Menschen mit Beeinträchtigungen steht auf der einen Seite eine breite Palette an Unterstützungsmöglichkeiten zu Verfügung. Auf der anderen Seite ist das sie betreffende Recht stark gegliedert – auch das Bundesteilhabegesetz ändert daran nichts. Fast alle Leistungen werden von mehreren Leistungsträgern angeboten – welcher Träger letztlich zuständig ist, hängt von den Bedingungen des Einzelfalls ab. Wie schwierig es für Menschen mit Behinderung – und sofern es um das Arbeitsleben geht, zusätzlich deren Arbeitgebenden – ist, sich im komplexen Hilfesystem zurechtzufinden, ist leicht nachvollziehbar.
Passgenauigkeit der Leistungen
Zur Deckung von Unterstützungsbedarf kommt es nicht allein auf die Bereitstellung von einzelnen Leistungen an, sondern auf
Dafür ist es unverzichtbar, sich im Sinne von Personenzentrierung und unter Beachtung des biopsychosozialen Modells auf die Situation der Menschen mit Beeinträchtigungen einzulassen. Das heißt, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erkennen, ihre Lebenssituationen zu erfassen, auf dieser Basis ihre Bedarfe individuell zu ermitteln und die Hilfen flexibel auszugestalten. Das geht nur über Beratung: „Eine gute Beratung beginnt mit der Haltung des Beraters. Als Mensch mit Behinderung möchte ich mich angenommen fühlen und in erster Linie als Mensch wahrgenommen werden. Ich möchte, dass ich mit meinen individuellen Wünschen, Bedürfnissen und Erfordernissen ernst genommen werde“ – sagt Janine Kolbig bei der Fachtagung der BAR „Beratung der Reha-Träger trifft ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“.
Beratung im Reha- und Teilhaberecht
Im aktuellen Reha- und Teilhaberecht bekommt Beratung nicht nur ein anderes Gewicht, sondern auch andere Strukturen. Im Bundesteilhabegesetz (BTHG), das zum 01.01.2017 in Kraft getreten ist, finden sich zahlreiche Regelungen, die Beratung konkretisieren – als Anspruch des Leistungsberechtigten und als Pflicht der Akteure.
Die Bedeutung von Beratung wird gestärkt und die neuen Regelungen umfassen zahlreiche Informations-, Kontakt-, Beteiligungs- und Beratungspflichten. Damit werden die allgemeinen Pflichten der Reha-Träger zur Aufklärung, Beratung und Auskunft deutlich erweitert und die Ansprüche der Leistungsberechtigten auf Beratung gestärkt. Teilhabeorientierung erfordert eine umfassende und über die eigenen Leistungsgrenzen hinausgehende Beratung als Aufgabe aller Reha-Träger.
Mit dem novellierten Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) verändert sich auch die Beratungslandschaft:
Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung
Anliegen des Gesetzgebers ist es, den Leistungsberechtigten eine Wahrnehmung ihrer Rechte auf Augenhöhe zu ermöglichen. Dafür wird ein weiteres Informations- und Beratungsangebot etabliert.
Das BTHG normiert Beratungsstellen, die von Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängig sind: Ab 2018 wird eine ergänzende unabhängige Teilhabeberatung eingeführt. Die Teilhabeberatung soll bereits im Vorfeld der Beantragung konkreter Leistungen zur Verfügung stehen und über Rehabilitations- und Teilhabeleistungen nach dem SGB IX informieren und beraten. Sie ergänzt die Beratung durch die Leistungsträger. Im Sinne einer Peer-Beratung soll es möglichst auch eine Beratung von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung geben. Das neue Angebot ergänzt die bestehenden Beratungsangebote und Beratungsstrukturen, es darf nicht im Widerspruch zur gesetzlichen Beratungs- und Unterstützungspflicht stehen.
Teilhabeberatung im Reha-Prozess – Anforderungen an Reha-Beratende
Beratung, die den Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt stellt und sich als ganzheitliche, trägerunabhängige und trägerübergreifende Beratung versteht, stellt sowohl an die Kompetenz als auch an die Motivation der Beratenden hohe Anforderungen.
