Unter der Bezeichnung Arbeit 4.0 sind die Konsequenzen der Digitalisierung zunächst im Bereich der industriellen Produktion sichtbar geworden, doch inzwischen erfassen sie auch Dienstleistungsunternehmen, Handwerksbetriebe und Bereiche des öffentlichen Dienstes. Eine wichtige Grundlage für diese Entwicklungen ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen. Damit können Menschen, Objekte der Informationswelt und physische technische Systeme miteinander vernetzt werden. Es entstehen neue Wertschöpfungsnetzwerke, die wesentliche Änderungen ermöglichen. Arbeitspolitisch prägend ist die „Verfügbarkeit von Informationen in Echtzeit“; dies führt zu einer Intensivierung und Verdichtung von Arbeitsprozessen und bietet zugleich Chancen und Risiken für die im Arbeitsschutzgesetz verlangte menschengerechte Gestaltung der Arbeit (Adolph et al. 2015; Adolph u. Kirchhoff 2016).
Digitale Risiken: Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit
Die Risiken der Digitalisierung sind in mehreren Untersuchungen ausführlich diskutiert worden. Im Weißbuch Arbeiten 4.0 ist als ein solches Risiko hervorgehoben worden, dass die Verfügbarkeit von Informationen in Echtzeit zu einer deutlichen Verdichtung und Intensivierung der Arbeit mit Entgrenzungstendenzen führen kann (Weißbuch, S. 71). Dies kann sich auf den Arbeitsrhythmus und die innere Gestaltung der Arbeitszeit auswirken. Der bisherige Rhythmus mit der Nutzung regelmäßiger Pausen nach § 4 ArbZG verblasst, es kommt in wachsendem Umfang zu einer „inneren Entgrenzung der Arbeitszeit“ (Kohte 2015, S. 1417, 1422). Über 30% der Beschäftigten geben bei repräsentativen Umfragen an, dass sie keine Pausenzeiten bzw. keine ausreichenden Pausenzeiten nutzen können (BAuA 2016, S. 30). Das Bundesarbeitsgericht hat in mehreren Entscheidungen die organisatorischen Anforderungen an einen Arbeitgeber präzisiert, denn dieser ist verantwortlich für die Organisationen der Arbeitszeit und damit auch für die Pausenorganisation (BAG NZA 2015, S. 424). Wenn solche Tendenzen auftreten, ist im Rahmen der nach § 3 Abs. 2 ArbSchG vorgeschriebenen Wirksamkeitskontrolle die Gefährdungsbeurteilung zu überprüfen und die Ursache der Entgrenzung zu ermitteln. Anhaltspunkte für eine solche Entgrenzung können sich auch aus den Ergebnissen der arbeitsmedizinischen Vorsorge ergeben.
Kurzpausen sind aber auch ein präventives Gestaltungsmittel. Ergonomisch und bereits medizinisch anerkannt ist auch die Möglichkeit einer zusätzlichen Kurzpause, mit der der Intensität von Arbeit – sei es durch Verdichtung, durch Monotonie oder durch intensive Informationsverarbeitung – entgegengewirkt werden kann (Schlick et al. 2010, S. 196ff; Oppolzer 2006, S. 321ff). Ein bekanntes Beispiel sind die tariflichen Regelungen der Metallindustrie in Baden-Württemberg, mit denen für belastende Bandarbeit zusätzliche regelmäßige Kurzpausen vorgeschrieben wurden (Maier 2012, S. 172ff). In der arbeitswissenschaftlichen Literatur sind solche Kurzpausen als sekundäre Schutzmaßnahme auch bei anderen Formen intensiver und konzentrierter Arbeit anerkannt (BAuA 2016, S. 198ff). Ein vielfach diskutiertes Beispiel sind zusätzliche Kurzpausen in der Nachtschicht, da Nachtarbeit generell zur Verstärkung von Belastungen führen kann. Daher ist zum Beispiel bei Lastenhandhabung in der Nachtarbeit und natürlich auch bei Bildschirmarbeit in der Nachtarbeit arbeitswissenschaftlich die Notwendigkeit zusätzlicher Kurzpausen anerkannt. Ein bekanntes Beispiel ist die Regelung im österreichischen Arbeitszeitrecht. Hier ist Arbeitnehmern, die „Nachtschwerarbeit“ leisten, jedenfalls eine Kurzpause von mindestens zehn Minuten zu gewähren, die zusätzlich zu den allgemeinen Ruhepausen zu beachten ist (Maier 2012, S. 194). Diese klassischen Instrumente der Arbeitsgestaltung sind bei digitaler Arbeitsintensivierung von besonderer Bedeutung.
