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Hohes Niveau asbestassoziierter Todesfälle: Früherkennungsprogramme und ihre ambivalente Wirkung

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High levels of asbestos-related deaths: Early detection programs and their ambivalent effects (Interview)

The number of asbestos-related deaths due to occupational diseases remains high. The German Social Accident Insurance (DGUV) reported 1520, 1623, and 1328 fatalities in 2020, 2021, and 2022, respectively. To address this, occupational associations offer early detection programs. Since 1973, preventive medical check-ups have been carried out for employees formerly exposed to asbestos as part of secondary prevention. However, anxiety and uncertainty about the disease can deter individuals from participating, impacting the program’s effectiveness.

Hohes Niveau asbestassoziierter Todesfälle: Früherkennungsprogramme und ihre ambivalente Wirkung (Interview)

Die Zahl der asbestassoziierten Todesfälle infolge von Berufskrankheiten bleibt hoch: In den Jahren 2020 bis 2022 verzeichnete die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) 1520, 1623 und 1328 Todesfälle. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, bieten Berufsgenossenschaften Früherkennungsprogramme an, die die rechtzeitige Identifizierung und Behandlung berufsbedingter Erkrankungen ermöglichen sollen. Seit 1973 werden im Rahmen der Sekundärprävention Vorsorgeuntersuchungen für ehemals asbestexponierte Mitarbeitende durchgeführt. Die Ungewissheit und die Angst vor einer Erkrankung können zu Vermeidungsverhalten und einer Verstärkung der Angst führen. Diese psychischen Belastungen sind ein oft unterschätzter Faktor, der den Erfolg von Früherkennungsprogrammen beeinflusst.

Die Einführung von Früherkennungsprogrammen in der Arbeitsmedizin stellt ein komplexes Thema dar, das sowohl positive als auch negative Aspekte beinhaltet. Einerseits bieten diese Programme die Chance, berufsbedingte Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, was die Heilungschancen und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern kann. Andererseits können die Programme für die Betroffenen eine belastende Erfahrung darstellen. Die Ungewissheit über den Krankheitsverlauf, die Konfrontation mit der potenziellen Bedrohung, die Belastung durch die Untersuchungen selbst und die Angst vor einer Erkrankung können zu emotionalen Beanspruchungsreaktionen führen. Diese können wiederum Vermeidungsverhalten, verstärkte Selbstbeobachtung und Angstintensivierung nach sich ziehen. Diese psychischen Beanspruchungen sind ein unterschätzter Faktor, der aber für den Erfolg der Programme mitverantwortlich ist.

Die psychische Beanspruchung wurde bisher in nur wenigen Studien untersucht. Diese Studien belegen, dass die Asbestexposition mit einer erhöhten Belastung und einem veränderten Risikoprofil für psychische Beeinträchtigungen verbunden ist. Frühere Forschung an asbestexponierten Arbeitern zeigen eine stärkere Stressreaktion auf akute Stressoren und eine verringerte Stresstoleranz im Vergleich zu nicht exponierten Kontrollgruppen (Lebovits et al. 1988). Das Wissen um die chronische Gefahrstoffexposition kann die Fähigkeit reduzieren, mit akutem Stress umzugehen. Interessanterweise zeigen Studien keine vermehrte Tendenz zu gesundheitsfördernden Verhaltensweisen bei asbestexponierten Personen, obwohl sie ein deutlich höheres Risiko für eine Asbesterkrankung haben (Lebovits et al. 1986). Stattdessen neigen Betroffene dazu, ihre Gesundheit als von externen Faktoren (z. B. Glück, Zufall) bestimmt anzusehen und sehen daher weniger Handlungsbedarf (Lebovits u. Strain 1990). Diese externe Attribuierung von Gesundheitsursachen kann zu einem fehlenden psychologischen Anpassungsprozess führen und emotionale Stresszustände wie Depressionen und Angstzustände hervorrufen (vgl. ICD-10 F43.2; Dilling et al. 1993). Tatsächlich zeigen Studien eine erhöhte Prävalenzrate für Symptome von Depressionen (9,9 %) und Angstzuständen (19,7 %) bei pensionierten Asbestarbeitern (Mounchetrou Njoya et al. 2017). Neben den möglichen psychischen Folgen der wahrgenommenen Gesundheitsbedrohung können auch tatsächlich erlebte gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie nicht-maligne asbestbedingte Veränderungen der Lunge oder des Rippenfells, mit funktionellen Beeinträchtigungen der Lunge und psychischen Beeinträchtigungen einhergehen (Wolff et al. 2014). Studien zu Lungenerkrankungen mit ähnlichen Symptomen wie chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) oder idiopathische Lungenfibrose (IPF) berichten ebenfalls über Zusammenhänge mit verminderter psychischer Gesundheit. Bei COPD-Erkrankten liegen die Prävalenzraten für Depressionen zwischen 7 % und 32 %, für Angststörungen sogar zwischen 13 % und 55 % (Maurer et al. 2008). Ähnlich hohe Prävalenzraten finden sich auch bei IPF-Patienten (Matsuda et al. 2017).