Die Beraterinnen und Berater bei den Reha-Trägern haben einen umfassenden Beratungsauftrag und folgende Aufgaben:
Für Menschen mit Behinderung ist es keine gute Beratung, wenn ein Reha-Träger nur bis zu den Grenzen der eigenen Zuständigkeit berät. Ebenso besteht die Aufgabe der Reha-Berater nicht allein in einer rechtssicheren Entscheidung. Vielmehr erfordert der Prozess des Reha-Managements ein hohes Maß an Prozessteuerung, Planung und Kommunikation. Wenn im Fokus der Reha-Bedarf in seiner Gesamtheit steht, dann darf der Blick nicht begrenzt sein auf die Anwendung des jeweiligen Leistungsgesetzes eines Trägers.
Standards für Beratung
Personenzentrierte, individuelle Beratung heißt bei weitem nicht immer neu und immer anders.
Mit ihrem Handlungsleitfaden zum Reha-Management hat zum Beispiel die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung bereits in 2010 und überarbeitet in 2014 Standards gesetzt, die auch das Feld der Beratung umfassen. Auf Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) und als fachliche Grundlage für ihre Beratungsfachkräfte haben die Reha-Träger in 2015 gemeinsam mit Verbänden behinderter Menschen und weiteren Organisationen trägerübergreifende Beratungsstandards erarbeitet: „Trägerübergreifende Beratungsstandards. Handlungsempfehlungen zur Sicherstellung guter Beratung in der Rehabilitation.“ Diese Standards beziehen sich auf die Beratung durch Reha-Träger.
In Diskussionen geht es oftmals um die Frage: Stehen Standards nicht der geforderten Individualisierung entgegen? Es verhält sich eher umgekehrt: Standards heben individuelle Beratung nicht auf – individuelle Beratung ist ein Standard. Standards stehen dann dem Eingehen auf die individuelle Situation nicht entgegen, wenn sie – ihrem Zweck folgend – definieren, „was“ zu beachten und zu berücksichtigen ist. Für das „Wie“ braucht es die individuellen Angaben und hierbei geht es dann um
Standards bieten auch Verlässlichkeit, die noch aus einem anderen Grund notwendig ist: Denn auch auf ratsuchende Menschen mit Beeinträchtigung kommt Neues zu: Ihnen werden Angebote gemacht – sie zu nutzen ist letztlich die freie Entscheidung eines jeden. Das gilt auch für die Bereitschaft, an der Gestaltung der eigenen Reha mizuwirken und in die Beratung die Angaben und Informationen einzubringen, die für die Teilhabe von Relevanz sind (➥ Abb. 1).
Mehrwerte von guter Beratung
Beratung im Reha-Prozess ist kein Selbstzweck – Teilhabe erfordert Beratung. Von guter Beratung profitieren alle, denn gute Beratung erzeugt Mehrwerte. Der Mehrwert für Menschen mit Behinderung ist ihre individuelle, bestmögliche Teilhabe. Der Mehrwert für den Reha-Träger sind Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit: Leistungen, die ihre Wirkung erzielen, sind „gut angelegtes Geld“. Mehrwerte für das System sind erreicht, wenn Menschen wieder bestmöglich teilhaben können, wenn beispielsweise Menschen durch Ausbildung, Umschulung oder Wiedereingliederung ins Arbeitsleben kommen oder zurückkommen und – sofern es eine Rückkehr in der allgemeinen Arbeitsmarkt ist – Beiträge in das System der Sozialversicherung zahlen.
Ausblick
Mit seinen verbindlichen trägerübergreifenden Vorschriften führt das BTHG neue Beratungsstrukturen ein und formuliert anspruchsvolle Anforderungen. Eine Vorschrift ist das Eine – ihre Anwendung ist das Andere. Die Umsetzung der neuen Vorschriften erfordert an vielen Stellen auch ein Umdenken, einen Perspektivwechsel. Erst durch den Transfer in die Praxis wird die für eine erfolgreiche Rehabilitation und Teilhabe notwendige Qualität entstehen.▪
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.