Digitale Mischarbeit
Da die Digitalisierung zu einer Generalisierung der Bildschirmarbeit führt, ist 2016 die gesonderte Bildschirmarbeitsverordnung in die allgemeine Arbeitsstättenverordnung integriert worden (Wiebauer 2016). Im Anhang 6 Nr. 6.1 Abs. 2 zur Arbeitsstättenverordnung ist jetzt normiert: „Der Arbeitgeber hat dafür zu sorgen, dass die Tätigkeiten der Beschäftigten an Bildschirmgeräten insbesondere durch andere Tätigkeiten oder regelmäßige Erholungszeiten unterbrochen werden“. Diese Vorgabe ist im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG zu konkretisieren. Für jegliche Bildschirmarbeit ist festzulegen, wie Arbeitsunterbrechung beziehungsweise zusätzliche Erholungspausen zu organisieren sind. Bisherige empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Anforderung, die seit 1996 im deutschen Arbeitsschutzrecht gilt, in der Praxis nicht hinreichend umgesetzt wird (Faber u. Feldhoff 2018, ArbStättV Rn. 172ff). Eine solche Gefährdungsbeurteilung kann schwerlich ohne arbeitsmedizinischen und ergonomischen Sachverstand erfolgen, weil es jeweils auch um die Intensität der entsprechenden Arbeit geht. Vorrangig ist die Gefahrenbekämpfung an der Quelle, mit der die Arbeitsintensität zu verringern und ihr durch entsprechend geeignet gestaltete Bildschirme zu begegnen ist. Die Kurzpause ist daher nie das vorrangige Mittel. Arbeitswissenschaftlich wird auch die Arbeitsunterbrechung durch Arbeiten ohne Nutzung des Bildschirms als die besser geeignete Variante eingestuft, doch wird dieser Weg durch die Intensivierung der Digitalisierung und die Generalisierung der Bildschirmarbeit erschwert.
Digitale Ergonomie
Ein weiterer Faktor, der mit der Digitalisierung der Arbeit eng verbunden ist, besteht in der Zunahme mobiler digitaler Arbeit. Seit 2016 wird in Anhang 6 Nr. 4 der ArbStättV verlangt, dass tragbare Bildschirmgeräte in Größe, Form und Gewicht der Arbeitsaufgabe entsprechend angemessen sein müssen, dass sie über Bildschirme mit reflektionsarmer Oberfläche verfügen und so betrieben werden, dass der Bildschirm frei von störenden Reflektionen und Blendungen ist.
Eine dazu passende Gefährdungsbeurteilung kann daher nicht ohne Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten erfolgen. Weitere Anforderungen stellt die digitale Ergonomie, denn die mobile Arbeit erfolgt in aller Regel nicht mit den aus der Büroarbeit bekannten Bildschirmen, sondern mit kleineren Geräten wie zum Beispiel Tablets und Apps. Auch hier bestehen jedoch bereits gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse. In der DGUV Information 211-040 zum „Einsatz mobiler Informations- und Kommunikationstechnologie an Arbeitsplätzen“ werden Erfahrungswerte dargestellt, welche Arbeitszeitgestaltung hier geboten ist. Die Arbeit am Tablet muss wesentlich häufiger unterbrochen werden als die Arbeit am typischen Büroarbeitsplatz. Erst recht gilt dies für die zunehmende Nutzung von Smartphones und Apps. Hier ist eine zeitliche Obergrenze konzentrierter Arbeit von fünf Minuten als arbeitswissenschaftlich- arbeitsmedizinischer Erfahrungswert zu beachten.
