Prevention of and protection against sexual harassment in everyday hospital life
Einleitung
Sexuelle Belästigung stellt nicht nur ein gesellschaftlich drängendes Problem dar, sondern ist auch im beruflichen Umfeld virulent. Nicht erst seit der „#MeToo“-Debatte wissen wir, „dass alle Beschäftigten und Branchen jeglichen Geschlechts und Alters unabhängig von der beruflichen Position“ betroffen sein können (FRA 2014; McLaughlin et al. 2012).
Obgleich sich die Arten der erlebten Belästigungen nach Intensität und Häufigkeit der Übergriffe aufgrund des Geschlechts, der Berufsgruppen und Status unterscheiden mögen, ist die Betroffenheit bei einer hohen Zahl von Beschäftigten im klinischen Umfeld national wie international belegt; einem besonderen Risiko sind weltweit Ärztinnen, Studierende und Gesundheits- und Krankenpflegende (GuK) sowie Auszubildende der Gesundheitsberufe ausgesetzt (Jagsi 2018; Schoenefeld et al. 2021).
Mit der WPP (Watch, Protect, Prevent)-Studie (2015) an der Charité wurden bisher die einzigen Daten für den klinischen Bereich publiziert. Insgesamt berichteten 70 % der Ärztinnen und Ärzte von mindestens einer Form der Belästigung im Laufe ihrer gesamten professionellen Laufbahn. Verbale Grenzüberschreitungen in der gesamten Berufszeit werden im Allgemeinen häufiger von Frauen berichtet. Bei ausschließlicher Betrachtung der letzten zwölf Monate sind geringfügige Geschlechterunterschiede zu erkennen. Körperliche Belästigung wurde insgesamt selten berichtet.
Anzügliche Sprüche, sexuelle Anspielungen, Nachpfeifen und Anstarren wurden häufiger von Ärztinnen berichtet. Belästigungsformen, die keinen physischen Kontakt voraussetzen, wie zum Beispiel das Versenden von pornografischen Bildern, anzüglichen E-Mails oder SMS betrifft 8 % der befragten Männer häufiger als Frauen.
Bei der Ermittlung der Ausübendenprofile berichten 55 % der Ärztinnen von einer Belästigungsfrequenz vor allem durch Männer; bei 39 % der befragten Ärzte gingen die Belästigungen überwiegend von Männern und Frauen aus.
Ärztinnen und Ärzte erleben mehrheitlich Belästigungen durch Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzte, während die Pflegekräfte überwiegend Belästigungen durch Patientinnen und Patienten sowie Angehörige ausgesetzt sind (Jenner et al. 2019).
Im Rahmen des Arbeitsfelds Medizin nimmt sexuelle Belästigung aufgrund der besonderen Arbeitsbedingungen und des notwendigen Übertritts persönlicher Grenzen zur Ausübung des Berufs eine Sonderstellung ein. Patientinnen und Patienten müssen für viele Untersuchungen zumindest partiell entkleidet sein, Befragungen nach persönlichen/intimen Details zur Einschätzung von Erkrankungsrisiken beziehungsweise zur Beratung müssen durchgeführt werden, extreme körperliche Nähe ist in vielen Arbeitsabläufen notwendig, wie beispielsweise im Operationssaal, bei der Endoskopie und Ähnlichem. Grenzüberschreitungen sind somit einerseits notwendig, um den Beruf auszuüben, können aber zu potenziellen „Entgrenzungen“ von Seiten aller Beteiligten – ärztlichem und pflegerischem Personal sowie Patientinnen und Patienten – führen (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2015).
Somit sind klare Abgrenzungen und Handlungsleitfäden in diesem Kontext potenziell sogar wichtiger und notwendiger als anderswo. Die hohen Prävalenzzahlen im Feld bestätigen die Notwendigkeit eines proaktiveren Umgangs mit dem Problem.
Die Expert_innenkommission der Antidiskriminierungsstelle des Bundes empfiehlt klare Verhaltenskodizes für alle Beschäftigten. Präventionsmaßnahmen sind als proaktive Instrumente in der Personal- und Organisationsentwicklung zu etablieren.
Auswirkung von sexueller Belästigung
Sexuelle Belästigung ist somit ein weitverbreitetes Phänomen mit weitreichenden gesundheitlichen und arbeitstechnischen Konsequenzen.
