Einführung
Laut den Richtlinien der Europäischen Union bedeutet verantwortungsbewusste Forschung „die Ausrichtung an den Werten, Bedürfnissen und Erwartungen der Gesellschaft“. Dies erfordere ein „aufeinander Eingehen aller Beteiligten, einschließlich der Zivilgesellschaft“ und eine „gemeinsame Verantwortungsübernahme für Prozesse und Ergebnisse von Forschung und Innovation“ (s. „Weitere Infos“).
Eben diese geforderte Zusammenarbeit wird jedoch oft nicht umgesetzt. Ein Missverhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zeigt sich insbesondere in Situationen, in denen Gesundheitsrisiken durch Umweltverschmutzung entstehen (Funtowicz u. Ravetz 1993). Dabei sind die moralischen Werte und wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Institutionen (Arbeitgeberverbände, Bürgerinitiativen usw.) häufig schwer zu vereinbaren. Doch gerade in solchen Situationen sind rasch Entscheidungen zu treffen (Funtowicz u. Ravetz 1993).
In der Medizin werden partizipative Ansätze schon seit Längerem angewendet, beispielsweise in der AIDS-Forschung. Gemeinsam definierten Forschende sowie Aktivistinnen und Aktivisten Studiendesign, Datenerfassung und Ergebnisinterpretation klinischer Studien, mit denen die Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten getestet werden sollten. Im Bereich der Umwelt- und Berufsepidemiologie sind Studien mit einem partizipativen Ansatz hingegen selten. Mitunter neigen Forschende sogar zur Isolation: Sie erstellen Berichte über die Gesundheitsgefährdung von Arbeits- und Umweltbedingungen, ohne jemals persönlich mit den betreffenden Personen in Kontakt getreten zu sein oder sich die Lage vor Ort einmal angeschaut zu haben.
Um diesem Missstand entgegenzuwirken, wurde der partizipative Ansatz im hier vorgestellten Projekt in den Fokus gerückt. Eine Forschungsgruppe hat sich der Untersuchung der Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen der 1976 im süditalienischen Manfredonia (➥ Abb. 1) eingetretenen petrochemischen Industriekatastrophe gewidmet (De Marchi et al. 2017).
Historischer Kontext
Während des Zweiten Weltkriegs wurden viele Gebiete und Städte in Italien stark zerstört. Die Wirtschaft war zusammengebrochen und die Bevölkerung litt unter Hunger und Elend. Von nationalem Interesse war die Entwicklung des italienischen Südens, was im Programm zur Nutzung von ERP-Mitteln (European Recovery Program) im so genannten Marshall Plan festgehalten wurde.
Das Programm hatte unter anderem zwei Ziele: die Steigerung der Beschäftigung und die Entwicklung Süditaliens. Die von den ERP-Mitteln unterstützten Investitionen wurden zunächst zur Finanzierung von Infrastruktur und Kleinunternehmen eingesetzt. In der Folge erhielten jedoch vorwiegend die großen privaten Industriekonzerne Norditaliens diese Fördermittel. Aufgrund staatlicher Anreize, großer Profitmöglichkeiten und kostengünstiger Arbeitskräfte investierten diese zwar in Süditalien, jedoch nicht in die ortsansässigen kleinen Unternehmen. Außerdem wurden dadurch die staatlichen Investitionen in die örtliche Infrastruktur reduziert. Die damaligen Politiker übernahmen die Rolle von Vermittlern und führten diese Investitionsprozesse oft im Austausch für politische Unterstützung durch.
In diesem Zusammenhang entstand Ende der 1960er Jahre die Idee, eine petrochemische Fabrik (später Ente Nazionale Idrocarburi, ENI), etwa zwei Kilometer von der Stadt Manfredonia entfernt, zu errichten. Die Industrieansiedlung wurde zunächst von einigen politischen Bewegungen und Parteien abgelehnt. Man befürchtete die Unvereinbarkeit mit dem geografischen Gebiet und seinen ansässigen Berufsgruppen in der Landwirtschaft, im Tourismus und in der Fischerei. Trotz dieser Konflikte setzte sich jedoch die Entscheidung zur Ansiedlung der Fabrik durch. Im Zeitraum 1971–1994 diente die Fabrik zur Herstellung von Caprolactam und Harnstoff.
