Psychological Person-Job-Fit Operationalized with the Mini-ICF-APP
Wer ist schuld an Arbeitsunfähigkeit?
In der öffentlichen Diskussion wird viel darüber debattiert, ob die moderne Arbeitswelt krank macht, das heißt die Erklärung in den Verhältnissen liegt. Dafür gibt es empirisch erstaunlich wenig belastbare Belege (Meier-Credner u. Muschalla 2020; Linden u. Jacobi 2018). Eine Alternativerklärung ist, dass die Ursache beim Arbeitsunfähigen selbst, das heißt in seinem Verhalten, liegt. Beide Sichtweisen können eine systemische Betrachtung erschweren und verhindern, dass das eigentliche Problem der modernen Arbeitswelt erkannt und angegangen wird, nämlich der zunehmend problematische Person-Job-Fit2 (French 1973). Dies gilt insbesondere für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Es gibt eine Reihe von Fähigkeiten, wie sie beispielsweise im Mini-ICF-APP (Linden et al. 2022) beschrieben werden, die vor allem durch psychische Erkrankungen beeinträchtigt werden können. Sie können auch als „Soft Skills“ bezeichnet werden. Die moderne Arbeitswelt ist dadurch gekennzeichnet, dass kaum mehr eine körperliche Leistungsfähigkeit erforderlich ist, dafür werden in Service und Verwaltungsjobs zunehmend kognitive und interpersonelle Leistungen verlangt, was Menschen mit psychischen Krankheiten Schwierigkeiten bereiten kann. Psychische Störungen sind zudem vielfach chronische Erkrankungen, die etwa ein Viertel der Menschen betreffen (Stansfeld et al. 2008; Wittchen et al. 2011). Ein Großteil von ihnen sind berufstätig. Die Folgen psychischer Erkrankungen sind daher am Arbeitsplatz ein nicht zu vernachlässigendes Phänomen. Psychisch Kranke fallen aus diesem Grund vermehrt mit Arbeitsunfähigkeit (GBA 2022) aus der Arbeitswelt heraus.
Operationalisierung von Person-Job-Fit
Das Konzept der Person-Umwelt-Passung („person environment fit“) ist in der Arbeitspsychologie seit langem bekannt. Es beschreibt, inwieweit Umweltanforderungen und individuelle Leistungsfähigkeit miteinander übereinstimmen. Kommt es zu einem „Non-Fit“, folgt daraus eine Überlastung des Individuums mit allen daraus resultierenden psychischen und körperlichen Folgen, wie auch zur Minderung der Umweltbewältigung, das heißt im Beruf eine Minderung der Arbeitsleistung oder auch die Gefährdung betrieblicher Abläufe.
Zur Beurteilung des Person-Job-Fits muss also sowohl bekannt sein, wie das Fähigkeitsniveau der oder des Beschäftigten ist, und was genau die Arbeitsanforderungen sind (DRV 2018; SGVP 2016). Man spricht von einer kontextadjustierten Fähigkeitsbeschreibung. Sie ist die Grundlage der Beurteilung einer Arbeitsunfähigkeit, das heißt die Einschätzung, ob jemand krankheitsbedingt in einer Tätigkeit oder einem Beruf noch verantwortbar eingesetzt werden kann oder nicht. Sie ist auch eine wichtige Basis für zielführende betriebliche Wiedereingliederungsprozesse.
