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Cannabis and Driving Ability
Einleitung
Cannabis war in vielen Hochkulturen der Welt bereits vor tausenden von Jahren als Kulturpflanze bekannt. Erfahrungen mit Cannabis als Heilpflanze wurden schon früh gemacht – Wunden von Kriegern wurden mit Hanfblättern abgedeckt, Cannabis kam zum Einsatz gegen Gicht und Geistesabwesenheit. Die berauschende Wirkung von Teilen der weiblichen Cannabis-Pflanze war damals wie heute beliebt: Laut Wikipedia nutzten konservativ geschätzt 2019 ca. 200 Millionen Menschen weltweit Cannabis als Rauschmittel.
Zentralnervöse Effekte wie eine verminderte Konzentrationsleistung, eine verlangsamte Reaktionszeit, eine eingeschränkte Koordinationsfähigkeit oder eine reduzierte Aufmerksamkeit können die Fahrleistung beeinträchtigen und das Unfallrisiko steigern.
Um diese Risiken zutreffend einordnen zu können, sind mehrere Aspekte wichtig.
Kontext
Der Kontext einer Fahrtätigkeit muss berücksichtigt werden – handelt es sich um eine private oder berufliche Fahrtätigkeit, einen innerbetrieblichen oder außerbetrieblichen Verkehr? Wie dicht sind die Verkehre beispielsweise innerbetrieblich gestaltet, gibt es zusätzliche Gefährdungen? Gibt es für außerbetriebliche Verkehre gesetzliche Regelungen für den Verkehr auf der Straße, der Schiene, für die Luft- und Wasserfahrt, die einen Bewertungsmaßstab definieren?
Auch der Kontext der Einnahme spielt eine Rolle: Handelt es sich um gelegentlichen oder dauerhaften Gebrauch, um einen Freizeitkonsum oder den medizinisch verordneten Einsatz von Cannabis? Und welche Wirkkomponente ist aktiv?
Therapeutisch verwendetes Cannabis
Unter Medizinal-Cannabis werden Zubereitungen aus Inhaltsstoffen der Hanfpflanze Cannabis Sativa L. zusammengefasst.
Cannabinoide sind die für die pharmakologische Wirkung verantwortlichen Inhaltsstoffe, mehr als 100 sind bekannt. Hierzu gehören:
Die Wirkung der Cannabinoide wird im körpereigenen Cannabinoid-System über entsprechende zentrale und periphere Rezeptoren (CB 1 und CB 2) vermittelt.
Entscheidend für die Beurteilung der Fahrtauglichkeit ist die Betrachtung der Wirkkomponenten (s. die beispielhafte, nicht vollständige Aufstellung in ➥ Tabelle 1).
Erfahrungen aus der Begleiterhebung von Medizinal-Cannabis
Die Zulassung von Cannabis als Medikament erfolgte 2017 unter strengen Voraussetzungen (geregelt in § 31 Absatz 6 SGB V): Cannabis darf als sogenanntes „Ultima-ratio“-Medikament bei Patientinnen und Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen eingesetzt werden, das heißt, eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität muss dokumentiert sein. Ultima ratio bedeutet, es gibt keine Alternativen oder diese Alternativen sind bei Abwägung von Wirkungen und Nebenwirkungen abzulehnen (s. auch Betäubungsmittelgesetz [BtMG] § 13).
Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht weiterhin nur, wenn „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf oder schwerwiegende Symptome besteht.“
Die Patientin oder der Patient muss vor einer Erstverordnung die Genehmigung der Krankenkasse einholen; nur in begründeten Ausnahmefällen ist eine Ablehnung möglich.
Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, die Entwicklung der therapeutischen Verordnungen zu betrachten. Eine Begleiterhebung war gemäß Cannabis-Begleitverordnung CanBV bis 2023 verpflichtend; die Daten aus dieser Erhebung stehen seit 07/2022 über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM) zur Verfügung und zeigen Erkenntnisse aus der Art der Verordnungen, Darreichungsformen, bezogen auf Indikationen und Patientenkollektive. Rückmeldungen im Rahmen dieser Begleitverordnung wurden überwiegend von Schmerztherapeutinnen und -therapeuten gemeldet, die Daten der Krankenkassen zeigen allerdings einen hohen Verordnungsanteil seitens der Hausärztinnen und Hausärzte – ein Delta hinsichtlich Rückmeldungen ist daher anzunehmen.
