Hintergrund
Die technische Entwicklung verändert durch Mechanisierung und Automatisierung auch in Verbindung mit digitalen Technologien in vielen Bereichen den Charakter der Arbeit. Trotzdem wird die körperliche (physische) Belastung bei der Arbeit in Zukunft nicht vernachlässigbar sein. Dies gilt insbesondere für nichtindustrielle Tätigkeiten, beispielsweise in der Bauwirtschaft, der Land- und Forstwirtschaft, in der Abfallwirtschaft sowie bei Dienstleitungen und in der Pflege.
In Deutschland ist der Anteil der von körperlichen Belastungen häufig Betroffenen in den letzten 12 Jahren konstant geblieben. Darauf weisen die regelmäßig vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Kooperation mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchgeführten Befragungen von Erwerbstätigen hin. ➥ Tabelle 1 zeigt diesen Anteil für das Jahr 2018.
Körperliche Belastung bei der Arbeit ist mit motorischen und kardiopulmonalen Anforderungen verbunden. Diese bewirken in erster Linie eine Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems, aber auch des Herz-Kreislauf-Systems. Die motorischen und kardiopulmonalen Anforderungen können zu Überbeanspruchungen führen und damit eine Gefährdung für die Gesundheit darstellen.
Fast ein Viertel der Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland geht auf die Diagnose „Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes“ zurück (BMAS/BAuA 2019, dort Tab. TD 4). Somit gehören diese Beschwerden und Erkrankungen zu den häufigsten Gründen für Arbeitsausfall in Deutschland. Zudem verursachen sie hohe volkswirtschaftliche Kosten durch Produktionsausfall und weitere Ausgaben, beispielsweise für medizinische Versorgung, Rehabilitation, Frühverrentung und Entschädigung.
Gefährdungsbeurteilung
Für die Gefährdungsbeurteilung bei körperlicher Belastung existiert eine Reihe von Methoden (z.B. NIOSH-Verfahren, EN/ISO-Verfahren, OWAS-Methode)1. Sie sind teilweise uneinheitlich in Bezug auf die berücksichtigte Art der Anforderungen, Belastungen und Beanspruchungen. Auch die Beurteilungskriterien unterscheiden sich vielfach. Erläuterungen und Übersichten zu den Verfahren finden sich zum Beispiel im Forschungsbericht des gemeinsamen BAuA/DGUV-Projekts MEGAPHYS (BAuA 2019a) sowie in den Informationen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV Informationen 240-460 und 208-033).
Das Projekt MEGAPHYS hatte zum Ziel, bereits existierende Methoden weiterzuentwickeln, durch neue Instrumente der Gefährdungsbeurteilung bei körperlichen Belastungen zu ergänzen und aufeinander abzustimmen. Das entwickelte Methodeninventar umfasst Screening-Verfahren, messtechnische Analyse- und Bewertungsverfahren sowie Verfahren zur Simulation von körperinternen Kräften mit Hilfe von Menschmodellen. Die Schnittstellen zwischen den Verfahren sind in den Forschungsberichten beschrieben (BAuA 2019a; DGUV 2020, in Vorbereitung). Die Methoden orientieren sich in ihrer Bewertung direkt an dem unten genannten vierstufigen Risikokonzept.
Unter Federführung der BAuA und in Kooperation mit dem Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e.V. (ASER), der Ergonomieberatung Ulf Steinberg und der ArMedErgo-Beratung Bernd Hartmann wurden im Rahmen des Projekts die Leitmerkmalmethoden neu- und weiterentwickelt, die zu den Screening-Methoden gehören. Praxistauglichkeit, Objektivität, Reliabilität sowie Konvergenz- und Kriteriumsvalidität wurden getestet.
Ergänzt werden diese Methoden durch ein Einstiegs-Screening. Mit Hilfe einer Checkliste wird festgestellt, ob körperliche Belastungen in verschiedenen Belastungsarten überhaupt vorliegen und wie hoch die Belastungshöhe beziehungsweise das Gesundheitsrisiko grob orientierend ist. Ergebnis des Einstiegs-Screenings kann sein, dass detailliertere Beurteilungen der Tätigkeiten empfohlen werden. Dies ist beispielsweise mit den belastungsartspezifischen Leitmerkmalmethoden möglich.
Belastungsarten
Es werden sechs Belastungsarten unterschieden, die unter anderem im Projekt MEGAPHYS diskutiert und festgeschrieben wurden. Die Unterscheidung ergibt sich aus den typischen Anforderungen an die Körperkraft, -bewegung und -haltung, an die Bewegungsabläufe, die Ausdauer sowie die Koordination. In ➥ Tabelle 2 sind die Belastungsarten beschrieben und Beispiele benannt.
