Vorwort
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die DGUV Vorschrift 2 ist für das betriebsärztliche Handeln von zentraler Bedeutung. Die DGUV plant eine Novellierung der Vorschrift mit einigen Änderungen, die erhebliche Auswirkungen auf die praktische Tätigkeit für Betriebsärztinnen und -ärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit sowie deren Kapazitäten für einzelne Beschäftigte in den Unternehmen hätten. Begründet werden die Änderungen unter anderem mit einem postulierten Betriebsärztemangel.
Die Bundesärztekammer hat sich dankenswerterweise dieses Themas angenommen und in einer Taskforce „Arbeitsmedizin“ begonnen, die aktuelle Situation zu evaluieren und mögliche Modelle für eine Weiterentwicklung der arbeitsmedizinischen Versorgung zu beschreiben.
In dem Papier wird zunächst die Ist-Situation auf der Basis verfügbarer Daten beschrieben und schließlich Vorschläge zur Verbesserung der Versorgung insbesondere in KMUs gemacht. Nach Fertigstellung des Papiers wurde noch bekannt, dass mehr als 6500 Betriebsärztinnen und Betriebsärzte Impfstoffbestellungen aufgegeben haben, so dass die Validität der im Positionspapier dargelegten Zahlen aktiver Betriebsärztinnen und Betriebsärzte untermauert wird.
Das Positionspapier, das wir Ihnen nun zur Verfügung stellen, wurde vom Präsidium der Bundesärztekammer verabschiedet und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung als Beitrag für die aktuellen Diskussionen zur Verfügung gestellt. Wir hoffen, dass Ihnen dieses Positionspapier als Argumentationshilfe dienen kann.
Konstruktive Anregungen und Kritikpunkte nehmen wir jederzeit gerne entgegen.
Prof. Dr. med. Thomas Kraus
Präsident DGAUM
Dr. med. Wolfgang Panter
Präsident VDBW
Einleitung
Eine gute qualitative und quantitative betriebsärztliche Versorgung ist eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg in der Bundesrepublik.
Es gilt, arbeitsbedingte Erkrankungen zu vermeiden und gleichzeitig die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit – ein Ziel der ArbMedVV – in den Betrieben umzusetzen. Dazu ist zwingend arbeitsmedizinischer Sachverstand sowohl für die Verhältnis- als auch für die Verhaltensprävention notwendig.
Ausgangssituation
Mögliche Engpässe in der betriebsärztlichen Versorgung werden in Deutschland kontrovers diskutiert. Im Jahr 2014 wurde eine von der BAuA beauftragte Studie zum arbeitsmedizinischen Betreuungsbedarf und zu verfügbaren betriebsärztlichen Ressourcen publiziert (Barth et al. 2014). In dieser BAuA-Studie wurde ein grundsätzlicher Mangel an betriebsärztlichen Versorgungskompetenzen festgestellt und eine Zunahme des Mangels prognostiziert.
Die Datenbasis für diese Prognose basierte auf Daten bis zum Jahr 2011. Nach über zehn Jahren sehen es die Bundesärztekammer, die Deutsche Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin (DGAUM) und der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) als ihre Aufgabe an, aktuell verfügbare Daten zur betriebsärztlichen Versorgungssituation zu sichten und daraus Empfehlungen für Entscheidungen zu erarbeiten.
Evaluation der Situation 2021
Für eine aktuelle Bestandsaufnahme liegen folgende Daten vor:
Ad 1: Angaben zu Fachärztinnen/ Fachärzten für Arbeitsmedizin sowie zu Fachärztinnen/Fachärzten anderer Gebietsbezeichnungen mit der Zusatz-Weiterbildung Betriebsmedizin
In ➥ Abb. 1 ist die Entwicklung der Zahl der Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Qualifikation in den Jahren 2002 bis 2019 dargestellt. Es zeigt sich, dass die Zahl in den letzten fast 20 Jahren weitgehend konstant geblieben ist. Damit zeigt sich auch, dass die Prognosen aus den Jahren 2011 bis 2014 (Barth et al. 2014) die Zahl der Arbeitsmedizinerinnen/Arbeitsmediziner werde wegen der Altersstruktur gravierend abfallen, in keiner Weise eingetreten ist.