ASU: Frau Professor Lang, Sie sind der Frage nachgegangen, inwieweit auf der einen Seite das Wissen um ein erhöhtes Gesundheitsrisiko durch Asbestexposition die psychische Gesundheit beeinflusst und auf der anderen Seite, welche Rolle dabei funktionelle Beeinträchtigungen durch die Asbestexposition spielen. Sie haben unter anderem in einer Studie 612 Personen an einem Früherkennungsprogramm für asbestbedingte Erkrankungen untersucht. Bei diesen Teilnehmenden wurden die Funktionseinschränkungen mit einem Lungenfunktionstests und das Wissen um die Asbestexposition mit einer vorhandenen BK 4103 objektiviert. Die psychische Gesundheit wurde mit validierten Fragebögen zu Depression und Angst gemessen. Zusätzlich wurden emotionale Beanspruchungsmaße anhand von Fragen zu eindringlichen Gedanken und spezifischer Angst vor Krebs erhoben. Welche Ergebnisse hatte die Studie?

Frau Lang: Der stärkste Einflussfaktor auf die psychische Gesundheit im Sinne von ängstlichen und depressiven Symptomen war das Vorliegen einer obstruktiven Lungenfunktionsstörung (z. B. Angst: ß = 0,22, p < 0,001). Das Wissen um die bereits eingetretene gesundheitliche Wirkung einer vergangenen Asbestexposition, operationalisiert über das Vorhandensein einer nicht-bösartigen asbestbedingten Erkrankung (ABE) war hingegen ein Einflussfaktor auf die nicht krankheitswertige emotionale Beanspruchung der Betroffenen (z. B. aufdringliche Gedanken: ß = 0,17, p = 0,003).

ASU: Wie beurteilen Sie die Verweigerung der psychologischen Befragung durch 24 % der Teilnehmenden?

Frau Lang: Die Verweigerer hatten mit 67 Jahren ein höheres Durchschnittsalter als die anderen Befragten mit 63 Jahren. Aus den handschriftlichen Angaben der Nichtteilnehmenden lässt sich schließen, dass sie als emotionale Strategie eher zur Verdrängung tendieren. Mit Hinweis auf das Alter wurde oft darauf verwiesen, dass ihnen ihre Sterblichkeit so oder so bewusst ist und sie damit umgehen können.

ASU: Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die wahrnehmbaren körperlichen Beeinträchtigungen durch eine obstruktive Lungenfunktionsstörung für die mentale Gesundheit der Betroffenen?

Frau Lang: Wahrnehmbare körperliche Beeinträchtigungen können im Alltag die Erinnerung an die Gefahrstoffbelastung wiederholt triggern, was sich in eindringlichen Gedanken an den Gefahrstoff äußert und der spezifischen Angst, doch noch eines Tages an Krebs zu erkranken. Die erfordert von den Betroffenen immer wieder aktive Bewältigungsmechanismen, um diese bedrohlichen Gedanken aus dem Bewusstsein zu drängen. Gelingt dies nicht, fällt es uns Menschen im Allgemeinen schwer, planvoll in die Zukunft zu schauen.

ASU: Welche Bedeutung haben die Ergebnisse der Studie für die arbeitsmedizinische Praxis?

Frau Lang: Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die psychische Gesundheit von Asbestexponierten ein wichtiger Bestandteil der arbeitsmedizinischen Betreuung sein sollte und nicht nur allein die arbeitsmedizinischen Ergebnisse isoliert betrachtet werden sollten. Ärztinnen und Ärzte sollten für die psychischen Auswirkungen einer Asbestexposition sensibilisiert sein und bei Bedarf auf entsprechende Unterstützungsangebote verweisen können. Die
Risikokommunikation gegenüber den Betroffenen sollte emotionale Folgen mitberücksichtigen, und auf adäquate Bewältigungsmechanismen hinweisen. So können obstruktive Veränderungen potenziell von den Betroffenen im Alltag wahrgenommen werden und emotionale Reaktionen auslösen. Hier könnten Verhaltenshinweise hilfreich sein oder auch der Verweis auf emotionalen Bewältigungsstrategien. An der Exposition können die Betroffenen nichts mehr ändern, eine funktionale Bewältigung wäre die regelmäßige Teilnahme an der
Vorsorge und gleichzeitig, die emotionale Regulation bei auftretenden Sorgen und Ängsten zu erlernen.