Die Industriekatastrophe
Am Sonntagmorgen des 26. September 1976 kam es in der Fabrik zu einer folgenschweren Explosion. Dabei wurden rund 40 Tonnen Arsen in die Atmosphäre freigesetzt. Arsen ist bekannt dafür, dass es das Risiko für Lungen-, Blasen- und Hautkrebs erhöht.
In den ersten Tagen nach dem Unfall wurden die rund 1800 im Werk beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter zur Reinigung des Geländes eingesetzt. Im Einzelnen handelte es sich um Beschäftigte des Petrochemieunternehmens, Leiharbeiterinnen und -arbeiter sowie Technikerinnen und Techniker, die von anderen Standorten des Unternehmens zur Durchführung von Messungen gekommen waren. Sie erhielten keine Schutzausrüstung, weder vom Unternehmen noch von den Umwelt- und Gesundheitsbehörden.
Es gab zwei Arten von Emissionen:
In den ersten Tagen wurde der Unfall sowohl von der Firma als auch von der regionalen Regierung heruntergespielt. So wurden in den darauffolgenden Tagen von der Betriebskantine während der Aufräumarbeiten weiterhin Mahlzeiten serviert, die sogar in der Fabrik selbst zubereitet wurden.
Zur Koordination und Überwachung der Reinigungsarbeiten wurde ein Fachausschuss unter dem Vorsitz des Regionalministeriums für Gesundheit eingerichtet. Dieser setzte sich aus Professoren der Universität Bari, Ärzten der Provinzialarbeitsaufsicht und den Bürgermeistern von Manfredonia zusammen. Auf der Basis der Fachliteratur legte das Institut für Arbeitsmedizin der Universität Bari eine Obergrenze für Arsenwerte im Urin fest, die die Arbeitsfähigkeit bestimmte. Personen, die mehr als 100 mg/l Arsen im Urin aufwiesen, wurden nicht zur Arbeit in der Anlage zugelassen. Der Schwellenwert, der die Arbeitsfähigkeit bestimmte, stammte aus der Zeit vor dem Unfall und war bis dato nur selten überschritten worden. Da er jedoch im Zuge des Fabrikunfalls nicht länger haltbar war, wurde der Schwellenwert am 01.12.1976 auf 300 mg/l angehoben. Während die Reinigungsarbeiten noch andauerten, wurde sogar ein Vorschlag unterbreitet, den Schwellenwert auf 800 mg/l zu erhöhen.
Am 12. Oktober 1976 veröffentlichte der Fachausschuss schließlich seinen Bericht: 45% einer Stichprobe von 700 Arbeiterinnen und Arbeitern zeigten Arsenkonzentrationen von mehr als 100 mg/l im Urin. Mindestens 116 Personen wurden wegen Symptomen, die auf eine Arsenvergiftung zurückgingen, ins Krankenhaus eingeliefert; 98 von ihnen zeigten sogar Arsenkonzentrationen im Urin von mehr als 3000 mg/l.
Das Institut für Arbeitsmedizin der Universität Padua dokumentierte eine subakute Arsenvergiftung bei 23 Technikerinnen und Technikern, die von anderen Firmenstandorten nach Manfredonia geschickt worden waren und in der zweiten Oktoberhälfte 1976 in die Einrichtung aufgenommen wurden.
In den Wochen nach der Explosion wurden von der ortsansässigen Bevölkerung mindestens 26 Personen mit akuter Arsenvergiftung in das örtliche Krankenhaus eingeliefert.
Die Kluft zwischen Institutionen und Gesellschaft wächst
Nach diesem Unfall folgten weitere kleinere Unfälle in der Fabrik, die die Bevölkerung alarmierten. Darüber hinaus gab es im Laufe der Jahre drei weitere Ereignisse, die zu heftigen Protesten gegen die italienische Regierung, die Stadt und die Fabrik selbst führten:
a) die Entsorgungsanlage nie gebaut wurde,
b) das Verklappen an nicht zugelassenen Orten stattgefunden hatte,
c) nicht zugelassene giftige Stoffe einschließlich Quecksilber verschüttet wurden,
d) die giftigen Stoffe den Tod und das Stranden von Delfinen und Schildkröten verursacht hatten.