Gesundheitliche Konsequenzen
Sexuelle Belästigung stellt neben den machtpolitischen und gesellschaftlichen Dimensionen vor allem ein gesundheitliches Problem dar. Sexuelle Belästigung kann signifikante medizinische Auswirkungen haben, akut und chronisch, und die Gesundheit der Betroffenen jahrelang belasten. Die medizinischen Konsequenzen reichen von akuten Angstzuständen bis hin zu chronischen psychischen Störungen, wie zum Beispiel Angststörungen und Depression neben somatischen Beschwerden, wie beispielsweise chronischen Rücken- und Nackenschmerzen, chronischen gastrointestinalen Beschwerden und Herzkreislaufbeschwerden. Sie unterscheiden sich hierbei kaum von den Beschwerden, die mit akuter und chronischer Gewalterfahrung assoziiert werden (Chan et al. 2008; Nielsen u. Einarsen 2012; Stock u. Tissot 2012).
Organisationstechnische Konsequenzen
Neben der Belastung für Betroffene stellen sexuelle Belästigung und ihre Konsequenzen auch ein arbeitstechnisches Risiko dar, das die Produktivität, Motivation und Unternehmensbindung der Beschäftigten schwächt. Langfristig nehmen nicht nur die Bindung und das Vertrauen in das Unternehmen ab, es häufen sich auch Ausfallzeiten und Krankschreibungen bis hin zu einer möglichen Kündigung, wenn die Betroffenen sich nicht mehr in der Lage fühlen, an dem betroffenen Arbeitsplatz zu verbleiben. Für die Arbeitgeber bedeutet eine mangelnde Erkenntnis von sexueller Belästigung als Ursache der Beschwerden der Beschäftigten somit akut einen Verlust an Produktivität und Einnahmen und langfristig an Einbringung in das Unternehmen, an Teamgefühl der Mitarbeitenden und an Unternehmensbindung (Glomb et al. 1997).
Im Rahmen der Gesundheitsfachberufe mit ihrem hohen Überarbeitungsrisiko, potenziell hohem Krankenstand aufgrund von beruflich bedingter psychischer und physischer Belastung, Arbeitsverdichtung, Fachkräftemangel und relativ geringer Bezahlung, vor allem im pflegerischen Bereich, stellt sexuelle Belästigung somit ein signifikantes arbeitstechnisches Zusatzrisiko dar (Nielsen et al. 2017).
Intrinsische Risikofaktoren, beispielsweise Reduktion von Leistung und Engagement, mangelndes Teamgefühl und innere Kündigung, können zur Verschlechterung der Arbeitsatmosphäre führen oder zum Karriereknick und beeinflussen häufig bei Ärztinnen die Entscheidung für bestimmte Disziplinen beziehungsweise für den Verbleib im klinischen Umfeld (Bruce et al. 2015; Serrano 2007; Hinze 1997).
Rechtliche Regelungen
Eine wesentliche Rahmenbedingung für die Bekämpfung von sexueller Belästigung ist die Gesetzgebung.
Bereits im Grundgesetz werden der Schutz und die Würde der Persönlichkeit in Artikel 1 und Artikel 3 nominiert. Benachteiligungen (Diskriminierungsverbot) wegen des Geschlechts sind ausdrücklich verboten (Artikel 3 Abs. 2 Grundgesetz [GG], s. „Weitere Infos“). Für die Bundesländer und insbesondere den Öffentlichen Dienst (Gleichstellungsbeauftragte) sind die Gleichstellungsgesetze der Länder (LGG) maßgeblich.
Die EU-Gleichbehandlungsrichtlinie 2002/73/EG: verbietet sexuelle Belästigung als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Der Begriff „sexuelle Belästigung“ bezeichnet rechtlich eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und ist ausdrücklich verboten. Sexuelle Belästigung ist grundsätzlich als Geschlechterdiskriminierung zu werten.
Wann genau Grenzen überschritten werden und was konkret als sexuelle Belästigung angesehen wird, ist in Deutschland im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG § 3 Abs. 4) definiert: „Eine sexuelle Belästigung ist eine Benachteiligung […], wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird“ (s. auch „Weitere Infos“)
Grundsätzlich ist sexuelle Belästigung eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten und ist somit am Arbeitsplatz verboten. Es geht dabei nicht darum, ob die Würdeverletzung beabsichtigt ist, sondern um die Auswirkung auf die betroffene Person (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2019).