Bei der o.g. Statistik handelt es sich um Gesamtzahlen einschließlich der nicht (mehr) praktizierenden Kolleginnen und Kollegen und es fehlen die Weiterzubildenden. Nach Detailstatistiken der Bundesärztekammer ist davon auszugehen, dass ca. 3600 Fachärztinnen/Fachärzte und 4500 Betriebsmedizinerinnen/Betriebsmediziner in der Versorgung aktiv sind. Die Teilnehmerzahlen der Akademien lassen die Schlussfolgerung zu, dass es derzeit rund 1000 Weiterzubildende gibt. Damit stehen Ende 2019 rund 9100 qualifizierte Ärztinnen/Ärzte zur Verfügung. Informationen über Vollzeit-/Teilzeitaktivitäten fehlen allerdings derzeit.
Die bisher von der Bundesärztekammer separat ausgewiesene Statistik zu „Ärztinnen und Ärzten mit arbeitsmedizinischer Fachkunde“ wird nicht weiter fortgeführt, da die relevanten Daten der regulären Ärztestatistik entnommen werden können.
Ad 2: Altersstruktur der Ärztinnen und Ärzte mit einer Qualifikation in der Arbeitsmedizin
In ➥ Abb. 2 ist die Altersstruktur von 11.361 Ärztinnen und Ärzten mit einer arbeitsmedizinischen Qualifikation im Jahr 2011 dargestellt. Hierbei zeigt sich, dass nur wenige Ärztinnen und Ärzte unterhalb von 40 Jahren
in der Statistik erwähnt werden und der überwiegende Anteil der Ärztinnen und Ärzte 65 Jahre und älter waren. Dies führte zum damaligen Zeitpunkt zu der vorbenannten Besorgnis, dass es zu einem gravierenden Abfall der aktiven Ärztinnen und Ärzte kommen könnte. ➥ Abbildung 3 zeigt die Altersstruktur der Ärztinnen und Ärzte mit einer arbeitsmedizinischen Qualifikation im Jahr 2017 (Quelle: Bundesärztekammer).
Den Abb. 2 und 3 ist zu entnehmen, dass die Altersverteilung in den sechs Jahren sich nicht wesentlich verändert hat. Bei dieser Interpretation ist zu berücksichtigen, dass arbeitsmedizinische Facharztqualifikation nicht selten erst in höherem Alter als zweiter Facharzt oder als zusätzliche Facharztqualifizierung im Rahmen des beruflichen Werdegangs erworben wird. In der Regel wird nach dem medizinischen Staatsexamen eine klinische Weiterbildung begonnen. Dies ist auch nach den Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern so vorgesehen und für die qualitative Entwicklung des Fachgebietes sinnvoll. Daher werden in der Arbeitsmedizin Berufsanfänger vor dem 30. Lebensjahr nur in Ausnahmefällen gesehen. Das Fachgebiet der Arbeitsmedizin ist charakterisiert und lebt auch von so genannten Quereinsteigern. Dies bringt nicht nur Besonderheiten in der Altersstruktur mit sich, sondern bereichert die fachliche Breite und die inhaltliche Facharztqualifikation im Fachgebiet Arbeitsmedizin, weil die Akteure über ein großes klinisches Wissen verfügen. Dies gilt besonders seit der Novellierung der (Muster-)Weiterbildungsordnung, denn neben der Inneren Medizin und der Allgemeinmedizin werden inzwischen auch andere für die Arbeitsmedizin wichtige Fachgebiete der unmittelbaren Patientenversorgung in der Weiterbildung anerkannt. Nicht zuletzt diese Novellierung der (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018 hat zu einem Nachfrageboom bei Weiterbildern geführt und lässt sich auch an den Akademien für Arbeitsmedizin nachweislich abbilden.
Ad 3: Teilnehmerzahlen in den Akademien für Arbeitsmedizin
Im Jahr 2018 wurden die arbeitsmedizinischen Akademien in Hamburg/Lübeck und im Jahr 2020 in Mainz neu gegründet, um den steigenden Bedarf an Kursplätzen decken zu können und lange Wartefristen zu vermindern.