ASU: Welche Rolle spielt die Antizipation der Vorsorgeuntersuchung Ihrer Meinung nach für das Auftreten psychischer Symp­tome?

Frau Lang: Aus anderen Studien mit jüngeren Kollektiven, die einem chemischen Gefahrstoff ausgesetzt wurden, wissen wir, dass allein die Einladung zur Vorsorgeuntersuchung eine emotionale Reaktion auslöst. Die Befragten berichten, dass sie über das Jahr ihre Gefahrstoffbelastung gut verdrängen können, bis sie die Aufforderung zur Teilnahme an der Vorsorge erhalten. Daher ist es mit validierten Screenings nicht allein getan. Es gilt vielmehr, bei Überschreitung von Cut-off-Werten im Screening Gespräche mit den Betroffenen zu führen, um eine konkrete psychische Erkrankung auszuschließen.

ASU: Welche konkreten Maßnahmen können ergriffen werden, um die psychische Gesundheit von Asbestexponierten zu unterstützen?

Frau Lang: Die Studie empfiehlt, ein psychologisches Screening in Früherkennungsprogrammen aufzunehmen, um auch psychische Beanspruchungen frühzeitig zu erkennen und Betroffene an professionelle Netzwerke von Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und gegebenenfalls Psychotherapieangeboten weiterzuleiten.

ASU: Welche weiteren Forschungsfragen ergeben sich aus Ihrer Studie?

Frau Lang: In Studien zur Risikokommunikation nach medizinischer Diagnostik ist bekannt, dass nach der initialen Nachricht über ein vermehrtes Erkrankungsrisiko, zum Beispiel aufgrund einer Disposition, es vermehrt zu Symptomen psychischer Beanspruchung im Sinne von depressiven oder ängstlichen Gedanken kommt. Diese Symptome scheinen sich aber im Laufe eines Jahres zu legen. Daher wären längsschnittliche Studien über den Verlauf des psychischen Wohlbefindens und gleichzeitig der gesundheitlichen Beeinträchtigung und vorhandenen Bewältigungsmechanismen hilfreich, um den Prozess, wie sich das Wissen und mögliche Beeinträchtigungen langfristig auf die psychische Gesundheit und die emotionale Verarbeitungskompetenz der Bedrohung auswirken, sinnvoll, um die Betroffenen optimal zu versorgen. Auch wenn Früherkennungen emotional belastend sein können, sollten sie zum Zweck der Verdrängung nicht gemieden werden. Wie man Betroffene bei der Bewältigung unterstützen kann, um das Maß an emotionaler Belastung in gesunden Grenzen zu halten, wäre das finale Ziel.

ASU: Liebe Frau Prof. Lang, herzlichen Dank für das Interview zum Thema psychische Gesundheit bei Asbestexponierten.

Literatur

Dilling H, Mombour, Schmidt MH: Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F), klinisch-diagnostische Leitlinien. 2. Aufl. Weltgesundheitsorganisation. Bern: Hans-Huber, 1993.

Lebovits AH, Byrne M, Bernstein J, Strain JJ: Chronic occupational exposure to asbestos: More than medical effects. J Occup Med 1988; 30: 49–54.

Lebovits AH, Byrne M, Strain JJ: The case of asbestos workers: A psychological evaluation. In: Lebovits AH, Baum A, Singer JE (eds.): Advances in environmental psychology. 6th edn. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates, , 1986, 3–17.

Lebovits AH, Strain JJ: The asbestos worker who smokes: Adding insult to injury. Health Psychol 1990; 9: 405–417.

Matsuda T, Taniguchi H, Ando M et al.: Depression is significantly associated with the health status in patients with Idiopathic Pulmonary Fibrosis. Internal Med 2017; 56: 1637–1644.

Maurer J, Rebbapragada V, Borson S et al.: Anxiety and depression in COPD: current understanding, unanswered questions, and research needs. Chest 2008; 134 (4 Suppl.): 43S–56S.

Mounchetrou Njoya I, Paris C et al.: Anxious and depressive symptoms in the French asbestos-related diseases cohort: risk factors and self-perception of risk. Eur J Public Health 207; 27: 359–366.

Wolff H, Vehmas T, Oska P, Rantanen J, Vainio H: Asbestos, asbestosis, and cancer, the Helsinki criteria for diagnosis and attribution 2014: recommendation. Scand J Work Environ Health 2014; 41: 5–15.

doi:10.17147/asu-1-384612

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