Expositions-Risiko-Beziehungen (ERB) aus verfügbaren Daten der wissenschaftlichen Literatur nach einem einheitlichen und transparenten Verfahren beschrieben wird. Aus den ERB können dann stoffspezifisch die letztlich entscheidenden Akzeptanz- und Toleranzkonzentrationen abgelesen werden.

Die Autorinnen und Autoren des Leitfadens war sich darüber einig, dass der Anspruch eines harmonisierten Vorgehens nicht durch starre Algorithmen mit standardisierten, fest vorzuschreibenden Extrapolations- oder Sicherheitsfaktoren und Kurvenanpassungsmodellen erreicht werden kann. Erforderlich ist stets eine wissenschaftlich fundierte Fall-zu-Fall-Betrachtung unter dezidierter Berücksichtigung der Studienqualität und des jeweiligen Krebsentstehungsprozesses. Die einzelnen Ableitungsschritte sind in einem Begründungspapier zu dokumentieren, aus dem auch die Unsicherheiten hervorgehen.

Bevorzugter Ausgangspunkt der Berechnungen sind geeignete Daten vom Menschen. Angesichts inhärenter Schwächen vieler epidemiologischer Studien, wie unzureichende Expositionserfassung oder nicht berücksichtigte Störfaktoren, muss aber oft auf tierexperimentelle Daten zurückgegriffen werden. Die größte Schwierigkeit für die regulatorische Toxikologie ist dabei weniger die Bewertung der Relevanz bestimmter an Nagern erhobener Befunde für den Menschen. Als ungleich komplizierter erwies sich die Extrapolation von den im Tierversuch eingesetzten sehr hohen Dosen auf die an Arbeitsplätzen erwartbaren Konzentrationen. Während die „Nachweisgrenze“ für tumortragende Tiere bei den üblichen Individuenzahlen pro Dosisgruppe im Prozentbereich liegt, sollen Aussagen über Expositionsäquivalente beim Menschen getroffen werden, deren Größenordnung vom Akzeptanzrisiko in Höhe von 4:100.000 bestimmt wird, also um bis zu vier Zehnerpotenzen niedriger ist. Diese gewaltige Lücke durch ein überzeugendes Kurvenmodell zu überbrücken, ist extrem herausfordernd. Oft bleibt in Ermangelung besseren Wissens eine simple Dreisatzrechnung als einziger Ausweg.

Zwischenbilanz

Mittlerweile hat der AGS für über 20 wichtige Arbeitsplatzkanzerogene Toleranz- und Akzeptanzkonzentrationen abgeleitet. Zusammen mit dem Leitfaden zur Quantifizierung von Expositions-Risiko-Beziehungen sind sie in der TRGS 910 veröffentlicht (s. „Weitere Infos“). Für eine Übergangszeit, die eigentlich schon 2018 hätte enden sollen, ist eine erhöhtes Akzeptanzrisiko (4:10.000 statt 4:100.000) ausgewiesen.

Es zeigte sich, dass mehrere ehemalige TRK-Werte, die den Stand der Expositionsminderungstechnik der 1990er Jahre widerspiegeln, mit einem hohen Erkrankungsrisiko oberhalb der Toleranzgrenze korrelieren.

Im Übereifer wurde beinahe übersehen, dass einige Kanzerogene schon bei relativ niedrigen Konzentrationen durchaus auch nichtneoplastische adverse Gesundheitseffekte hervorrufen können, vor denen die Beschäftigten ebenfalls geschützt werden müssen. So mussten beispielsweise die aus Kanzerisierungsstudien errechneten Toleranzkonzentrationen für Acrylamid und Trichlorethen auf Werte unterhalb der toxikologischen Wirkschwelle für Neuro- bzw. Nephrotoxizität abgesenkt werden.

Wenngleich bei kleinen und mittleren Unternehmen teilweise noch Unklarheiten bei der Umsetzung bestehen, ist das Risikokonzept nach persönlichem Eindruck des Verfassers dieser Zeilen recht gut aufgenommen worden. Es ist keinem utilitaristischen Kosten-Nutzen-Kalkül verpflichtet, sondern strebt danach, allen Beschäftigten unabhängig von der wirtschaftlichen Bedeutung eines Arbeitsstoffes, der Schwere oder Therapierbarkeit der vorzubeugenden Krebserkrankung und der Zahl der Exponierten ein nur sehr geringes Risiko zuzumuten. Das für viele etwas abstrakt erscheinende Minimierungsgebot der Gefahrstoffverordnung wird damit auf eine toxikologische Grundlage gestellt und in Zahlen gefasst.

