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Mental Stress and Psychosomatics Using the Example of Orthopedics
Einleitung
Rückenschmerzen haben in der Arbeitsmedizin und in der hausärztlichen Praxis eine hohe Prävalenz (Schmidt et al. 2007). Die Prävalenz für Rückenschmerzen liegt bei 85 % (Grifka 2023). Demzufolge ist nahezu ein Fünftel der Berufstätigen für sechs Monate oder länger aufgrund von Rückenschmerzen krankgeschrieben (Grifka 2023). Arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren für die Chronifizierung von nicht-spezifischen Kreuzschmerzen sind schwere körperliche Arbeit, monotone Körperhaltung, Vibrationsexposition, geringe berufliche Qualifikation und geringer Einfluss auf die Arbeitsgestaltung. Zudem spielen die berufliche Unzufriedenheit und der Verlust des Arbeitsplatzes eine wichtige Rolle (Grifka 2023). Hieraus ergibt sich oft ein Teufelskreis aus nervaler Irritation, Muskelverspannung und sympathischer Reaktion. Trotz initialer oraler Schmerztherapie und Physiotherapie persistieren die Rückenschmerzen in 10–20 %. Die Zahl der Wirbelsäulenoperationen hat seit der Einführung der diagnosebezogenen Fallgruppen (DRG) deutlich zugenommen (Nimptsch et al. 2018). Um eine operative Maßnahme zu verhindern, kann nach Ausschöpfen der konservativen Maßnahmen eine stationäre multimodale Schmerztherapie durchgeführt werden. Diese fokussiert sich nicht nur auf die fortschreitende Chronifizierung des Rückenschmerzes, sondern auch auf die schmerzunterhaltende Begleiterkrankung wie Angst, Depression oder somatoforme Störungen. Hintergrund ist hierbei das biopsychosoziale Modell, das die häufigste Ursache chronischer Schmerzen in einer Kombination aus langanhaltenden körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen sieht (Kröner-Herwig et al. 2017). Anhaltender Stress im beruflichen oder privaten Alltag, Depressivität, dysfunktionale schmerzbezogene Kognitionen sowie maladaptive Bewältigungsstrategien im Umgang mit den Schmerzen tragen demnach zur Entstehung beziehungsweise Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen bei (Hasenbring et al. 2001).
Multimodale Schmerztherapie
Die multimodale Schmerztherapie setzt sich aus orthopädischen Maßnahmen im Sinne wirbelsäulennaher Injektionen sowie aus psychotherapeutischen und physiotherapeutischen Maßnahmen zusammen. Das Gesamtziel ist hierbei, die Schmerzen zu reduzieren, damit die Patientinnen und Patienten wieder ihren Alltag bewältigen und ins Berufsleben integriert werden können. Die Indikation zur multimodalen Schmerztherapie wird erst nach intensiver orthopädischer sowie psychologischer Abklärung gestellt.
Primär erfolgt die eingehende orthopädische Abklärung hinsichtlich lokaler, radikulärer oder pseudoradikulärer Beschwerdesymptomatik. Zunächst müssen immer die spezifischen Kreuzschmerzen mit dringendem Handlungsbedarf, auch „red flags“ genannt, ausgeschlossen werden. Hierzu zählen Frakturen/Osteoporose, Infektionen, Spondylarthritis, Tumor/Metastasen und Radikulopathien/Neuropathien (Grifka 2023). Auch an die Schmerzausstrahlung von Organen mit topografischem Bezug zur Wirbelsäule („referred pain“) sollte gedacht werden. Retroperitoneale Gefäßerkrankungen, Bauchaortenaneurysma sowie gynäkologische oder urologische Ursachen können zur Schmerzausstrahlung im Lumbalbereich führen. Neurologische, ophthalmologische, vasogene Erkrankungen oder Pathologien im Hals-Nasen-Ohren-Bereich müssen von einem Zervikalsyndrom abgegrenzt werden.
Eine multimodale Schmerztherapie ist dann indiziert, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt werden:
Als „blue flags/black flags“ für die Chronifizierung von Rückenschmerzen gelten auch arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren (Bundesärztekammer 2017, siehe Infokasten).
Hinzu kommen die somatischen Indikationen und Kontraindikationen für die multimodalen Schmerztherapie, die in ➥ Tabelle 1 zusammengefasst sind.
Im Rahmen interdisziplinärer Teambesprechungen werden die Informationen der verschiedenen Fachdisziplinen zusammengetragen und die Indikation festgestellt sowie individuelle Therapieziele und -maßnahmen abgeleitet.
Minimal-invasive Injektionstherapie
Bei der minimal-invasiven Injektionstherapie im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) und der Lendenwirbelsäule (LWS) müssen mögliche Komplikationen, die zentrale Auswirkungen haben können, rechtzeitig erkannt und mit adäquaten Gegenmaßnahmen behandelt werden (Dere et al. 2009; Bilir u. Gulec 2006; Hanefeld et al. 2005). Voraussetzungen für die Durchführung der Injektionstherapie bei Zervikal- und Lumbalsyndrom sind die räumliche Anforderung wie bei intraartikulären Punktionen und Injektionen, Vorbereitung der Patientinnen und Patienten, Überwachung mit Pulsoxymetrie, intravenöser Zugang und Kreislaufmonitoring bei Kontrastmittelgebrauch und/oder zervikal-epiduraler Injektion sowie kardiopulmonale Reanimationsmöglichkeiten.