Das AGG § 12 führt die Schutzpflicht gegenüber den Beschäftigten und Auszubildenden auf und empfiehlt den Unternehmen einen proaktiven Umgang mit dem Phänomen. Notwendigerweise sollte der AGG-Geltungsbereich auf alle Hochschulangehörigen (Studierende, Gaststudierende, Promovierende) erweitert werden.
Die WPP-Studie an der Charité
Die WPP-Studie (2014–2016) stellte den ersten Versuch in Deutschland dar, systematisch Erfahrungen mit sexueller Belästigung im Klinikambiente zu erfassen. Die kombinierte Datenerhebung ermöglicht die parallele Erfassung von robusten Inzidenzdaten (Prävalenz), die Fokussierung auf präventive Interventionen (Prävention) sowie die Erarbeitung institutioneller Schutzinstrumente (Implementierung).
Durch Aufmerksamkeit (Watch), Schutzangebote (Protect) und vorbeugende Maßnahmen (Prevent) soll sexuelle Belästigung aufgedeckt, eingeschränkt beziehungsweise gänzlich vermieden werden.
Der Aufbau der WPP-Studie entspringt der Überzeugung der Studienleiterin, Professorin S. Oertelt-Prigione, dass nur ein systemischer Ansatz eine fokussierte Aufarbeitung und Bekämpfung des Phänomens möglich macht. Sexuelle Belästigung sollte nicht nur beziffert, sondern es sollten gleichzeitig vorbeugende Maßnahmen entwickelt werden.
Was genau bedeutet sexuelle Belästigung im klinischen Umfeld?
Basierend auf der Einteilung des AGG (§ 3 Abs. 4) und mit Ergänzung der WPP-Erhebung weist sexuelle Belästigung zahlreiche Facetten auf. Beleidigende und unerwünschte Verhaltensweisen, abwertende Kommunikation, sexualisierte Sprüche und Diskriminierung im Face-to-Face-Kontakt oder/und Witze, Bemerkungen gegenüber vulnerablen Menschengruppen, stellen eine Form der Machtdemonstration dar, die dazu dient, die „anderen“ abzuwerten, zu verletzen und zu entwürdigen.
Die WPP-Studie zeigte, dass sich sexuelle Belästigung häufig in sogenannten „Grauzonen“ bewegt. Mit subtilen oder ein-/zweideutigen Aussagen, einseitigen Komplimenten und/oder stereotypen Aussagen wird beispielsweise die Expertise von Ärztinnen abgewertet.
„Kollegen versuchen, über verbale Schienen aus gefühlter Unterlegenheit, auf gleicher Ebene oder als Vorgesetzte, mit einer Mischung aus Frauenfeindlichkeit und Humor mit abwertenden Formulierungen zu beleidigen bzw. zu belästigen sowie meine Leistungen entsprechend abzuwerten“ (Jenner et al. 2020).
Aus sozial-historischer Sicht unterliegen Universitätsmedizin, Universitäten sowie das Feld der Wissenschaft und Forschung gewachsenen heteronormativen Rangfolgen, die Frauen als hierarchisch unterlegen einstufen und entsprechend kann sexuelle Belästigung als „Mittel zum Platzverweis“ genutzt werden (ADS-Expertise 2015).
Sexuelle Belästigung als systemisches Phänomen
Die Fachliteratur bestätigt, dass steile Hierarchien, Machtverhältnisse, Stressbelastung und Unternehmenskultur eine begünstigende Rolle für sexuelle Belästigung spielen können.
Organisationen mit besonders steilen Hierarchien – wie etwa Krankenhäuser, Verwaltungen etc. – erweisen sich als Einrichtungen, deren Funktionsweise tradierte geschlechtsspezifische Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse aufrechterhält, stereotype Rollenbilder strukturell zementiert und somit auch das Risiko von sexueller Belästigung und Diskriminierung fördert.
Die WPP-Studie der Charité identifizierte ebenfalls eine Korrelation zwischen starken Hierarchien und Belästigungserfahrung. Die WPP-Daten lassen erkennen, dass es sich bei sexueller Belästigung nicht um isolierte Einzelfälle handelt, sondern um Grenzüberschreitungen, die innerhalb einer förderlichen Kultur geschehen. Verbale Übergriffe sind Ausdruck einer teilweise problematischen Form der Kommunikation. Die Akzeptanz dieses Umgangs kann potenziell weitere Überschreitungen akzeptabler erscheinen lassen (Jenner et al. 2019).