Überwiegend wurde Medizinal-Cannabis im Beobachtungszeitraum durch die meldenden Ärztinnen und Ärzte vor allem zur Behandlung von chronischen und neuropathischen Schmerzen eingesetzt, gelegentlich zur Behandlung einer Spastik oder von erkrankungs- oder therapiebedingter Anorexie/Wasting (➥ Abb. 1).
Wer nimmt was? Die Betrachtung der Daten aus der Erhebung zeigt: Cannabisblüten zur Inhalation kommen vorwiegend bei jüngeren Männern zum Einsatz – über zwei Dritten der Konsumierenden waren männlich mit einem Durchschnittsalter von 45,5 Jahren (➥ Abb. 2a). Die mit Cannabisarzneimitteln behandelten Personen hingegen waren in höherem Alter und vorwiegend weiblich (➥ Abb. 2b).
Die mittlere Tagesdosis von THC bei der Verordnung von Blüten ist mehr als zehnmal so hoch wie bei der Einnahme von Cannabisarzneimitteln.
Wesentlich ist hier: Das Kollektiv in der arbeitsmedizinischen Praxis in Bezug auf Fahrtätigkeiten ist überwiegend männlich und jünger als 60 Jahre.
Neben medizinischem ist der Freizeitnutzen von Cannabis weit verbreitet. Zu den grundsätzlichen Gefahren und Nebenwirkungen gibt es widerstreitende Studien. Aus dem vom Bundesgesundheitsministerium beauftragten und zwischen 2015 und 2017 durchgeführten CAPRis1-Review (Hoch et al. 2019) sollen hier stichwortartig einige genannt werden.
Die grundsätzlich möglichen Nebenwirkungen umfassen: Schwindel, Müdigkeit und psychotrope Effekte, die die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen betreffen. Es kann zu Gleichgewichts-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen kommen, zu Desorientierung, Sehproblemen, Verdauungsbeschwerden, Herz-Kreislauf-Störungen sowie Leber- und Nierenfunktionsstörungen.
Hinsichtlich diverser langfristiger Folgen zeigen große Meta-Analysen, dass die Häufigkeit psychotischer Störungen auch bei gelegentlichem Konsum um das 1,4- bis 2,0fache, bei hoher Konsumintensität um das 2,0- bis 3,4fache erhöht ist. Die Studien-
lage bezüglich kognitiver Defizite unklar: Insbesondere bei Konsumbeginn in der Adoleszenz finden sich in Einzelstudien Hinweise auf kognitive Einschränkungen, die auch noch nach längerer Abstinenz von Cannabis vorliegen (> 1 Monat).
Die zu berücksichtigenden Wechselwirkungen umfassen beispielsweise Alkohol, Tranquilizer oder andere sedierend wirkende Medikamente.
Kontraindikationen für den Einsatz von medizinischem Cannabis sind folgerichtig Suchterkrankungen, schwere Persönlichkeitsstörungen und Psychosen, schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nieren- und Leberfunktionsstörungen.
Wie sind diese Informationen hinsichtlich einer beruflichen Fahrtätigkeit zu bewerten?
Für innerbetriebliche Fahrtätigkeiten geben die neuen Empfehlungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) klare Hinweise darauf, dass sowohl Drogenabhängigkeit oder andere Suchtformen als auch erhebliche Auswirkungen einer
Dauerbehandlung mit Medikamenten besondere Relevanz für die Beurteilung haben.
Bezüglich außerbetrieblicher Fahrtätigkeiten regeln die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen dieses unterschiedlich detailliert bis hin zu § 4a des Luftverkehrsgesetzes, in dem explizit das Führen eines Luftfahrzeugs „unter Einfluss von [...] psychoaktiven Substanzen untersagt“ ist. Im Rahmen der Fahrerlaubnis-Verordnung (FEV) wiederum ist ein Grenzwert von 1 ng/ml THC festgelegt, bei dessen Überschreitung eine Ordnungswidrigkeit besteht. In jedem Fall wird bei Patientinnen und Patienten das sogenannte Trennungsvermögen zwischen Einnahme und Fahren voraussetzt: Es wird bei einem Gebrauch von medizinischem Cannabis analog beispielsweise zu einer Behandlung mit Z-Substanzen (Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon) erwartet, dass dieser die Medikamentenwirkung hinsichtlich ihrer sedierenden Wirkung korrekt einschätzen kann.