Im Jahr 1988 verklagte ein Frauenverband aus Manfredonia die italienische Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg, da diese die Bevölkerung nicht über die Risiken des Unfalls von 1976 informiert habe. Zehn Jahre später erkannte der Gerichtshof schließlich die Verletzung von Artikel 8 der Menschenrechtskonvention an und verurteilte den italienischen Staat zur finanziellen Entschädigung (European Court on Human Rights 1998).
Doch nicht nur das Fehlverhalten auf Staatsebene wurde thematisiert: Im Jahr 1996 leitete die Staatsanwaltschaft Foggia ein Strafverfahren gegen zehn Manager des Unternehmens sowie zwei Ärzte ein. Sie ordnete eine wissenschaftliche Untersuchung der damaligen Arbeiterschaft an, nachdem ein Onkologe und eine Gruppe von 37 Beschäftigten, die an mit der Arsenexposition kompatiblem Krebs erkrankten, eine entsprechende Beschwerde unterzeichnet hatten. Einige der am Prozess als Geschädigte beteiligten Personen, darunter die Stadt Manfredonia und die meisten der erkrankten Arbeiterinnen und Arbeiter bzw. die Angehörigen der Verstorbenen, wurden schließlich von ENI entschädigt und verzichteten auf die Einreichung einer Zivilklage. Die Annahme der Entschädigung wurde von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern Manfredonias als Verrat verstanden (De Marchi et al. 2017).
Das Forschungsprojekt
Basierend auf diesen Vorerfahrungen schien es notwendig, die Sachlage durch unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufzuarbeiten. Insbesondere war zu klären, welche Auswirkungen der Unfall auf die Gesundheit der Bevölkerung und die Umwelt hatte. Dabei galt es, durch Einbeziehen der Bevölkerung deren verständliches Misstrauen gegenüber Institutionen – auch wissenschaftlichen – ernst zu nehmen und zu adressieren. Essenziell war auch die Vermeidung von Interessenskonflikten bei den Forschenden. Deshalb war eine unabhängige Finanzierung der Studie von dritter Seite notwendig.
Diese wurde durch einen im Jahr 2015 geschlossenen Vertrag zwischen der Stadt Manfredonia und dem nationalen Forschungsrat gewährleistet. Dabei kam den unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Forschungsrats die Aufgabe zu, den Gesundheitszustand der Bevölkerung und die Umwelt von Manfredonia zu analysieren.
Der partizipative Ansatz
Die Forschungsgruppe, die für die Durchführung der Forschung unter Berücksichtigung der Geschichte der Fabrik und ihrer Beziehung zur Stadt eingerichtet wurde, entschied sich für einen partizipativen Weg. Beteiligt waren sowohl die Bürgerinnen und Bürger Manfredonias wie auch die Stadt und das örtliche Gesundheitsamt. Es gab mehr als fünfzehn offene Treffen, bei denen die den epidemiologischen Studien zugrunde liegenden Forschungsfragen und Annahmen sowie die möglichen Auswirkungen dieser Annahmen auf die Endergebnisse diskutiert wurden.
Es wurden Szenarien erstellt, die die Möglichkeit negativer Ergebnisse beinhalteten, das heißt ein fehlender Zusammenhang zwischen Umwelt- und/oder Arbeitsplatzbelastung und dem Gesundheitszustand der Bevölkerung und der Arbeitnehmenden.
Über Printmedien und soziale Kanäle wurden die Termine der Projekttreffen an die Bevölkerung kommuniziert. Die Treffen waren offen für jedwede Beiträge. Ergebnisse und Implikationen wurden in insgesamt drei Pressemitteilungen bekanntgegeben und in drei Pressekonferenzen zur Diskussion gestellt, bei denen sowohl Forschende als auch Bürgerinnen und Bürger zu den Vortragenden gehörten.
Durchgeführte Studien
Es wurden insgesamt drei Studien durchgeführt:
Die gesellschaftliche Bedeutung des gewonnenen Wissens
Das gewonnene Wissen und vor allem der gewählte partizipative Ansatz der Studie sind bedeutsam – sowohl für die Stadt Manfredonia als auch für die beteiligten Bürgergruppen, die die verschiedenen Forschungsphasen genauer verfolgten.