Digitale Barrierefreiheit
Ergänzend zur digitalen Ergonomie ist inzwischen auch die digitale Barrierefreiheit zu beachten. Barrieren betreffen nicht nur die bekannte Form der „Rollstuhlmobilität“, sondern auch eine mangelnde bzw. eingeschränkte Zugänglichkeit von Informationen für sehbehinderte Menschen. In der heutigen Arbeitswelt ist für die Mehrzahl der Betriebe das Intranet ein wesentliches Informations- und Steuerungsmedium. Für sehbehinderte Menschen eröffnet ein barrierefreies Intranet verbesserte Teilhabechancen, umgekehrt ist ein nicht barrierefreies Intranet ein wesentliches Hindernis. Auf der Basis der RL 2016/2102 sollen noch in diesem Jahr öffentliche Stellen durch die Neufassung von § 12a BGG (Br-Drs. 86/18, S. 5) verpflichtet werden, auch ihr Intranet für ihre Beschäftigten barrierefrei zu gestalten. Diese Erfahrungen werden auch auf die Auslegung von § 3a Abs. 2 ArbStättV ausstrahlen, denn die dort normierten Anforderungen an Barrierefreiheit in der Arbeitsstätte betreffen auch Systeme der Informationsverarbeitung (Faber u. Feldhoff 2018, ArbStättV Rn. 117). Damit ist es geboten, dass die EDV-Experten des Betriebs mit der Unterstützung von Betriebsärzten und Sicherheitsfachkräften sowie der rechtzeitigen Beteiligung der Interessenvertretungen, vor allem der Schwerbehindertenvertretung, die Konkretisierung des barrierefreien Intranet vorbereiten und gestalten. Ebenso gibt es aus der SGB-IX-Wirkungsforschung bereits Erfahrungen über die erfolgreiche Nutzung moderner Technologien für die Verbesserung der Teilhabe hörbehinderter, tauber und ertaubter Menschen (Nebe u. Weber 2016). In der sozialgerichtlichen Praxis ist anerkannt worden, dass auch schwerstbehinderte Menschen, die einen PC mit den Augen steuern können, Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben haben (LSG Rheinland-Pfalz 27.10.2016 – L 1 AL 52/15).
Digitale Inklusion
Bereits vor fast zehn Jahren hatte der Ausschuss für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag mit Hilfe einer Reihe von Gutachten Informationen zusammentragen lassen, wie Technologien im Kontext von Behinderungen genutzt werden können und welche Bedeutung behinderungskompensierende Technologien in Zukunft haben können. Der Anstoß zu dieser Untersuchung war die Beobachtung, dass in Deutschland solche Technologien in beachtlichem Umfang und hoher Qualität entwickelt und exportiert werden, dass sie jedoch in deutlich geringerem Umfang in den eigenen Betrieben eingesetzt werden (Abschlussbericht BT-Drs 16/13860; ausführlich dazu Revermann u. Gerlinger 2010). Inzwischen hat ein weiteres Forschungsprojekt des BMAS (BMAS-Forschungsbericht 467, s. „Weitere Infos“) die wachsenden Möglichkeiten der Gestaltung behinderungsgerechter Arbeit im Rahmen der Digitalisierung der Arbeitswelt hervorgehoben, gleichzeitig aber konstatiert, dass der praktische Einsatz hinter diesen Möglichkeiten deutlich zurückbleibt.