Eine solche mehrdimensionale Erfassung und Beschreibung der Arbeitsfähigkeit stellt an Untersuchende große Anforderungen. Ein Instrument, das speziell zur Messung der kontextadjustierten Leistungsfähigkeit entwickelt wurde, ist das Mini-ICF-APP (Linden et al. 2022). Es gibt eine Reihe von Fähigkeitsdimensionen vor, die besonders bei psychischen Störungen beeinträchtigt sein können. Die Beurteilung erfolgt dann unter Bezug auf einen vorab ausgewählten Referenzkontext, also zum Beispiel den konkreten Arbeitsplatz oder den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Ratingstufen sind: 0. kein Fähigkeitsproblem im Referenzkontext,
1. subjektives Problem, 2. von außen erkennbares Problem, 3. unterstützungsbedürftiges Problem und 4. völliger Fähigkeitsausfall. Die kontextadjustierte Bewertung ist ein Grundproblem jeder Fähigkeitsbeurteilung. Wie schnell jemand laufen können muss, wieviel heben, an Rechenleistung erbringen, an sozialer Kompetenz haben muss, ist nicht absolut, sondern nur relativ zu den Anforderungen zu bestimmen.
Beschreibung psychischer Arbeitsplatzanforderungen
Will man Arbeitsplätze unabhängig von einer/
einem bestimmten Mitarbeitenden beschreiben, kann dafür das Mini-ICF-APP-W genutzt werden (Muschalla 2018a,b). Es fragt nach denselben Soft-Skill-Dimensionen wie das Mini-ICF-APP, jedoch mit dem Fokus, welche Fähigkeiten eine/ein beliebige/r Mitarbeitende/r unbedingt mitbringen muss. Die Ratingstufen sind:
0 = die Fähigkeit wird nicht benötigt,
1 = die Fähigkeit wird erwartet, aber Fähigkeitseinschränkungen haben keine Auswirkungen,
2 = die Fähigkeit wird erwartet, Fähigkeitseinschränkungen führen zu Negativreaktionen Dritter,
3 = die Fähigkeit ist zwingend erforderlich, bei Fähigkeitseinschränkungen müssen Dritte einspringen,
4 = die Fähigkeit ist zwingend erforderlich, es kann niemand Fähigkeitseinschränkungen kompensieren.
Es steht ein Fremd- und Selbstbeurteilungsbogen zur Verfügung (➥ Tabelle 1).
In einer Untersuchung mittels der Fremd- und Selbstbeurteilungsversion des Mini-ICF-APP-W an 166 Rehabilitationspatientinnen und -patienten (Muschalla 2018 a,b), ergänzt durch Freitextantworten, wurden die Anforderungsdimensionen inhaltlich validiert und eine Reliabilitätsprüfung vorgenommen (Inter-Rater-Reliabilität r = 0,63–0,91;
Muschalla 2018 a). Die Ergebnisse bestätigen, dass mit dem Mini-ICF-APP-Work-Rating auf einen konkreten Arbeitskontext bezogen beurteilt werden kann, in welchem Maße eine Tätigkeit verschiedene psychische Fähigkeiten erfordert.
Es wurden dann ein Abgleich der individuellen Fähigkeiten (Mini-ICF-APP) und der Arbeitsplatzerfordernisse (Mini-ICF-APP-W) vorgenommen. In der Gruppe, die als leistungsfähig in ihrer letzten Tätigkeit eingestuft wurden (Abb. 1a), war kein Mismatch zu beobachten. Die Leistungsfähigkeit lag eher über den Leistungsanforderungen. Bei Personen mit negativer erwerbsbezogener Prognose (Abb. 1b), das heißt voraussichtlicher dauerhafter Unfähigkeit, ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit wieder aufzunehmen, bestand in den Dimensionen Flexibilität, Durchhaltefähigkeit sowie den interaktionellen Fähigkeiten (Selbstbehauptung, Kontakt- und Gruppenfähigkeit) ein Mismatch. Die Fähigkeitsausprägungen der Personen erschienen relativ gering im Vergleich zur leistungsfähig eingeschätzten Gruppe und lagen unter den Leistungsanforderungen.