Präventionsmaßnahmen (WPP-Studie-Empfehlungen)
Effektive Prävention an Hochschulen kann nur im Kontext breit angelegter Interventionen stattfinden, da die begrenzte Reaktion bei Einzelfällen meist langfristig unwirksam ist. Die klare Notwendigkeit eines systemischen Ansatzes zu sexueller Belästigung sollte jegliche Interventions- und Präventionsarbeit prägen. Die Schutz- und Präventionsstrategien, die im Folgenden detaillierter beschrieben werden, sind nicht organisationsspezifisch für die Universitätsmedizin – sie bieten sich zur Umsetzung auch in anderen Branchen an.
Wir beziehen uns hier auf die wichtigsten Ergebnisse zum Schutz und zur Prävention von sexueller Belästigung aus der Charité-WPP-Studie, die 2015 an der Charité Universitätsmedizin erhoben wurden (Jenner et al. 2020).
Folgende Themen sollten im Rahmen eines institutionellen Prozesses bearbeitet werden:
Ad 1: Betriebliche Vereinbarung mit einem standardisierten Beratungs-/Beschwerdeablauf zum Schutz und zur Prävention von sexueller Belästigung
Eine betriebliche Vereinbarung zum Schutz und zur Prävention von sexueller Belästigung stellt eine institutionelle Grundlage für den Umgang eines Unternehmens mit dem Phänomen sexuelle Belästigung dar. Im universitären Kontext bietet sich eine Richtlinie an, da Studierende keine Beschäftigten sind und von anderen Formaten betrieblicher Vereinbarungen durch Personalvertretungen nicht betroffen wären. Die Vereinbarung wird in der Regel von den Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten und/oder Personalvertretungen initiiert. Kernelemente sind neben den Paragrafen der Vereinbarung, Verhaltenskodizes für alle Statusgruppen und Studierenden der Beratungsstellen und die detaillierte Aufstellung eines Beratungs-Beschwerdeablaufs.
Ein detaillierter und transparenter Beratungs-Beschwerdeablauf wird mit dem Ziel entwickelt, dass alle Beteiligten Schutz und Handlungssicherheit beim Ablauf haben. Die Betroffenen sind über den gesamten Ablauf informiert und erhalten Sicherheit und Autonomie zum möglichen Vorgehen. Betroffene sind sehr häufig nicht am rechtlichen Weg interessiert, sondern wollen lediglich ein unerwünschtes Verhalten unterbinden. Die Tatsache, dass eine informelle niederschwellige Beratung keine rechtlichen Konsequenzen hat, ist dabei eine wichtige, häufig nicht bekannte Information. Ein transparenter und strukturierter Beratungs-Beschwerdeablauf mit konkreten Ansprechpersonen ermöglicht allen Beteiligten Schutz und Handlungssicherheit
Ad 2: Anlaufstellen – Meldungen
Eine organisationsinterne AGG-Beschwerdestelle ist in vielen Organisationen und Unternehmen bereits etabliert. Als offizielle interne Instanzen stehen die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, Personalvertretungen, arbeitsmedizinische Zentren oder auch externe Beratungsstellen zur Verfügung. All diese Personen sind zur Wahrung der Vertraulichkeit und Schweigepflicht angehalten.
Weiterhin ist auf das stellvertretende Vorgehen durch die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten verstärkt hinzuweisen, um die Anonymität von Betroffenen zu wahren, da diese sich besonders bei stark ausgeprägten Hierarchien als effektiv erwiesen hat. Neben den offiziellen Anlaufstellen bietet sich je nach Größe des Unternehmens auch die Ernennung von Vertrauenspersonen innerhalb der Institute und Kliniken an. Optional kann weiterhin eine Vertrauensananwältin/ein Vertrauensanwalt hinzugezogen werden, falls die Organisation diese Möglichkeit bietet.
Bei der Beratung ist es sehr wichtig, den Betroffenen stets ihre Entscheidungsfreiheit deutlich zu kommunizieren. Eine Beratung führt nicht automatisch zur Einleitung eines rechtlichen Verfahrens. Weitere Schritte werden lediglich in Zusammenarbeit und Absprache mit den Betroffenen geplant und gegangen.
Zusätzlich hat sich die Nutzung von anonymen Meldeoptionen bewährt. Obwohl Meldungen mittels dieser Systeme (z. B. spezifische Whistleblower-Software) sich rechtlich problematisch gestalten, da die Anonymität der Betroffenen ein formelles Vorgehen einschränkt, zeigen sie doch zumindest die Notwendigkeit einer spezifischen Untersuchung auf. In einigen Bundesländern wird auch noch von der Ärztekammer Beratung zum Phänomen der sexuellen Belästigung angeboten.