Risikokonzept
Das Risiko für adverse gesundheitliche Folgen hängt bei den oben genannten Belastungsarten von einer Kombination vieler belastungstypischer Faktoren ab. Insofern gibt es keine einfach messbaren und rechtsverbindlich festgelegten Grenzwerte für maximale akzeptable oder tolerable Belastungshöhen für alle Beschäftigten pro Arbeitstag. Jedoch kann auf gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen werden.
Für die Beurteilung von Beanspruchungen durch körperliche Belastung wird ein Risikokonzept verwendet, das in der Arbeitsmedizinischen Regel AMR 13.2 definiert ist. Arbeitsmedizinische Vorsorge ist anzubieten, wenn für bestimmte Belastungsarten (manuelles Heben, Halten und Tragen oder Ziehen und Schieben von Lasten, repetitive manuelle
Arbeiten, erzwungene Körperhaltungen) wesentlich erhöhte körperliche Belastungen vorliegen, die mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System verbunden sind (Verordnung zur Arbeitsmedizinischen Vorsorge ArbMedVV, Anhang Teil 3(2) 4.). Der Begriff „wesentlich erhöhte“ Belastung wird über das Risikokonzept definiert. Anhand der Belastungshöhe werden vier Risikobereiche unterschieden. Sie werden in einem Ampelschema „grün-gelb-rot“ eingestuft und sind mit der Wahrscheinlichkeit einer körperlichen Überbeanspruchung und damit verbundenen gesundheitlichen Folgen sowie erforderlichen Maßnahmen verbunden (➥ Tabelle 3).
Werden im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung wesentlich erhöhte oder höhere körperliche Belastungen festgestellt (Risikobereich 3 oder 4), sind unabhängig von der Auslösung von Vorsorgeangeboten vorrangig arbeitsplatzbezogene und allgemeine Präventionsmaßnahmen der Arbeitsplatzgestaltung und der Arbeitsorganisation zu prüfen und einzuleiten (AMR 13.2, Abschn. 5 D).
Die neuen Leitmerkmalmethoden (LMM)
Genereller Aufbau und Funktionsweise der LMM
Es stehen sechs Leitmerkmalmethoden (LMM) zur Verfügung, und zwar jeweils eine für die in Tabelle 2 genannten Belastungsarten. Die Formblätter der LMM gibt es als Papier-Bleistift-Version sowie mit integrierten Rechenhilfen (s. „Weitere Infos“):
Die Formblätter der Papier-Bleistift-Version haben einen einheitlichen Aufbau und umfassen vier Seiten: Auf der ersten Seite werden die Belastungsart und ihre Abgrenzung von anderen Belastungsarten beschrieben und Beispiele für typische Tätigkeiten genannt. Auf der zweiten und dritten Seite folgen die Wichtungen für die einzelnen Merkmale (➥ Abb. 1). Bei der Anwendung werden je nach Ausprägung der Merkmale Wichtungspunkte vergeben und daraus ein Punktwert berechnet (Zeitwichtung multipliziert mit der Summe aller weiteren Merkmalswichtungen). Der berechnete Punktwert wird für die Beurteilung herangezogen. Die vierte Seite schließt mit einer kurzen Handlungsanleitung ab. Die Reihenfolge der Seiten wurde für die Formblätter mit integrierten Rechenhilfen (LMM-E) leicht modifiziert.
Die während eines Arbeitstages typischerweise zu verrichtenden körperlichen Arbeiten werden so in Teil-Tätigkeiten unterteilt, dass jede Teil-Tätigkeit einer Belastungsart zugeordnet werden kann. Sind die Merkmalsausprägungen von Arbeiten derselben Belastungsart sehr unterschiedlich, müssen diese in separaten Teil-Tätigkeiten erfasst werden. Demzufolge werden für einen Arbeitstag in der Regel mehrere Punktwerte bestimmt.
Bei den Papier-Bleistift-Versionen sind die Merkmalswichtungen je nach Ausprägung der Merkmale in Kategorien zugeordnet. Anwendende Personen können zwar selbst zwischen den Kategorien interpolieren, werden aber dabei nicht durch Algorithmen unterstützt. Die Verteilung der Merkmalswichtungen basiert auf mathematischen Funktionen, mit denen eine interpolierte Wichtung berechnet werden kann. Zudem besteht Bedarf, die Beurteilung von Teil-Tätigkeiten identischer Belastungsarten über den Arbeitstag zusammenzufassen. Beide Aspekte wurden im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der LMM definiert und validiert. Die Algorithmen für diese Erweiterten Leitmerkmalmethoden (LMM-E) wurden im baua:Fokus (BAuA 2020) veröffentlicht. In den Formblättern mit integrierten Rechenhilfen (z.B. LMM-HHT-E) sind diese Algorithmen enthalten. Die Zusammenfassung mehrerer Teil-
Tätigkeiten derselben Belastungsart ist mit dem Formblatt LMM-Multi-E möglich (➥ Abb. 2).