Im Januar 2021 wurde eine Erhebung zu den Teilnehmerzahlen durch Prof. Harth in den neun Akademien durchgeführt. Dies bezog sich auf die Jahre 2020 und 2021. Die Gesamtzahl im Jahr 2020 schwankt zwischen 338 und 422. Im Jahr 2021 liegen die vorläufigen Zahlen der Anmeldungen bis März bereits zwischen 372 und 512 (für das Eingangsmodul 1). Hier ist ein Trend zu mehr Teilnehmenden eindeutig erkennbar (➥ Tabellen 1 und 2).
Diese Zahlen stellen eine sehr erfreuliche Entwicklung dar. An einzelnen Akademien existieren Wartelisten. Es ist daher durchaus möglich, dass die Akademien die Teilnehmerzahlen erhöhen oder weitere Akademien gegründet werden müssen, um den steigenden Bedarf zu decken.
Damit wird deutlich, dass die neue (Muster-)Weiterbildungsordnung (Ärztetag Erfurt 2018) mit ihren modernen Inhalten und vereinfachtem Zugang für Fächer der patientennahen Versorgung als auch der Verkürzung der Zusatz-Weiterbildung „Betriebsmedizin“ sowie das neue Kursbuch die Attraktivität der Arbeitsmedizin weiter gesteigert haben und noch werden.
Ad 4: Entwicklung der Zahlen der Facharztanerkennungen
Die Zahl der Facharztanerkennungen ist von 137 aus dem Jahr 2009 auf 233 im Jahre 2019 gestiegen (➥ Abb. 4). Dies ist eine Steigerung um 70 % und zeigt das große Interesse des Nachwuchses an der Arbeitsmedizin. Der Effekt der neuen (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018, der überwiegend in den Landesärztekammern 2020 umgesetzt wurden, kann sich hier noch nicht zeigen.
Für die Zusatz-Weiterbildung Betriebsmedizin liegen keine Daten vor. Hinzu kommt, dass der Erwerb der Zusatz-Weiterbildung nicht in allen Landesärztekammern möglich war.
Ad 5: Ergebnisse von Befragungen zur arbeitsmedizinischen Versorgung
Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) Dachevaluation
Der Abschlussbericht der GDA Dachevaluation (zweite Strategieperiode) weist auf unzureichende Betreuung kleinerer Betriebe durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärztinnen und -ärzte hin. Bei ca. 15.000 Betriebsbesichtigungen zeigte sich, dass 13 % der besichtigten Betriebe keine FaSi hatten und 28 % nicht betriebsärztlich betreut wurden. Leider stand die Umsetzung des Arbeitssicherheitsgesetzes nicht im Fokus der Betriebsbesichtigungen, denn oftmals fehlten Angaben zur Betreuung durch Sifas und Betriebsärztinnen und -ärzte. Bei einer zusätzlich für die Evaluation durchgeführten Betriebsbefragung gaben nur 48 % der Betriebe an, eine Fachkraft für Arbeitssicherheit bestellt zu haben, und 36 % gaben an, betriebsärztlich betreut zu werden.
DGAUM-Projekt „Gesund Arbeiten in Thüringen“
Im Rahmen des DGAUM-Projekts „Gesundes Arbeiten in Thüringen (GAIT)“ wurde ebenfalls die Versorgung durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit sowie Betriebsärztinnen und Betriebsärzte erhoben. Dabei wurde auch die Betriebsgröße besonders berücksichtigt. Bei Betrieben über 50 Beschäftigte gaben 90 % an, betriebsärztlich und 98 % durch eine Fachkraft für Arbeitssicherheit versorgt zu sein. Bei Kleinstbetrieben sind jedoch nur 32 % betriebsärztlich und 48 % durch eine Fachkraft für Arbeitssicherheit versorgt (1 bis 9 Beschäftigte).
Betriebsbefragung vor und in der COVID-19-Krise
Auf eine Anfrage im Deutschen Bundestag hat die Bundesregierung geantwortet, dass ca. 72 % der Beschäftigten arbeitsmedizinisch betreut werden, aber nur 40 % der Betriebe (Drucksache 19/10801 vom 11.06.2019). Auch dies weist darauf hin, dass die größten Defizite in der arbeitsmedizinischen Betreuung gerade in Kleinst- und Kleinbetrieben bestehen.