Ausblick

Noch sind aber einige Fragen abzuklären. Sie stellen sich in Zusammenhang mit den berechneten niedrigen Akzeptanzkonzentrationen, die für einzelne Kanzerogene mit besonders hoher Wirkstärke nur knapp über der ubiquitären Belastung liegen können:

  • Ist die lineare Extrapolation in den Niedrigdosisbereich als „Default“-Methode ein unangemessen konservatives Modell?
  • Soll die Übergangsfrist für ein erhöhtes Akzeptanzrisiko verlängert werden?
  • Ist die Akzeptanzkonzentration ein verbindliches Ziel für alle Unternehmen, Stoffe und Prozesse aufzufassen, und wenn ja, bis wann muss es erreicht werden?
  • Wie kann die chemische Analytik den Anforderungen an immer empfindlichere Nachweisverfahren nachkommen?
  • Zurzeit wird die TRGS 910 überarbeitet. Die Neufassung soll auch die genannten Probleme einer Lösung näherbringen und für Anwenderinnen und Anwender besser verständlich werden. Noch zurückgestellt wurde eine Regelung für den Fall einer Koexposition gegen mehrere krebserzeugende Arbeitsstoffe.

    Es ist bemerkenswert, dass die deutsche Strahlenschutzkommission in einer kürzlich veröffentlichten Empfehlung an das Bundesumweltministerium appelliert, „die Höhe des tolerablen Krebsrisikos durch Expositionen an unterschiedlichen Arbeitsplätzen mit den anderen zuständigen Ministerien mit dem Ziel einer Harmonisierung zu diskutieren.“ Dabei soll ausdrücklich das hier gewürdigte Arbeitsschutzkonzept für gentoxische Chemikalien berücksichtigt werden.

    Das Konzept wird auch in einigen europäischen Nachbarländern lebhaft diskutiert. Aus Sicht des Bundesarbeitsministeriums in Bonn und Berlin ist es mit den so genannten Binding Occupational Exposure Limit Values (BOELV) kompatibel, die von der Europäischen Kommission als Mindeststandards im Rahmen der Krebs-/Mutagenrichtlinie 2004/37/EG und anderer Rechtsakte verfügt werden: Sofern die in Deutschland abgeleitete Akzeptanzkonzentration unterhalb des BOELV für den jeweiligen Arbeitsstoff liegt, wird von einer adäquaten Implementierung der EU-Richtlinien in nationales Recht ausgegangen. Das entsprechende Notifizierungsverfahren ist allerdings noch nicht abgeschlossen.▪

    Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Literatur

    Bender H: Risikokonzept für krebserzeugende Stoffe. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2014; 49: 436–445.

    Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit: Bekanntmachung einer Empfehlung mit wissenschaftlicher Begründung der Strahlenschutzkommission – Grundlagen zur Begründung von Grenzwerten für berufliche strahlenexponierte Personen. BAnz AT 14.11.2019 B5.

    Nies E et al.: Expositionsbegrenzungen und Expositions-Risiko-Beziehungen – Schritte zur Konkretisierung des deutschen Risikokonzepts für krebserzeugende Arbeitsstoffe. Gefahrstoffe Reinhalt Luft 2012; 72: 183–190.

    Das deutsche Risikokonzept ist mit einem gestuften Schutzmaßnahmenkatalog verknüpft und sieht bei niedrigem, mittlerem oder hohem Krebs­erkrankungsrisiko unterschiedlich ausgeprägte Vorkehrungen administrativer, technischer, organisatorischer oder arbeitsmedizinischer Art vor

    Foto: endopack / Getty Images

    Das deutsche Risikokonzept ist mit einem gestuften Schutzmaßnahmenkatalog verknüpft und sieht bei niedrigem, mittlerem oder hohem Krebs­erkrankungsrisiko unterschiedlich ausgeprägte Vorkehrungen administrativer, technischer, organisatorischer oder arbeitsmedizinischer Art vor

    Weitere Infos

    Bundesministerium für Arbeit und Soziales: TRGS 910 (Risikobezogenes Maßnahmenkonzept für Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen). GMBl 2014, S. 258‑270 ­
    [Nr. 12] vom 2.4.2014; zuletzt geändert und ergänzt: GMBl 2019 S. 120 [Nr. 7] vom 29.03.2019

    https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regel…

    Info

  • Technische Richtkonzentrationen (TRK) für krebserzeugende Arbeitsstoffe wurden in Deutschland abgeschafft.
  • Sie orientierten sich an einem schwierig zu definierenden Stand der Expositionsminderungstechnik.
  • TRK sind stoff- und prozessabhängig mit unterschiedlichen Krebserkrankungsrisiken für
    die Beschäftigten verbunden.
  • Nach Novellierung der deutschen Gefahrstoffverordnung 2004/2005 wurde ein risiko­basiertes Konzept zur Regulierung von Kanzerogenen ohne bekannte toxikologische Wirkschwelle eingeführt.
  • Der neue Ansatz basiert auf Expositions-Risiko-Beziehungen, die von Fachleuten aus
    Literaturdaten abgeleitet werden müssen.
  • Als Zielgröße wird stoffunabhängig ein sozialpolitisch vereinbartes, als gerade noch akzep­tabel angesehenes Krebserkrankungsrisiko für alle Exponierten angestrebt.
  • Noch zu lösende Fragen ergeben sich überwiegend aus den errechneten Zielkonzentrationen, die für einige potente Kanzerogene sehr niedrig sind.
  • Autor

    Dipl.-Biol. Dr. rer. nat. Eberhard Nies
    Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen ­Unfallversicherung (IFA)
    Alte Heerstraße 111
    53757 Sankt Augustin

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