Spezifisch verkehrsmedizinische Fragestellungen
Eine Dauermedikation mit Cannabismedikamenten oder der Verschreibung von Cannabisblüten auf BtM-Rezept wird Eignungsbedenken auslösen, denn die Verordnung findet üblicherweise nur aufgrund einer schweren Erkrankung statt: Das Ausmaß der hierdurch ausgelösten Leistungseinschränkung, Art, Schwere, Verlauf und Behandlung (auch dessen Erfolg und die Compliance) müssen berücksichtigt werden. Ebenso sind Kompensationsmöglichkeiten zu betrachten und gegebenenfalls assoziierte weitere Risikofaktoren.
Erwartbar ist, dass im betriebsärztlichen Umfeld zunehmend Mischformen aus Medikation mit illegalem Cannabisbezug oder einer ärztlich begleiteten Selbsttherapie auf Basis einer Ausnahmegenehmigung zu beurteilen sind.
Es gilt grundsätzlich, dass die Verordnenden eine Aufklärungspflicht hinsichtlich der Fahrtüchtigkeit haben. Diese gilt in besonderem Maß für die Verordnung von Cannabisblüten, da es kein formelles Zulassungsverfahren für diese und daher auch keine Aufklärung durch den sogenannten Beipackzettel gibt. Das Thema Fahrunsicherheit zum Beispiel während einer Einstellungsphase der Therapie sollte thematisiert worden sein.
Erhöhte Eignungsbedenken werden bestehen bei einer Cannabis-Vorerfahrung entweder im Rahmen einer Eigentherapie in der Krankheitsvorgeschichte oder mit einer Missbrauchsvorgeschichte – ein deutlicher Einfluss auf die Konsummotivation und Wirkungserwartung kann angenommen werden.
Für die Eignungsbeurteilung kommt es auf die Leistungsfähigkeit an unter Berücksichtigung von …
Die Handlungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) zur Fahreignungsbegutachtung von 2018 (Brenner-Hartmann et al. 2018) bieten hier wertvolle Unterstützung.
Besondere Aufmerksamkeit gilt bei den im Infokasten aufgeführten Red Flags.
Ein strukturiertes Vorgehen in der Beurteilung der Fahrtauglichkeit unter Cannabis hat sich bewährt, um die Risiken einzugrenzen:
Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass sie in den vergangenen drei Jahren Vortragshonorare von der RG Gesellschaft für Information und Organisation mbH (Ärztefortbildung, Vortragsveranstaltung DGAUM) und vom VdBW erhalten hat.
Literatur
Brenner-Hartmann J, Graw M, Mußhoff F, Löhr-Schwaab S, Hoffmann-Born H, Wagner T, Seidl J: Fahreignungsbegutachtung bei Cannabismedikation – Handlungsempfehlungen der Ständigen Arbeitsgruppe Beurteilungskriterien der DGVP und DGVM – StAB. Blutalkohol 2018; 55: 24–36; Download Paper der Fachgesellschaften (Open Access: http://www.dgvp-verkehrspsychologie.de/handlungsempfehlung-cannabismedi…).
Grotenhermen F, Göttsche M: Cannabissorten in Deutschland und ihre Inhaltsstoffe. Letztes Update: 07.02.2019 (Open Access: https://www.arbeitsgemeinschaft-cannabis-medizin.de/wp-content/uploads/…).
Hoch E, Schneider M: Cannabis: Potential und Risiken. Eine wissenschaftliche Analyse (CaPRis). Kurzbericht. 2019 (Open Access: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publika…).
Pogarell O, Fahrmbacher-Lutz C, Bayer T, Tretter F, Erbas B: Medizinisches Cannabis – eine praxisbezogene Hilfestellung (Stand 23.08.2022). München: Bayerische Akademie für Suchtfragen in Forschung und Praxis BAS e. V., 2022 München (Open Access: https://www.bas-muenchen.de/fileadmin/documents/pdf/Publikationen/Papie…).
doi:10.17147/asu-1-316849
Weitere Infos
BfArM – Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Abschlussbericht der Begleiterhebung nach §31 Absatz 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln. 2022
https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bundesopiumstelle/Cannabis…
onkopedia: Medizinischer Cannabis und Cannabinoide
https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/medizinischer-cannabis-und-ca…
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie e.V. DGVP zur Frage der Cannabislegalisierung, Fastenmeier W, Söllner M. 2023
https://www.dgvp-verkehrspsychologie.de/wp-content/uploads/2023/07/Empf…