Eine Zusammenstellung von „best practises“ enthält dieser Forschungsbericht noch nicht. Auf der Homepage www.rehadat-hilfsmittel.de finden sich jedoch konkrete Beschreibungen für über 13.000 einsetzbare Hilfsmittel. Die Datenbank ist nach den verschiedenen Gestaltungsoptionen gegliedert; allein unter dem Stichwort „Hebehilfen und Handhabungstechnik“ finden sich 60 Praxisbeispiele. Für diese Beispiele ist kennzeichnend, dass sie eine Kombination von medizinischen Einschränkungen und technischen Gestaltungsmöglichkeiten enthalten, wie z.B. „Gestaltung eines Arbeitsplatzes für einen Kranführer mit einer Wirbelsäulenerkrankung und einem gut eingestellten Diabetes“. Die erfolgreiche Umgestaltung des Arbeitsplatzes ist durch das Integrationsamt gefördert worden. Einen kompakten Überblick liefert auch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) mit ihrem Überblick zur behinderungsgerechten Arbeitsplatzgestaltung (s. „Weitere Infos“), der neben dem Hinweis auf rehadat.de auch das System „Imba“ vorstellt (Integration von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt). Offensichtlich ist ergonomisches und medizintechnisches Fachwissen durchaus vorhanden, jedoch noch nicht für alle Beteiligten verfügbar und mobilisierbar.
Dies Wissen ist jedoch zu mobilisieren, damit als eine Chance digitaler Entwicklung die Möglichkeiten der behinderungsgerechten Gestaltung der Arbeit, zum Beispiel durch den Einsatz von Assistenzsystemen, genutzt werden. Gerade für die Lastenhandhabung, die für die menschliche Wirbelsäule nachhaltige Probleme schaffen kann, bieten sich neue Möglichkeiten, wie Lasten bewegt und transportiert werden können. Nachdem bereits in den letzten Jahren „Über-Kopf-Arbeit“ an vielen Bändern durch technische Lösungen ersetzt und in anderen Fällen ergonomisch ungünstige Arbeiten an Roboter übertragen werden konnte, können inzwischen mit Hilfe von „Exoskeletten“, die als Lastassistenten eingesetzt werden (Hasselmann et al. 2017, S. 232, 239), Personen, denen bisher mangelnde Trageleistung attestiert wurde, beachtliche Lasten bewegen. Im SGB IX ist korrespondierend geregelt, dass es einen Anspruch auf solche Hilfsmittel und technische Arbeitshilfen gegen Rehabilitationsträger bzw. Integrationsamt nach §§ 49, 50, 185 SGB IX gibt. Es ist zu erwarten, dass gerade die durch das SGB IX gestärkten Schwerbehindertenvertretungen, die auch nach § 182 SGB IX als Verbindungspersonen zum Integrationsamt fungieren, auf die Durchsetzung dieser Ansprüche hinwirken werden.
Die Verallgemeinerung und Generalisierung von Bildschirmarbeit, die inzwischen fast an jedem Arbeitsplatz anzutreffen ist, gibt für Menschen mit starker Sehbehinderung und für blinde Beschäftigte ebenfalls beachtliche Möglichkeiten. Mit entsprechenden Geräten können auch stark sehbehinderte Menschen ihre Arbeit verrichten. Es bedarf der Anpassung der Bildschirmtechnologien, die für diese Personengruppe inzwischen in wachsendem Umfang zur Verfügung stehen. Die auch in der neuen ArbStättV aufgenommene Gestaltung der Arbeit im Home Office gehört ebenfalls zu den Modalitäten der behinderungsgerechten Arbeit, auf die nach § 164 Abs. 4 SGB IX ein arbeitsgerichtlich durchsetzbarer Anspruch bestehen kann (Düwell u. Beyer 2017, Rn. 313ff).