In einer aktuellen Betriebsbefragung, die in der Drucksache 19/25613 vom 23.12.2020 veröffentlicht wurde, ergab sich bei Kleinstbetrieben bis neun Beschäftigte eine Versorgung von 34 % durch eine Betriebsärztin/einen Betriebsarzt bzw. Sicherheitsfachkraft.
Da bei den oben genannten Befragungen von Arbeitgebenden das Antwortverhalten einem Bias unterliegen kann (u. a. mangelnde Repräsentativität der Stichprobe, Recall Bias etc.), sind ergänzend die Ergebnisse der Erwerbstätigen Befragung im Rahmen der repräsentativen liDA-Studie von Interesse (➥ Abb. 5). Hier wurden 3039 repräsentativ ausgewählte Erwerbstätige nach ihrer betriebsärztlichen Betreuung gefragt. 62,1 % der Befragten berichteten, dass ihr Betrieb über eine Betriebsärztin/einen Betriebsarzt verfügt. 24,6 % hatten in den letzten zwölf Monaten Kontakt, 16,7 % in den letzten 2 bis 3 Jahren und 10,8 % vor mehr als drei Jahren. Nur 9,8 % berichteten, noch gar keinen Kontakt mit der Betriebsärztin/dem Betriebsarzt gehabt zu haben. Bedauerlicherweise wurden in dieser Erhebung keine Informationen zur Betriebsgröße erfragt. Dies ist erst bei der nächsten Fragerunde geplant (Hasselhorn et al 2020).
Fazit zur Evaluation der IST-Situation
Insgesamt ist anhand der verfügbaren Daten festzustellen, dass bei Klein- und Kleinstbetrieben sowohl eine Unterversorgung durch Arbeitsmedizinerinnen/Arbeitsmediziner als auch durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit konsistent belegt ist. Dies lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass die Bedeutung des Arbeitsschutzes in Klein- und Kleinstbetrieben nicht ausreichend bekannt ist bzw. gewürdigt wird. Die personelle Schwächung der staatlichen Aufsichtsbehörden (Gewerbeaufsichtsämter) lässt keine effektive Überwachung des Arbeitsschutzes gerade in Klein- und Kleinstbetrieben zu. Im Jahr 2003 betrug die Anzahl der Gewerbeärztinnen und Gewerbeärzte im Bundesgebiet 147 (SUGA 2005) und im Jahr 2019 61 (SUGA 2019). Es fehlt eine systematische und kontinuierliche Begleitung der Klein- und Kleinstbetriebe. Dies kann von den Berufsgenossenschaften bei der großen Zahl und auch dem großen Wechsel an Klein- und Kleinstbetrieben nicht ausgeglichen werden.
Die verfügbaren, begrenzt belastbaren Daten erlauben die Einschätzung, dass Ende 2019 wahrscheinlich ca. 9100 arbeits- oder betriebsmedizinisch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung standen. Informationen über Vollzeit-/Teilzeitaktivitäten fehlen
allerdings derzeit. Ein weiterhin zunehmender Bedarf an arbeitsmedizinischer Expertise in den kommenden Jahren ist absehbar. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass die Absolventenzahlen der Facharztprüfungen und die Teilnehmerzahlen an den Grundlagenkursen der Akademien für Arbeitsmedizin seit 2009 erheblich steigen.
Perspektiven/Konzept für ein kontinuierliches Monitoring
Bisher fehlt ein umfassendes und kontinuierliches Monitoring sowohl des arbeitsmedizinischen Versorgungsbedarfs als auch der betriebsärztlichen Versorgungsrealität. Ein überzeugendes Controlling-Konzept der UV-Träger gibt es nach unserer Einschätzung ebenso nicht.
Inhalte eines solchen Monitoring-/Evaluationsprozesses müssen die zahlenmäßige Entwicklung der in diesem Bereich tätigen Berufsgruppen, die Versorgungssituation der Unternehmen, besonders der Klein- und Kleinstunternehmen sein. Dabei ist auch der Einsatz neuer Versorgungsmöglichkeiten (eHealth) zu berücksichtigen.