Ad 3: Informationskampagnen – Transparenz der Abläufe
Die WPP-Studie deckte den Mangel an Wissen zu Abläufen und Anlaufstellen bei mehr als 65 % der Beschäftigten auf. Wenn sexuelle Belästigung nicht von der Organisation angesprochen und sichtbar gemacht wird, wissen die Mitarbeitenden bei Betroffenheit nicht, an wen sie sich wenden können.
Dies bedeutet konkret, dass das Thema von der Organisation auf verschiedenen Ebenen sichtbar gemacht werden muss. Die Möglichkeiten hierfür sind vielfältig.
Das „Null-Toleranz“-Prinzip gegenüber Diskriminierung und explizit sexueller Belästigung muss im Unternehmensleitbild der Organisation verankert sein. Eine unmissverständliche und sichtbare Positionierung des Vorstandes wird hierbei empfohlen. Eine weitere proaktive Möglichkeit ist die prominente Platzierung der Information im Internet. So verfügt die Charité zum Beispiel über einen Button auf der ersten Seite des Intranets, der direkt auf Beratungsangebote, Richtlinien, Beratungs-Beschwerdeablauf verweist.
Ad 4: Information für Patientinnen/Patienten, Angehörige
Eine weitere Gruppe von Betroffenen, aber potenziell auch Ausübende, können Patientinnen und Patienten sowie Angehörige sein. Zu deren Schutz und zur Information bietet sich die Erstellung von allgemein und barrierefrei zugänglichen Hausregeln an. Innerhalb dieser Hausregeln können Rechte und Pflichten sowie erwartetes und zu erwartendes Verhalten formuliert werden. Es muss natürlich bedacht werden, dass bestimmte Gruppen von Patientinnen und Patienten kurz- oder langfristig nicht in der Lage sein können, diesen Regeln zu folgen. Dies stellt eine Tatsache dar, die professionelle Mitarbeitende jedoch sehr wohl einschätzen können und worauf sie auch vorbereitet sind. Die Entwicklung von allgemein gültigen Hausregeln zum Schutz aller Personen im Klinikambiente widerspricht somit nicht der Anerkennung von Ausnahmesituationen.
Ad 5: Prävention auf Organisationsebene
Vielschichtige Instrumente zur geschlechtergerechten Organisations- und Personalentwicklung könnten hier zur Gleichbehandlung nach einheitlichen Kriterien beitragen und somit einen Beitrag zur Prävention von sexueller Belästigung leisten. Wichtige strukturelle Änderungen, beispielsweise flache Hierarchien und offene Kommunikation in den Abteilungen, wurden von den Teilnehmenden der WPP-Studie als wichtige Instrumente zur Bekämpfung von sexueller Belästigung genannt.
Eine weitere grundlegende Maßnahme ist die Etablierung einer enttabuisierenden Kommunikationskultur, was bedeutet, dass Vorgesetzte und Führungskräfte regelmäßig über das Thema informieren, um auf aktuelle Maßnahmen im Unternehmen und die Offenheit gegenüber der Thematik zu verweisen. Eine betriebskulturelle Offenheit gegenüber der Thematik (Enttabuisierung) kann den Effekt haben, dass das Anzeigen von grenzverletzenden Verhaltensweisen schon im frühen Stadium deeskaliert werden kann. Prinzipiell wird von Klinikleitung und Vorgesetzten die Botschaft zur Wahrnehmung beziehungsweise Verantwortung und Fürsorge der Thematik gesendet. Die Etablierung einer Teamkultur, die den grundsätzlichen Wert der Beschäftigten betont, sowie die Etablierung einer konstruktiven Feedbackkultur stellen einen weiteren wichtigen Beitrag zur diskriminierungsarmen Organisationskultur dar.