Einige Konsequenzen für die Akteure der Arbeitssicherheit
Bisher übliche Atteste, wonach Personen an einem bestimmten Arbeitsplatz wegen ihrer Wirbelsäule nicht mehr arbeiten oder nur Lasten von nicht mehr als 5 oder 10 kg bewegen können, verfehlen in dieser schlichten Form zunehmend die aktuelle Sach- und Rechtslage. Unter Berücksichtigung der neuen Möglichkeiten sind allenfalls medizinische Aussagen vertretbar, dass diese Personen für die Zukunft entsprechende Hilfsmittel benötigen. Erst wenn diese Hilfsmittel sich im konkreten Fall als nicht tauglich erweisen, lässt sich eine Aussage treffen, ob sie nicht mehr am bisherigen Arbeitsplatz tätig sein können. Da die Mehrzahl der Hausärzte auch in nächster Zeit noch „klassische Atteste“ ausstellen werden, dürfte es zu den betriebsärztlichen Aufgaben gehören, diese Atteste in arbeitsmedizinisch und arbeitspolitisch verwertbare Aussagen zu „übersetzen“. Gerade im Rahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 167 Abs. 2 SGB IX (bis 2017 § 84 SGB IX) ist eine solche Übersetzungsaufgabe erforderlich.
In der Regel wird es geboten sein, diese Aufgabe in Kooperation mit der jeweiligen Sicherheitsfachkraft durchzuführen. Wenn ein solches Attest vorgelegt wird, ist zunächst auf der Basis der Gefährdungsbeurteilung zu klären, um welche Arbeiten es jeweils geht und um welche typischen Belastungen es sich dabei handelt. Dann stellt sich die Frage, ob diese Arbeiten geändert werden können und ob es hierzu geeignete Hilfsmittel gibt, die möglicherweise einsetzbar sind. Nicht selten bedarf es auch zunächst eines „Probelaufs“, bevor endgültig bestimmte Hilfsmittel beschafft bzw. beim Integrationsamt beantragt werden.
Fehlt es dagegen noch an einer Gefährdungsbeurteilung für diesen Arbeitsplatz, dann ist deren Erstellung die nächste Aufgabe. Zuständig sind dafür die nach §13 ArbSchG verantwortlichen Vorgesetzten, die dazu der Unterstützung von Sicherheitsfachkraft und Betriebsarzt bedürfen. Gerade in BEM-Verfahren, bei denen solche „Atteste“ nicht selten vorgelegt werden, ist zu beobachten, dass sich mit einem arbeitsschutzsensiblen BEM-Verfahren die Chance bietet, fehlende bzw. defizitäre Gefährdungsbeurteilungen durch geeignete und realistische Beurteilungen zu ersetzen (Nebe 2016, S. 191, 200). Letztlich geht es bei der Lastenhandhabung um klassische und bekannte Herausforderungen, doch ermöglicht die Digitalisierung zusätzliche Lösungen, mit denen die Arbeitsgestaltung verbessert werden kann.
Mit diesen Möglichkeiten verschieben sich auch die Anforderungen an die ärztliche Begutachtung. Lange Zeit war sie geprägt durch die Struktur der Gutachten für Erwerbsminderungsrenten, die sich vor allem an den jeweiligen Defiziten der Versicherten orientierten, um festzustellen, ob noch eine Eignung vorliegt. Für die heutigen BEM-Verfahren greift diese Zielrichtung deutlich zu kurz. Natürlich müssen Defizite erhoben werden, doch letztlich müssen im Vordergrund die Ressourcen der jeweiligen Personen und die Möglichkeiten der Anpassung des Arbeitsplatzes stehen. Es kommt auf das vorhandene Leistungsvermögen und auf Möglichkeiten der Verbesserung des Leistungsvermögens an – sei es durch Hilfsmittel, sei es durch Arbeitsassistenz oder auch durch Rehabilitation. Bereits im ersten BEM-Arbeitsgerichtsverfahren, das das BAG erreicht hatte, rügte das BAG die Beweiserhebung durch das erstinstanzliche Arbeitsgericht, das vom Sachverständigen ausschließlich Aussagen über Defizite verlangt hatte. Der BAG hob hervor, dass für den Zweck des BEM, der in der Erhaltung und Anpassung des Arbeitsplatzes liegt, vor allem die Ressourcen zu ermitteln sind und dass daher diese Aufgabe auch für die Gutachten der Sachverständigen maßgeblich ist (BAG NZA 2008, 173; s. dazu Kohte 2008, S. 582, 585).