Schlussfolgerungen
In der Prävention von Arbeitsunfähigkeit ist grundsätzlich das Konzept der Person-Umwelt-Passung zugrunde zu legen. Im Sinne der ICF (WHO 2001) bedeutet dies, dass Arbeitsanforderungen (Kontextfaktoren) und Leistungsfähigkeit gemeinsam zu betrachten sind. Daraus ergeben sich unmittelbar Handlungsableitungen, sei es im Sinne einer Fähigkeitsverbesserung oder Kontextänderung. Im Sinne des betrieblichen Eingliederungsmanagements ist zu prüfen, bei welcher Arbeitsveränderung aus einem Mismatch ein Fit wird. Dies geschieht in aller Regel mit arbeitsmedizinischer oder therapeutischer Expertise. Das Mini-ICF-APP und das Mini-ICF-APP-W können hierbei zur Objektivierung und Unterstützung herangezogen werden. In der Konsequenz ergibt sich aus dem Konzept des Person-Job-Fits auch, dass gerade für Menschen mit psychischen Einschränkungen sogenannte „Toleranzarbeitsplätze“ benötigt werden.
Interessenkonflikt: Die Autorin ist an der Entwicklung des Mini-ICF-APP beteiligt, Mitautorin entsprechender Bücher und regelmäßig Referentin zum Thema.
Literatur
Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics. 6. Aufl., Oxford: Oxford University Press, 2008.
French JRP Jr: Person role fit. Occup Ment Health 1973; 3: 15–20.
Jacobi F, Linden M: Macht die moderne Arbeitswelt psychisch krank–oder kommen psychisch Kranke in der modernen Arbeitswelt nicht mehr mit. Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin 2018; 53: 530–536.
Linden M, Baron S, Muschalla B, Ostholt-Corsten M: Fähigkeitsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen. Diagnostik, Therapie und sozialmedizinische Beurteilung in Anlehnung an das Mini-ICF-APP. Bern: Huber, 2015, 2022.
Meier-Credner A, Muschalla B: Kann Ungerechtigkeit bei der Arbeit krank machen? Grundannahmen, Subjektive Wahrnehmung und Person-Job-Fit. Verhaltenstherapie 2020; 20: 256-265.
Muschalla B: A concept of psychological work capacity demands – first evaluation in rehabilitation patients with and without mental disorders. Work 2018a; 59: 375–386. doi: 10.3233/WOR-182691
Muschalla B: Assessing psychological work demands with an ICF-oriented concept of psychological capacities. Gruppe Interaktion Organisation 2018b; 49: 81–92. doi: 10.1007/s11612-018-0406-x
Stansfeld SA, Clark C, Caldwell T, Rodgers B, Power C: Psychosocial work characteristics and anxiety and depressive disorders in midlife: the effects of prior psychological distress. Occupational and Environmental Medicine 2008; 65: 634–642. doi: 10.1136/oem.2007.036640.
Sheehan D, Lecrubier Y, Sheehan H, Amorim P Janavs J, Weiller E, et al. The Mini International Neuropsychiatric Interview: The development and validation of a structured diagnostic psychiatric interview for DSM-IV and ICD-10. Journal of Clinical Psychiatry 1998; 59: 22–33.
WHO: International Classification of Functioning, Disability and Health: ICF. Geneva: WHO, 2001.
Wittchen HU, Jacobi F, Rehm J, Gustavsson A, Svensson M, Jönsson B, Fratiglioni L: The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology 2011; 21: 655–679.
doi:10.17147/asu-1-280198
Weitere Infos
AWMF: AWMF-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen. Teil II: Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit. Berlin: AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, 2019
https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/051-029
DRV: Leitlinie Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen (01.08.2012, Update 2018). Deutsche Rentenversicherung Bund, 2018
https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Expe…
GBA: Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V (Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien). Veröffentlicht im Bundesanzeiger (BAnz AT 27.01.2014 B4) in Kraft getreten am 28. Januar 2014, zuletzt geändert am 4. August 2022
https://www.g-ba.de/richtlinien/2/
Schweizerische Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie (SGVP): Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten, 2016
https://www.sgvp.ch/leitlinien/
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