Vorrangig zu betonen ist hierbei die Wiederannäherung der Menschen an die Institutionen. Tatsächlich wurde der Forschungsgruppe zunächst von verschiedenen organisierten Bürgergruppen mit großem Misstrauen begegnet. Die Epidemiologinnen und Epidemiologen waren für sie die Personen, die mit der Stadt zusammenarbeiteten, die die Bürger verraten hatte, als sie im Prozess gegen die Fabrik eine Entschädigung akzeptiert hatte.
Die Verständigung war zunächst mühsam, aber sie gelang. Dies setzte neben der Begegnung auch eine gemeinsame Sprache voraus, die Forschende und Technikpersonal entwickeln mussten, um oft schwierige technische Aspekte verständlicher zu machen. Komplexe epidemiologische Sachverhalte wurden dementsprechend bürgernah erklärt.
Gemeinsam mit der Bürgerschaft wurden Aspekte arbeitet, die die Forschung vom wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kontext, in dem sie sich entwickelt, abhängig machen. Hierdurch schaffte es die Forschungsgruppe, wissenschaftliche Erkenntnisse in die öffentliche Debatte einzubringen und damit auch die Rolle der Wissenschaft zu stärken.
Verwendung der Ergebnisse
Die Forschungsergebnisse wurden bereits mehrfach verwendet:
Fazit
Der gewählte partizipative Forschungsansatz war ein Gewinn für die Stadt Manfredonia und für die Wissenschaft. Den Bürgerinnen und Bürgern wurde so die Möglichkeit gegeben, ihre Rolle bei der Entscheidungsfindung in Gesundheits- und Umweltfragen zu erweitern und neu zu definieren. Dadurch hat die örtliche Politik Manfredonias zumindest teilweise an Glaubwürdigkeit zurückgewonnen.
Die Untermauerung mit wissenschaftlichen Fakten bietet immer auch eine Chance für Wachstum und gesellschaftliche Ermächtigung.
Davon profitierten auch die Forschenden, denn sie konnten und mussten neue Ausdrucksformen lernen, um die Methoden und Ergebnisse ihrer Arbeit verständlich zu machen. Durch die partizipative Forschung konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler außerdem Zugang zu entscheidenden Dokumenten – wie zum Beispiel den Akten des Prozesses – erlangen, zu denen sie sonst keinen Zugang gehabt hätten. Schließlich konnten sie auch dazu beitragen, die Rolle der Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungsprozessen zu stärken.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Funtowicz S, Ravetz J: Science for the post-normal age. Futures 1993; 31: 735–755.
De Marchi B, Biggeri A, Cervino M, Mangia C, Malavasi G, Gianicolo EA: A participatory project in environmental epidemiology: lessons from the Manfredonia case study. WHO Public Health Panorama 2017; 3: 321–327.
European Court on Human Rights. Guerra and others versus Italy. In. Vol Case number 116/1996/735/932 Council of Europe 1998: 1.
Gianicolo EA, Mangia C, Cervino M et al.: Studio ecologico sulla mortalita dei residenti a Manfredonia dal 1970 al 2013. Epidemiol Prev 2016; 40: 281–289.
Gianicolo EAL, Mangia C, Cervino M et al.: Long-term effect of arsenic exposure: Results from an occupational cohort study. Am J Ind Med. 2019; 62: 145–155
Mangia C, Cervino M, Gianicolo EAL: Arsenic contamination assessment 40 years after an industrial disaster: measurements and deposition modeling. Air Quality, Atmosphere Health 2018; 11: 1081–1089.
Weitere Infos
Presidency of the Council of the European Union. Rome Declaration on Responsible Research and Innovation in Europe. 2014
https://ec.europa.eu/research/swafs/pdf/rome_declaration_RRI_final_21_N…. Accessed 23 January 2019.
International Agency for Research on Cancer. A review of human carcinogens. Part C: arsenic, metals, fibres, and dusts. Vol 100C. Lyon, France, 2012
http://monographs.iarc.fr/ENG/Monographs/vol100C/index.php
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