Handhabung von Lasten (LMM-HHT und LMM-ZS) und manuellen Arbeitsprozessen (LMM-MA)
Die ursprünglichen Leitmerkmalmethoden zum Heben, Halten und Tragen (HHT), zum Ziehen und Schieben (ZS) und zu manuellen Arbeitsprozessen (MA) wurden in den Jahren 2001, 2002 beziehungsweise 2011 veröffentlicht. Seit dieser Zeit haben sich Rückmeldungen und Vorschläge für Modifikationen aus der Praxis ergeben. Diese Vorschläge wurden bei der Weiterentwicklung aufgegriffen. So sind beispielsweise die Körperhaltungen bei LMM-HHT durch Bewegungssequenzen ersetzt worden. Das rollende oder gleitende Transportieren von Lasten ohne Flurförderzeug ist bei der LMM-ZS entfallen und wird jetzt der Belastungsart „Ausübung von Ganzkörperkräften“ zugeordnet.
➥ Tabelle 4 gibt einen Überblick über die Leitmerkmale. Es ist ersichtlich, welche Aspekte im Vergleich zur ursprünglichen Version modifiziert, erweitert oder hinzugefügt wurden.
Ausübung von Ganzkörperkräften (LMM-GK), Körperfortbewegung (LMM-KB) und Körperzwangshaltung (LMM-KH)
Die Leitmerkmalmethoden für diese drei Belastungsarten sind vollkommen neu entwickelt worden (➥ Tabelle 5).
Fazit und Ausblick
Es stehen validierte Leitmerkmalmethoden für sechs Belastungsarten zur Verfügung. Sie werden als Screening-Verfahren für die praxisnahe Beurteilung zur Anwendung empfohlen. Ergänzend kann das Einstiegs-Screening verwendet werden. Die zusammenfassende Beurteilung von Tätigkeiten mit unterschiedlichen Belastungsarten über den gesamten Arbeitstag (Mischbelastung) ist mit dem System der Leitmerkmalmethoden noch nicht möglich. Die Validierung bereits bestehender Konzepte dafür (BAuA 2019a, S. 739 ff.) ist geplant.
Hinweis: MEGAPHYS war ein Gemeinschaftsprojekt von BAuA und DGUV und wurde seitens der BAuA finanziell gefördert (Projektnummer F2333, Laufzeit 2013-2018).
Interessenkonflikt: Alle Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.): MEGAPHYS – Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz. Band 1. Dortmund: BAuA, 2019a (www.baua.de/dok/8820522).
BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.): Gefährdungsbeurteilung bei physischer Belastung – die neuen Leitmerkmalmethoden (LMM) – Kurzfassung. Dortmund: BAuA, 2019b (www.baua.de/dok/8825916).
BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.): Grundauswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018. Vergleich zur Grundauswertung 2006 und 2012. Dortmund, Berlin, Dresden: BAuA, 2019c.
BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2018. Unfallverhütungsbericht Arbeit. Dortmund, Berlin, Dresden: BMAS und BAuA, 2019.
DGUV – Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (Hrsg.): MEGAPHYS – Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz. Band 2. Berlin: DGUV, 2020 (in Vorbereitung).
Weitere Infos
LMM-Formblätter (LMM und LMM-E) und Einstiegs-Screening
www.baua.de/Leitmerkmalmethoden
Erweiterte Leitmerkmalmethoden (Algorithmen)
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fokus/Algorithmen-Leitmer…
Info
Praxishilfen zu den neuen Leitmerkmalmethoden (LMM)
PDF-Formblätter Papier-Bleistift-Version (LMM)
baua: Fokus „Algorithmen für Interpolation der Wichtungen und Zusammenfassung von Punktwerten“
PDF-Formblätter mit integrierten Rechenhilfen (LMM-E)
PDF-Formblatt LMM-Multi-E
Punktwerte aller Teil-Tätigkeiten derselben Belastungsart
PDF-Formblatt Einstiegs-Screening
Koautoren
An der Erstellung des Beitrags beteiligt waren Falk Liebers, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin, Bernd Hartmann, ArbMedErgo, Hamburg, sowie Patrick Serafin, Hansjürgen Gebhardt und André Klußmann, alle Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e.V. (ASER), Wuppertal.