Ein solches Konzept für ein kontinuierliches Monitoring ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Unfallversicherungsträgern, Bundesärztekammer und Landesärztekammern, der Wissenschaftlichen Fachgesellschaft und der Berufsverbände. Durch enge Konsultation wird ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess gewährleistet.
Optimierung der Datengrundlage für eine kontinuierliche Evaluation und Monitoring
Notwendig sind gezielte Abfragen zum Umfang der Tätigkeit (Teilzeit, Vollzeit). Die große Zahl der weiterzubildenden Ärztinnen und Ärzte sollte erfasst werden. Einzelne Berufsgenossenschaften erfragen die Zahl der bestellten Betriebsärztinnen und Betriebsärzte bei der Abfrage der Beitragsbescheide. Dies sollte systematisch im gesamten Bereich der UV-Träger erfolgen und zur Verfügung gestellt werden.
Konzept für ein kontinuierliches Monitoring
Phase 1
Im Rahmen eines kontinuierlichen Monitorings der betriebsärztlichen Versorgungssituation sollten folgende Parameter einmal jährlich erhoben und in einem Monitoringbericht zusammenfassend dargestellt werden:
Auf der Grundlage der vorgenannten Parameter wird in einem jährlichen Monitoringbericht, der durch DGAUM und VDBW
gemeinsam erstellt und mit BÄK, BMAS, DGUV und BAUA diskutiert wird, die Datenbasis weiterentwickelt und auf der Homepage der BÄK, der Fachgesellschaft und der Verbände veröffentlicht.
Vorschlag an die Unfallversicherungsträger
In einzelnen Berufsgenossenschaften sind positive Erfahrungen gesammelt worden, bei den Beitragsbescheiden eine Abfrage zu den gestellten Sifas bzw. Betriebsärztinnen/Betriebsärzten durchzuführen. Dies würde eine weitere wichtige Datenbasis darstellen.
Phase 2 (2022+)
Bei der Evaluation der Versorgungssituation sind nicht nur die reinen Zahlen des Angebots und der Nachfrage von Interesse, sondern auch die Ermittlung der Gründe, warum zum Beispiel Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber vorgeblich keine Betriebsärztinnen oder Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit finden können. Darüber hinaus ist es bedeutsam, neben quantitativen Aspekten der Versorgung auch Konzepte zu einem Monitoring der Qualität perspektivisch zu entwickeln. Dies sollte dann alle Ebenen der Qualitätssicherung mit Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität beinhalten. Solche Projekte sind allerdings nicht aus Eigenmitteln der beteiligten Institutionen durchzuführen, sondern bedürfen einer nachhaltigen Forschungsförderung.
Zukünftige Ansätze zur Verbesserung der Versorgungssituation sollten prioritär bei Klein- und Kleinstbetrieben ansetzen. Mögliche Lösungsansätze könnten hier zum Beispiel das in Pilotprojekten bereits erprobte Zentrumsmodell, eine Ausweitung des Unternehmermodells nach Analyse der Effektivität und auch telemedizinische Betreuungsoptionen sein. Wichtig ist, dass Modellversuche mit diesen Betreuungsoptionen unabhängig wissenschaftlich im Rahmen von geförderten Drittmittelprojekten evaluiert werden.
Überlegungen zum Zentrumsmodell
Ein Lösungsmodell für die Versorgung von Klein- und Kleinstbetrieben könnten branchenübergreifende, regionale Zentren sowohl zur betriebsärztlichen als auch sicherheitstechnischen Versorgung von Klein- und Kleinstbetrieben mit bis zu 49 Beschäftigten darstellen. Träger dieser Zentren könnten sowohl die Industrie- und Handelskammern, Arbeitgeberverbände, Kreishandwerkschaften, Innungen, Unfallversicherungsträger, oder andere sein. Wichtig erscheint dabei, dass alle Branchen in dieser Region damit versorgt werden. In diesen Zentren kann es unterschiedlichste Arbeitssituationen für Betriebsärztinnen/Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte geben, sowohl haupt- oder nebenberuflich, Voll- oder Teilzeit, aus einem angestellten Verhältnis heraus oder neben einer anderen freiberuflichen ärztlichen Tätigkeit. Die Honorare bzw. die Gehälter werden marktüblich ausgestaltet, der bürokratische Aufwand sowohl der Betriebe als auch der Betriebsärztinnen/Betriebsärzte bzw. Sicherheitsfachkräfte vermindert sich. Der Hemmschuh der betriebsärztlichen Betreuung vieler Kleinbetriebe mit 2 oder 3 Beschäftigten würde damit wegfallen, da keine einzelnen Verträge mit den Unternehmen geschlossen werden, sondern nur ein Vertrag mit dem Zentrum.