In der neuen Fassung der ArbMedVV ist als Angebotsvorsorge „Tätigkeiten an Bildschirmgeräten“ verpflichtend vorgeschrieben. Dieser bewusst offene gehaltene Begriff erfasst einerseits sämtliche Arten von Bildschirmarbeit – von der klassischen Büroarbeit über die Kontrollen am Bildschirm in der Produktion bis zur mobilen Tätigkeit. Weiter ist in der Neufassung der ArbStättV der Begriff der Arbeitstätigkeit vom Umfang der Arbeitszeit abgekoppelt worden. Während bisher in der Praxis bestimmte Mindestquanten, wie zum Beispiel eine Stunde oder zwei Stunden je Tag oder ununterbrochen, verlangt wurden, ist diese Begrenzung in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht bewusst gestrichen worden (Wiebauer 2017, S. 220). Damit gibt die Angebotsvorsorge die Chance, arbeitsplatznah die Belastungen der Beschäftigten und ihre gesundheitlichen Dispositionen zu erfassen. Die Angebotsvorsorge dient der Früherkennung von arbeitsbedingten Erkrankungen und der rechtszeitigen Beratung der Beschäftigten. Auf diese Weise gibt sie auch die Möglichkeit, gerade gegenüber jüngeren Beschäftigten für die arbeitswissenschaftlichen Erfahrungswerte der DGUV Information 211-040 zu werben. Insoweit zeigt sich auch hier eine enge Koppelung zwischen arbeitswissenschaftlichen und arbeitsmedizinischen Anforderungen, die sich auch auf die betriebsärztliche Fortbildung notwendigerweise auszuwirken haben.
In der aktuellen Studie der BAuA „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“, in der auch Konsequenzen aus dem digitalen Wandel der Arbeitswelt formuliert werden, wird empfohlen, dass Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention besser verzahnt , enger verknüpft und in Kooperation mit weiteren Berufsgruppen organisiert werden (BAuA 2016, S. 132ff). Die allgemein anerkannte Gestaltungsmöglichkeit digitaler Arbeit (Kohte 2015, S. 1417, 1421) verlangt bereits eine frühe und präventive Gefährdungsbeurteilung, weil nur so digitale Ergonomie und digitale Inklusion erreicht werden können. Die Kooperation nach §§ 9, 10 ASiG ist eine wichtige Voraussetzung. Ebenso ist nach § 6 ArbMedVV eine wichtige Funktion der sekundärpräventiven arbeitsmedizinischen Vorsorge die Erfassung primärpräventiver Defizite. Vor allem zeigt sich an den hier demonstrierten Beispielen die wachsende Bedeutung der Tertiärprävention.