Ad 6: Prävention – Personalentwicklung Führungskräfte und Personalschulungen
Vorgesetzte, Führungskräfte und Lehrtätige haben eine Vorbildfunktion und die Verantwortung zur Förderung einer diskriminierungsarmen Klinikkultur und des Lehr- und Lernumfelds. Sie sollten befähigt sein, sexuelle Belästigung und Diskriminierung zu erkennen, bei Vorfällen aktiv zu intervenieren und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Aus der Untersuchung zahlreicher Dienstvereinbarungen aus verschiedenen Branchen geht diese Verpflichtung für Führungskräfte und die Notwendigkeit verpflichtender Fortbildungen für Mitarbeitende mit Personalverantwortung klar hervor. Dies trifft sowohl auf alle Vorgesetzten und Beschäftigten in Personalverantwortung als auch auf Mitarbeitende in Lehre und Forschung zu. Neben der verpflichtenden Schulung von Beschäftigten mit Personalverantwortung sollte allen Mitarbeitenden der freie Zugriff auf Informationsmaterial und die Teilnahme an offenen Schulungen ermöglicht werden, falls erwünscht (Oertelt-Prigione u. Jenner 2017).
Die Zertifizierung der Fortbildung zur Prävention sexueller Belästigung zur Erlangung notwendiger Führungskompetenzen sollte erstens als notwendiger Qualifizierungsnachweis zur Steigerung der Beteiligungsbereitschaft von Seiten der Führungskräfte sowie zweitens als Qualifizierungskriterium für weitere Karrierestufen sein.
Auf Anfrage sollte es möglich sein, einzelne Institute und Kliniken zu schulen, möglichst flexibel und an die internen Zeitpläne angepasst. Internetressourcen, digitale Fortbildungen, die jederzeit abrufbar sind, sollten ebenfalls zur Verfügung gestellt werden.
Interessenkonflikt: Die Autorinnen geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
ADS Expertise: Sexuelle Belästigung im Hochschulkontext – Schutzlücken und Empfehlungen10.08.2015. Studie Expertise von Prof. Dr. Eva Kocher, Stefanie Porsche, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder).
Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Gleiche Rechte – gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts: Bericht der unabhängigen Expert_innenkommission der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. 2015.
Bruce AN et al.: Perceptions of gender-based discrimination during surgical training and practice. Med Educ Online 2015; 20.
Chan DKS et al.: Examining the job-related, psychological, and physical outcomes of workplace sexual harassment: a meta-analytic review. Psychol Women Quarterly 2008; 32: 362–376.
FRA – European Union Agency for Fundamental Rights: Violence against women: an EU-wide survey. Main Results. 2014.
Glomb TM et al.: Ambient sexual harassment: an integrated model of antecedents and consequences. Organizational Behavior and Human Decision Processes 1997; 71(3).
Hinze SW: ‘Am I being over-sensitive?’ Women’s experience of sexual harassment during medical training. Health (London, England: 1997) 2004; 8: 101–127.
Jagsi R: Sexual harassment in medicine-# MeToo. N Engl J Med 2018; 378: 209–211.
Jenner S. et al.: Prevalence of sexual harassment in academic medicine. JAMA Intern Med 2019; 179: 108–111.
Jenner, SC, Djermester P, Oertelt-Prigione S: Prevention strategies for sexual harassment in academic medicine: a qualitative study. J Interpers Violence 2020: 86260520903130.
McLaughlin H, Uggen C, Blackstone A: Sexual harassment, workplace authority, and the paradox of power. Am Sociologic Rev 2012; 77: 625–647.
Nielsen MB, Einarsen S: Prospective relationships between workplace sexual harassment and psychological distress. Occup Med 2012; 62: 226–228.
Nielsen MBD et al.: Sexual harassment in care work – Dilemmas and consequences: A qualitative investigation. Int J Nursing Studies 2017; 70: 122-130.
Oertelt-Prigione S, Jenner SC: Prävention sexueller Belästigung. Praxiswissen Betriebsvereinbarungen. Study der Hans Böckler Stiftung, 2017, S. 369.
Schoenefeld E, Marschall B, Paul B et al.: Medical education too: sexual harassment within the educational context of medicine – insights of undergraduates. BMC Medical Education 2021.
Serrano K: Women residents, women physicians and medicine’s future. WMJ: official publication of the State Medical Society of Wisconsin 2007; 106: 260–265.
Stock SR; Tissot G: Are there health effects of harassment in the workplace? A gender-sensitive study of the relationships between work and neck pain. Ergonomics 2012; 55: 147–159.
doi:10.17147/asu-1-273025
Weitere Infos
Deutscher Bundestag: Die Grundrechte
https://www.bundestag.de/gg/grundrechte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG §3 Abs. 4
https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/rech…
Antidiskriminierungsstelle des Bundes: AGG – Wegweiser. Erläuterungen und Beispiele zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. 2019:
www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen…
Kernaussagen
Koautorin
Kontakt
Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.