Betriebe, die keine betriebsärztliche Versorgung nachweisen können, erhalten ein Angebot für die Versorgung in einem regionalen Zentrum. Falls dieses Angebot nicht angenommen wird, können die Betriebe dazu verpflichtet werden, es sei denn, sie können eine gleichwertige Betreuung nachweisen.
Dieser Nachweis ist jährlich zu erbringen. Die Zentren sollten in der Lage sein, sowohl die arbeitsmedizinische als auch die sicherheitstechnische Versorgung vor Ort anbieten zu können. Voraussetzung für eine gute Versorgung sind klare und identische Qualitätskriterien und Rahmenbedingungen für die Zentren verschiedener Träger.
Überlegungen zum Unternehmermodell
Die Zahl der Beschäftigten, die die Nutzung des Unternehmermodells erlaubt, ist bei den einzelnen Unfallversicherungsträgern nicht einheitlich geregelt. Eine qualitativ hochwertige und wiederholte Schulung der Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Unterstützung bei der bedarfsorientierten Hinzuziehung betriebsärztlicher und sicherheitstechnischer Kompetenz ist essenziell. Bevor an eine Ausweitung des Unternehmermodells zu denken ist, sollte eine qualitative Prüfung erfolgen. Wesentliche Parameter dabei sind: Wird Vorsorge nach der ArbMedVV den Beschäftigten angeboten bzw. durchgeführt? Wird Wunschvorsorge ermöglicht? Kennen die die Vorsorge durchführenden Ärztinnen und Ärzte die Arbeitsplätze? Jeder Arbeitnehmende hat nach dem Arbeitsschutzgesetz die Möglichkeit, sich arbeitsmedizinisch beraten zu lassen. Daher ist sicherzustellen, dass in diesen Unternehmermodellen Betriebsärztinnen und Betriebsärzte mit niedriger Zugangsschwelle als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und dieses den Beschäftigten bekannt sein muss. Dies scheint nach den bisherigen Erfahrungen nicht ausreichend umgesetzt zu sein.
Überlegungen zur Telemedizin
Die Telemedizin entwickelt sich in der Medizin insgesamt positiv. Während der Corona-Pandemie wurden verstärkt telemedizinischen Methoden bei Arzt-Patienten-Kontakten zugelassen und genutzt. Gleiches gilt auch für die Durchführung der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Wir sehen hier Möglichkeiten zur Nutzung solcher Kommunikationsmöglichkeit bei der arbeitsmedizinischen Beratung von Unternehmen und Beschäftigten gemäß ASiG. So kann zum Beispiel eine Arbeitsschutzausschuss-Sitzung auch als Videokonferenz abgehalten werden.
Aufwändige Wegezeiten können teilweise entfallen; dies kann gerade in der Fläche ein wesentlicher Vorteil sein. Allerdings müssen Arbeitsmedizinerinnen/-mediziner, die die arbeitsmedizinische Vorsorge wahrnehmen, die Arbeitsplätze kennen und an der Gefährdungsbeurteilung mitwirken. Beides setzt auch zukünftig wenigstens teilweise die Präsenz in den Betrieben voraus. Deshalb ist die Festlegung von Qualitätsanforderungen an die Telearbeitsmedizin – z.B. durch eine AMR „Telearbeitsmedizin“ – und eine effektive Überwachung der auf diese Betreuungsform spezialisierten Anbieter notwendig.
Evaluation
Die drei geschilderten Ansätze für Versorgungsperspektiven könnten im Rahmen von Projekten der arbeitsmedizinischen Versorgungsforschung wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Dazu ist eine solide Finanzierung unabhängiger Einrichtungen einerseits empfehlenswert und die Unterstützung durch BÄK, BMAS, DGUV, BAUA, DGAUM und VdBW andererseits wünschenswert.