Im letzten Jahr ist in dieser Zeitschrift mehrfach die Thematik „Return to Work“ gerade unter diesen Gesichtspunkten erörtert worden. Dabei besteht inzwischen eine wachsende Übereinstimmung, dass bei längeren Abwesenheitszeiten die Reintegration in den Betrieb nicht einfach ist und dass das Instrument der stufenweisen Wiedereingliederung hier ein gut geeignetes Instrument ist, wenn es sachkundig genutzt wird. Für die Organisation der Arbeitssicherheit ist gerade bei der zunehmenden Digitalisierung und der Zunahme solcher gesundheitlicher Probleme zu beachten, dass die Wiedereingliederung von chronisch Kranken und behinderten Menschen von Anfang an zu den Aufgaben der betriebsärztlichen Tätigkeit in § 3 Abs. 1 S. 1f ASiG gehört. Die betriebsärztliche Tätigkeit nimmt insbesondere bei der stufenweisen Wiedereingliederung eine wichtige vermittelnde Position ein. Auch wenn nach der sozialrechtlichen Regelung der erste Eingliederungsplan durch die Haus- und Vertragsärzte zu erstellen ist, so ist doch der arbeitsmedizinische Sachverstand hier von großer Bedeutung. Mit Einwilligung der Beschäftigten kann betriebsärztlicher Sachverstand bereits bei der Erstellung des Eingliederungsplans in Kooperation mit den Vertragsärzten genutzt werden. Vor allem aber wird er erforderlich, wenn der Eingliederungsplan „nachjustiert“ werden muss. Dies ist relativ oft der Fall; hier hat sich besonders der „runde Tisch“ des BEM bewährt. Ein kooperatives BEM, das in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG als „kooperativer Suchprozess“ (BAG NZA 2010, S, 398 im Anschluss an Kohte 2008, S. 582, 583) organisiert wird, kann die hier dargestellten Stufen digitaler Ergonomie, Inklusion und Barrierefreiheit nachhaltig fördern.
Literatur
Adolph/Rothe/Windel 2015, Zeitgemäßer Arbeitsschutz in der digitalen Arbeitswelt, in Innovation und Forschung 2015/16, Sonderausgabe zu BPUVZ 10/2015, S. 1;
Adolph/Kirchhoff 2016, Arbeit in der digitalen Welt – neue Herausforderungen für den Arbeitsschutz, sicher ist sicher 2016, 503;
BMAS-Forschungsbericht 467, Chancen und Risiken der Digitalisierung der Arbeitswelt für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung, 2017, www.bmas.de;
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA, Arbeitszeitreport, 2016;
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA, Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt, 2016
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (2014), Arbeitsplatzgestaltung durch Technik
Düwell/Beyer, Das neue Recht für behinderte Beschäftigte, Nomos, 2017.
Faber/Feldhoff, ArbStättV in Kohte/Faber/Feldhoff (Hrsg.), Gesamtes Arbeitsschutzrecht, Nomos, 2. Auflage 2018;
Hasselbach/Meyn/Schröder/Sareika, Gesundheit in der Arbeitswelt 4.0. in Cernavin/Schröter/Stowasser, Prävention 4.0, Springer, 2017, S. 232 ff
Kohte, Betriebliches Eingliederungsmanagement und Bestandsschutz, DB 2008, 582
Kohte, Arbeitsschutz in der digitalen Arbeitswelt, NZA 2015, 1417
Maier, Lars-Peter, Pausengestaltung als Organisationspflicht, 2012
Nebe, Arbeitsschutz und Betriebliches Eingliederungsmanagement, in Feldes/Niehaus/Faber Hrsg., Werkbuch BEM-Betriebliches Eingliederungsmanagement, 2016, 191 ff.
Oppolzer, Alfred, Menschengerechte Gestaltung der Arbeit durch Erholzeiten, WSI Mitteilungen 6/2006, S. 321 – 326
Revermann/Gerlinger. Technologien im Kontext von Behinderung, 2010;
Schlick/Bruder/Luczak, Arbeitswissenschaft, 3. Aufl. 2010
Wiebauer, Die Novellierung der Arbeitsstättenverordnung, NZA 2017, 220
Wiebauer, Arbeitsschutz und Digitalisierung, NZA 2016, 1430
Anzinger/Bieneck, Arbeitssicherheitsgesetz, Kommentar, 1998
Interessenkonflikt:
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Weitere Infos
BMAS-Forschungsbericht 467, Chancen und Risiken der Digitalisierung der Arbeitswelt für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation: Arbeitsplatzgestaltung durch Technik, 2014.
Autor
Prof. Dr. Wolfhard Kohte
Gründungsprofessur Zivilrecht II
Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg
Universitätsplatz 5
06108 Halle (Saale)