Bei den Injektionen wird zwischen Injektionstechniken an die Spinalnerven, Nervenwurzel, Facettengelenke und in den Epiduralkanal unterschieden (Grifka et al. 2017). Zur Darstellung der Zielstrukturen werden alle Injektionen mit Lokalanästhetikum und Kortison unter Röntgenkontrolle durchgeführt. Bei speziellen Injektionen wie der zervikal-epiduralen Injektion oder den Radikulographien wird die Zielstruktur vor Applikation mit Kontrastmittel dargestellt (➥ Abb. 1).
Durch die wiederholten Injektionen mit Lokalanästhetika wird die Erregbarkeit des Nervs reduziert und die schmerzlindernde Wirkung hält länger an. Grifka et al. (2017) empfehlen eine Serie über zehn aufeinanderfolgende Tage mit zwei Injektionen pro Tag.
Physiotherapie
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der multimodalen Schmerztherapie ist die Physiotherapie. Diese besteht aus physiotherapeutischen Maßnahmen mit Trainingstherapie sowie Rückenschule. Wichtige Bausteine der Rückenschule sind das Anleiten von Schmerzbewältigungsstrategien und das Aufklären über Verhaltensmaßnahmen im Alltag und am Arbeitsplatz.
Psychotherapie
Die Psychotherapie bildet den dritten Baustein der multimodalen Schmerztherapie. Hauptziel der psychotherapeutischen Maßnahmen, die sowohl im Gruppen- als auch individualisiert im Einzelsetting stattfinden, ist es, dysfunktionale Muster der Schmerzbewältigung, wie zum Beispiel Schmerzfokussierung, Hilflosigkeit, Katastrophisieren, Schonhaltung oder „fear avoidance“ (Pfingsten et al. 2001), zu identifizieren, zu verändern und Schmerzakzeptanz zu fördern (Arnold et al. 2014).
Im Rahmen des fünfstündigen Gruppenprogramms kommen hierzu verschiedene psychotherapeutische Interventionen zum Einsatz, wobei die Inhalte stets möglichst nah am Alltagserleben der Patientinnen und Patienten ausgerichtet werden sollen. Zunächst wird mit psychoedukativen Einheiten unter anderem zu den Themen Schmerzwahrnehmung und -entstehung, Abgrenzung zwischen akutem und chronischem Schmerz sowie Einflussfaktoren auf die Schmerzwahrnehmung im Rahmen des biopsychosozialen Modells das Krankheitsverständnis der Betroffenen gefördert sowie eine gesundheitsförderliche Perspektive des Weiterverfolgens von Zielen und Werten trotz Krankheit aufgebaut (von Wachter u. Hendrischke 2021). Ferner wird durch Übungen zur Wahrnehmungslenkung die Hyperfokussierung auf den Schmerz gemildert und die Selbstkontrollerfahrungen der Patientinnen und Patienten gestärkt (von Wachter u. Kappis 2019). Mithilfe kognitiver Umstrukturierung werden dysfunktionale schmerzaufrechterhaltende Gedanken (z. B. „Mein Rücken ist kaputt, da kann man nichts machen“) oder perfektionistische Grundüberzeugungen („Ich muss immer 100%ig leistungsfähig sein“) aufgedeckt und verändert (Wilken 2012). Darüber hinaus erlernen Patientinnen und Patienten Emotionsregulationsstrategien, um schwierige, mit dem Schmerz einhergehende Emotionen wie Hilflosigkeit, Kontrollverlust, Enttäuschung, Ärger und Angst zu bewältigen. Auch der Angstabbau durch das Durchbrechen der Teufelskreise von Schonverhalten beziehungsweise Durchhalteverhalten stellt einen zentralen Punkt dar (Hasenbring u. Vermunt 2010; von Wachter u. Kappis 2019). Zur Förderung der Körperwahrnehmung und Wahrung individueller Belastungsgrenzen sowie zum Abbau von Muskelanspannung und zur Steigerung allgemeiner Belastbarkeit werden die Patientinnen und Patienten zudem an Entspannungsverfahren herangeführt (Maercker u. Krampen 2009). Schließlich kommen auch Methoden zum Aufbau der sozialen Kompetenzen zum Einsatz, insbesondere zur Kommunikation von Wünschen, Bedürfnissen und Grenzen (Güroff 2016).
In zwei Einzelsitzungen werden individuelle psychische Belastungsfaktoren eruiert und die bereits im Gruppensetting erarbeiteten Themen weiter spezifiziert. Zudem ist die Planung der erlernten Schmerzbewältigungsstrategien im Alltag nach Entlassung sowie bei Bedarf einer weiterführenden psychotherapeutischen Behandlung oder Nachsorge wichtiger Bestandteil.
Fazit
Durch das Zusammenspiel von orthopädischen, physiotherapeutischen und psychotherapeutischen Therapieansätzen können die Beschwerden bei multimodalen Schmerzpatientinnen und -patienten langfristig reduziert werden. Zudem können durch eine veränderte Schmerzakzeptanz und funktionelle Schmerzbewältigungsstrategien die Lebensqualität und die Leistungsfähigkeit im Alltag und am Arbeitsplatz verbessert werden.
Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.